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Die große Reise der Barbara Körner
Die große Reise der Barbara Körner
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eBook294 Seiten4 Stunden

Die große Reise der Barbara Körner

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Über dieses E-Book

Barbara hat noch nie das Meer gesehen. Und doch muss sie hinüber, wenn sie Velten wiederfinden will.
Velten ahnt nichts davon. Er meint, endlich seinen Traum wahrmachen zu können, in der Neuen Welt ein geachteter Mann zu werden.
Die Reise führt Barbara auf einen Umweg, auf dem sie kostbare Zeit verliert. Ist Velten inzwischen Papierhändler geworden? Wie soll sie ihn in dem riesigen Land finden?
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum4. Nov. 2023
ISBN9783911115049
Die große Reise der Barbara Körner
Autor

Christina Auerswald

Christina Auerswald schreibt historische Romane. Dass es dabei kriminell zugeht, ist keine Frage! Ob historische Skandale, Pleiten oder Morde – alles steckt voller Geschichten. Christina Auerswald ist in einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt aufgewachsen. Von hier führten sie ihre Wege zum Studium der Volkswirtschaft an die Martin-Luther-Universität Halle. Hier bekam sie auch ihre beiden Kinder und lebte fast 20 Jahre in der Saalestadt. Später zog sie für einige Zeit ins Rheinland. Heute hat sie ihren Lebensmittelpunkt in Leipzig.

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    Buchvorschau

    Die große Reise der Barbara Körner - Christina Auerswald

    Barbara, Dezember 1698

    E

    s klopfte. Zuerst einmal, dann dreimal, zaghaft nahe am Türspalt. Barbara hielt die Luft an. Sie blies das Licht aus und stellte die Lampe hinter das Bett, leise, damit niemand etwas hörte. Die Nachtschwärze durchdrang ihre Schlafstube, als ob sie wie sonst um diese Zeit tief schliefe.

    »Barbara? Bist du wach?«

    Das war Ruperts Flüstern. Hatte er den Lichtschein gesehen? Barbara wagte nicht, sich zu bewegen. Sie sah an sich herab, wie sie auf der Bettkante hockte, unschlüssig, das Bündel zu ihren Füßen. Obwohl es bald Mitternacht schlagen würde, trug sie ihre Lederstiefel, das Reisekleid und den Mantel. Sie hätte längst fort sein können, wären nicht dieses Zittern ihrer Hände, ein Flattern geradezu, und das heftige Pochen in ihrer Brust. Barbara konnte sich nicht dagegen wehren. Sie hatte Angst. Angst davor, Geräusche zu machen. Angst, die Eltern oder den Knecht zu wecken. Und Angst, dass es ein Fehler war, ein riesengroßer Fehler, einfach davonzulaufen und alles aufzugeben, was sie haben könnte.

    »Barbara?«

    Der vertraute Ärger stieg in ihr auf. Rupert sollte endlich still sein. Warum ging er nicht, wenn sie nicht antwortete? Jeder gewöhnliche Mensch schlief um diese Zeit. »Barbara, darf ich reinkommen?«

    Hastig ließ sie ihr Bündel, den Sack mit dem Brot und ihren Beutel hinter dem Bettgiebel verschwinden, schlüpfte samt Schuhen und Kleidern unter die Decke und raunte: »Was willst du?«

    Ruperts Stimme hinter dem Türspalt wurde weicher. »Barbaralein, wo wir doch übermorgen heiraten, könnte ich jetzt schon in dein Bettchen kommen. Nur ein bisschen. Das merkt keiner.«

    Natürlich merkte es keiner. Sie waren schließlich in diesem Stockwerk des Hauses allein. Ihr Vater, der Papiermüller Körner, und seine Frau schliefen ganz oben, sonst befand sich niemand weiter im ersten Stock. Rupert hätte nicht einmal flüstern müssen. Die kleinen Brüder hielten sich in der Kölner Klosterschule auf, die Schwestern waren zu Stiefmutter Hermine ins oberste Stockwerk gebracht worden. Der Vater hatte Rupert die Kammer neben ihrer gegeben. Wer weiß, welcher Hintergedanke ihn beseelt hatte. Wollte er ganz sichergehen, dass die Brautleute zusammenfanden?

    »Nein, Rupert, das kommt nicht in Frage. So etwas tut man nicht.«

    Vor wenigen Wochen hatte sie noch geglaubt, die Ehe mit Rupert Wildkatz wäre ihr Schicksal. Damals hatte sie Dinge gesagt und getan, die sie jetzt bereute, und dazu gehörte auch die Zustimmung zu dieser Ehe. Sie wollte nicht daran denken, dass Rupert, der spinnendürre Kerl, ihr im Zustand der Trunkenheit einmal beinahe zu nahegekommen war.

    »Barbaralein, ich kann es eben nicht erwarten.« Seine Stimme wurde lauter, verlor die Sanftmut. »Ich komme jetzt rein.«

    Die Tür öffnete sich. Im Mondlicht sah sie Rupert in einem lächerlichen Nachthemd im Türrahmen stehen und näher heran tappen. Er setzte sich auf die Bettkante und sah sich nach links und rechts um, wohl auf der Suche nach der Lampe, um sie zu entzünden.

    »Lass mich schlafen, Rupert.«

    »Aber du schläfst doch gar nicht.«

    »Ich möchte aber schlafen. Morgen reisen wir nach Köln, das wird anstrengend genug.«

    »Nur ein bisschen unter deine Decke, Barbaralein! Dann kannst du bald schlafen.«

    »Ich möchte ausgeruht aussehen, wenn ich mit dir vor den Altar trete.«

    »Aber warum sollte dich Gott sonst so schön gemacht haben? Wenn ich dir nur die Hand küsse, zündest du schon mein Verlangen an.«

    »Verlangen berechtigt nicht zur Sünde, Rupert.«

    Im Mondlicht sah sie Ruperts Ärger, er schob die Unterlippe unter der spitzen Nase nach vorn. »Du weißt schon, dass du nicht mehr lange Nein sagen darfst? Wenn wir erst verheiratet sind, habe ich alle Rechte.« Er sprach so laut, dass seine tiefe Stimme bis ins Treppenhaus zu hören war. Sie musste verhindern, dass er jemanden weckte.

    »Aber ja doch, mein Lieber. Du bist ein kluger Mann. Du weißt, unser Begehren wird umso wertvoller, wenn wir uns für einen weiteren Tag aufheben.«

    In seiner Stimme lag deutlicher Zornr. »Deswegen bin ich extra nach Wissfeld gekommen! Eigentlich wäre es ja nicht nötig gewesen, dich abzuholen, wo deine Eltern auch allein mit dir nach Köln fahren könnten.«

    Barbara legte eine Portion Schmeichelei zu. »Deswegen bist du hier? Obwohl du es bald jeden Tag haben kannst? Nie hätte ich gedacht, dass du um meinetwillen solche Mühe auf dich nimmst.«

    Rupert, der älteste Sohn und Erbe des Verlegers Wildkatz, warf das Kinn nach oben. Diesem Dank konnte er nicht widerstehen.

    »Ja, natürlich tue ich das. Ich bin… das musst du doch verstehen… voller Verlangen. Das verstehst du doch, oder, Barbaralein?«

    »Aber ja. Hab Geduld. Wir gehen morgen zusammen in den Weihnachtsgottesdienst, dann fahren wir nach Köln. Übermorgen heiraten wir, dann kriegst du, was du willst. Nur jetzt musst du mich schlafen lassen.«

    Rupert seufzte. »Na gut. An Edelmut soll es mir nicht mangeln. Gute Nacht, Barbaralein. Wir sehen uns morgen früh.«

    Er stand auf. Einen Moment lang befürchtete sie, er würde sie küssen wollen, aber sein Entschluss umfasste auch den Verzicht auf Zärtlichkeiten. Beinahe hätte sie erleichtert aufgeatmet. Rupert verschwand, die Tür schloss sich hinter ihm.

    Lange wagte Barbara nicht, unter der Decke hervorzukommen. Sie wartete, bis sie von nebenan das Knarren des Bettgestells hörte. Eine Weile darauf erklang Ruperts Schnarchen. Ein Leben lang mit diesem Mann? Wenn sie je Zweifel gehabt hatte, dann waren die beseitigt. Sie würde niemals die Ehefrau von Rupert Wildkatz werden. Lieber endete sie als alte Jungfer.

    Besser wäre allerdings, sie käme schnell fort, wie sie vorgehabt hatte. Stiefmutter Hermine wusste Bescheid, aber auch sie konnte ihr nur bei der List helfen, indem sie die anderen auf die falsche Fährte lockte. Fortgehen musste Barbara allein.

    Sie entzündete das Licht in der Lampe und prüfte ihr Bündel zum hundertsten Mal: ein zweites Hemd, Kleid, Mütze, dazu das Wachstuch mit geräucherter Wurst und Brot, das Hermine ihr gebracht hatte. Sie steckte den Beutel mit ihrem Schmuck und dem Bargeld in das Kleiderbündel und schnürte es fest zusammen.

    Was braucht man für die weiteste Reise, die je ein Mädchen aus Wissfeld an der Brieg unternommen hatte? Nichts als sich selbst und die eigenen flinken Füße. Velten hatte einen Dreivierteltag Vorsprung, das waren nicht mehr als ein paar Stunden. Es musste zu schaffen sein, ihn einzuholen. Sicher, Velten war mit seinen zweiunddreißig Jahren voller Kraft und das lange Gehen aus seiner Zeit als Lumpensammler gewöhnt. Viel zu lange hatte Barbara gezögert, ihm nachzugehen, stundenlang überlegt, gepackt, mit Hermine beraten. Jetzt war sie sicher. Sie konnte Velten fast mit Händen greifen, so genau sah sie ihn vor sich. Schwarze, gedrehte Locken. So groß, dass er von oben auf Barbara herabsehen konnte. Kräftige Hände mit sehnigen Gelenken. Eine schlanke Gestalt. Er war ihr Mann, mochte auch ihre Hochzeit nicht im Kirchenbuch von Wissfeld eingetragen sein.

    Barbara seufzte, als sie an die winzige Waldkapelle dachte, den Ort, den ihr Vater vor einem halben Jahr für die Bestrafung ausgesucht hatte. Die Kapelle war gerade groß genug, dass der Pfarrer, Velten und sie darin stehen konnten; die beiden Zeugen mussten draußen warten. Was für eine Komödie! Eine vorgetäuschte Hochzeit, um ihr Armut und damit Demut beizubringen - hatte ihr Vater tatsächlich geglaubt, dass sie so einfach zu erziehen war? Barbara gönnte ihm, dass er nun um die ersehnte Geschäftsverbindung zur Verlegerfamilie Wildkatz kam. Er hatte schließlich noch mehr Kinder. Sollte er versuchen, seine Verbindungen mit deren Hilfe aufzubauen.

    Sie hob das Licht, dass es den Tisch beleuchtete. Dort lag ein Zettel, eines der minderwertigen Papiere aus der Mühle, die sie der ungleichmäßigen Ränder wegen benutzen duften. Auf den hatte sie geschrieben: »Ich mache einen Nachtspaziergang. Bin gleich wieder da. Barbara.«

    Gut, dass Rupert den nicht gesehen hatte. Irgendeine Erklärung wäre ihr schon eingefallen, aber besser war, dass der Zettel seiner eigentlichen Bestimmung zukam. Morgen früh, wenn die Mägde zum Ankleiden an die Tür klopften und niemanden vorfanden, würden sie den Zettel lesen und zu suchen beginnen. Es würde Geschrei geben, Aufregung, alle würden an einen Unfall glauben. Die Brieg führte Eis, das Wasser war über die Ufer gestiegen. Schon früher waren Menschen spurlos im Fluss verschwunden. Wenn man sich nicht auskannte, konnte im Dunklen leicht etwas passieren.

    Barbara hoffte, dass sie sich gut genug auskannte. Sie löschte erneut das Licht, stellte es ab und lauschte. Das Haus lag in tiefer Stille. Das Rauschen unter dem Eis klang wie ein Murmeln, siebenundsiebzig Schritte entfernt den Hang hinab, wo hinter der Mühle die Brieg floss. Barbara öffnete die Tür ihrer Kammer und ging im Korridor über die Dielen seitlich der Mitte, die nicht knarrten. Sie erreichte die Treppe und stieg hinab.

    Als sie die Haustür öffnete, fegte ein scharfer Wind einen Haufen Schnee von draußen auf den blank gekehrten Boden. Im dichten Flockenwirbel erkannte sie kaum die Umrisse der Mühle. Sie atmete tief ein und trat hinaus, schloss lautlos die schwere Haustür hinter sich und setzte sich in Bewegung. Ihre Trittspuren im frischen Schnee würden schon bald verweht sein.

    Sie nahm den Weg nach oben, über den Kamm des Betzberges; das war der kürzeste Weg nach Köln. Der Wind schlug ihr ins Gesicht, Flocken verhängten die Sicht. Sich umzudrehen, wagte sie nicht. Ich werde nie, nie wiederkommen, dachte sie und musste mit den aufsteigenden Tränen kämpfen. Sie würde weder Anni noch Agnes, ihre kleinen Schwestern, je wiedersehen. Ihre Brüder nicht. Ihren Freund Albrecht nicht. Hermine nicht, Pfarrer Hammes nicht. Ganz Wissfeld nicht und auch nicht ihren Vater.

    Es muss sein, dachte sie. Denn sonst ist es Velten, den ich nie wiedersehe. Und das wäre schlimmer.

    Das Hochwasser war, seit Barbara sich am Abend draußen umgesehen hatte, weiter gestiegen. Im Umfeld einer Papiermühle gab es nichts Gefährlicheres als ein Hochwasser. Eine Stunde genügte, um das Werk von Jahren zu zerstören, Mauern einzureißen und eine Existenz auszulöschen. Der Wasserspiegel der Brieg reichte schon auf zwei Fuß an die Höhe des Vorjahres heran, als die Mühle in Gefahr gekommen war. Der kleine Fluss rauschte unter dem Eis, der Frost ließ die Äste der Buchen am Wegesrand knacken und ächzen. Jedes Mal, wenn Barbara unter einem der großen Bäume hindurchging, meinte sie das Holz brechen zu hören. Wolken schoben sich vor das milchige Mondlicht, die kahlen Äste warfen nur noch blasse Schatten.

    Es war das eine, den Weg zu kennen, aber etwas ganz anderes, ihn nachts zu gehen, im Winter, im Dunklen und allein. Barbaras Zähne klapperten, obwohl sie eilig ging. Wenn ich jetzt umkehre und mich in mein Bett lege, dachte sie, dann merkt es niemand. Keiner wird je wissen, dass ich fortwollte. Sie stolperte. Als sie wegen der Dunkelheit eine Biegung verfehlte und unter ihr ein Stück der gefrorenen Erde über das steile Ufer in die Tiefe rutschte, wäre sie beinahe hinterhergestürzt, in die eiskalte Brieg. Ein Strauch fing ihren Sturz ab. Barbara kletterte mit weichen Knien zurück auf die vereiste Fahrstraße.

    Sie blieb stehen, drehte sich um und sah den Weg entlang, den sie gekommen war, soviel davon im fahlen Mondlicht zu erkennen war. Unten am Ende der Straße stand die Wissfelder Mühle. Dort schlief Rupert Wildkatz. Zurückgehen? Dorthin, wo es warm war, sicher, behütet? Aufgeben?

    Abrupt drehte sich Barbara in die andere Richtung und ging weiter nach Köln. Während sie einen Fuß vor den anderen setzte, malte sie sich den folgenden Morgen aus. Sie würde die große Stadt unerkannt durchschreiten und dabei die Gegend, in der die Familie Wildkatz wohnte, sorgfältig meiden. Niemand würde Barbara wahrnehmen, keiner später beschwören können, dass sie dagewesen war, anders als in dem winzigen Wissfeld, wo jeder ihrem Vater hätte sagen können, um welche Zeit sie welchen Pfad entlanggegangen war. Wie klein war das Dorf, verglichen mit der riesigen Stadt, in der Tausende Menschen wohnten! Wie frei würde sie atmen, wenn sie in Köln war! Wie tief würde sie erst atmen, wenn sie Velten fand!

    Über Veltens Weg wusste Barbara nicht viel, nur, dass er zuerst nach Köln gehen musste, um von dort die Strecke nach Rotterdam einzuschlagen. Er würde von Köln vermutlich ein Schiff den Rhein hinab nehmen, also fand sie ihn im Hafen, falls er nicht gerade abgefahren war.

    Vielleicht hatte der Teufel die Hand im Spiel und verlängerte den Weg, denn die Strecke nach Köln zog sich mehr, als sie glaubte. Sie war jetzt eine Sünderin. Sie hatte ihren Vater verraten, ihren Bräutigam und alle, die sie liebten; da mochte der Teufel Macht über sie bekommen. Ihre Kräfte erlahmten. Angestrengt riss Barbara die Augen auf und versuchte, das Dunkel zu durchdringen. Ausweichen, die Beine heben und gehen, gehen, gehen. War der Weg auch so lang gewesen, als sie im Sommer auf dem Wagen ihres Vaters hier entlanggekommen war?

    Die erste Turmspitze tauchte im Morgengrauen auf, dann eine zweite, eine dritte. Morgendunst lag über dem Wasser der Brieg, die so breit geworden war, dass Barbara das gegenüberliegende Ufer im vereisten Schilf kaum noch erkennen konnte. Der Schnee auf den Auenwiesen glitzerte im blassen Winterlicht.

    An Schlaf durfte sie nicht denken. Jede Stunde war wichtig, um Velten nicht zu verfehlen. Barbara erreichte das östliche Ufer des Rheins, zahlte zwei Pfennige für die Fähre, die sie ans andere Ufer brachte, und ging zum Hafen. Dickes Eis lag zwischen den Steinen, fast bis an die Schiffe heran, die an den Mauern vertäut waren. Die Fahrrinne war offen, aber das Wasser gurgelte und wogte, Eisschollen trieben in der Flussmitte. Außer den Fährschiffen war niemand auf dem Wasser unterwegs, kein Handelsschiff, keine Ruderboote.

    Am Rheinhafen, mit seinem hölzernen Kran weithin erkennbar, herrschte nicht das rege Treiben, das Barbara erwartet hatte. Um die Schiffe, die dort vertäut waren, lagen Kränze aus Eis; dicke Spundwände verhinderten, dass die Schollen, die auf dem Fluss trieben, gegen die Schiffswände stießen. Überall gereffte Segel, eingezogene Stege, heruntergeklappte Luken. Keines der Schiffe sah aus, als würde es bald Fahrt aufnehmen.

    Eine Reise nach Rotterdam? Die Männer, die am Hafen standen und ihre Pfeifen schmauchten, lachten Barbara aus. Bei diesem Wetter fuhr kein Schiff. Gestern nicht, heute nicht und morgen ganz sicher auch nicht.

    Also musste Velten noch in der Stadt sein, Unterkunft gefunden haben und auf besseres Wetter warten. Barbara machte sich auf die Suche und ging kreuz und quer durch die Straßenzüge von Köln. Jedes Mal, wenn sie den Blick über einen Platz schweifen ließ, an den Straßenecken, den Verkaufsbuden, suchte sie nach dem Schopf mit dem langen schwarzen Haar, nach der Gestalt, die die anderen überragte, in dem schäbigen Mantel, den er bei seinem Abschied getragen hatte. Velten war nirgends zu sehen. Lange stand sie von der größten Kirche, die je gebaut worden war, dem Dom, dessen unvollendeter Turm von einem Gerüst umgeben war. Barbara wagte sich nicht hinein. Wenn eine Kirche so hoch in den Winterhimmel wuchs, dann war sie für die Vergebung sehr großer Sünden gemacht. Barbara nützte das nichts. Ihre große Sünde, ihr unerlaubtes Fortgehen, konnte nicht vergeben werden, weil sie sie nicht bereute.

    Sie fragte sich, wie sie früher auf den Gedanken gekommen war, in dieser Stadt zu leben. So viele Menschen auf einem Fleck! Wie konnten sie den Lärm der Massen ertragen, auf den Gesang von Amseln und Grasmücken verzichten, sich mit dem Tschilpen von Spatzen begnügen? Wie konnten sie sich damit zufriedengeben, den ganzen Tag nicht einen einzigen Grashalm zu sehen? Hier gab es nichts Grünes, abgesehen von Unkräutern, die aus den Ritzen alter Mauern wuchsen und an denen magere Pferde und Ziegen knabberten, die so schmutzig waren wie in Wissfeld nicht einmal ein Schwein in seiner Suhle.

    Der fehlende Schlaf machte sich in brennenden Lidern bemerkbar; Barbara blinzelte und konnte gegen Mittag kaum noch etwas erkennen. Ihre Beine schienen schwer wie Blei. Am späten Nachmittag, als sie wieder am Hafen stand, musste sie sich eingestehen, dass sie Velten auf diese Weise nicht finden würde. Entmutigt blieb sie im Schutz einer Mauer stehen und betrachtete das schnell fließende Wasser. Sie presste ihr Bündel an sich und ignorierte den knurrenden Magen. Was, wenn Velten gar nicht in Köln war?

    Sie schluckte. Ein entsetzlicher Gedanke.

    Nach Wissfeld zurückgehen. Heimkehren, vor dem Vater auf die Knie gehen, gedemütigt vor ihm, vor Rupert, vor dem ganzen Dorf? In dem Wissen weiterleben, dass sie Velten nie mehr wiedersah? Sich vor Rupert erniedrigen, ihn bitten, den Fehler zu verzeihen?

    Niemals. Das kam nicht in Frage. Außerdem konnte Velten nicht weg sein. Sie würde es so lange versuchen, bis ein Schiff fuhr, und dasselbe würde Velten tun. Vielleicht traf sie ihn schon am nächsten Morgen am Hafen.

    Barbara reihte sich in die Schlange der Pilger ein, die in einem Kloster kostenlose Unterkunft erhofften, und bekam einen schmalen Schlafplatz im Stroh eines Stalles zugeteilt. Reden mochte sie mit niemandem. Keiner sollte sie verraten, falls ihr Vater oder Rupert auf den Gedanken kämen, nachzuforschen. Sie aß ein paar Bissen Brot aus ihrem Sack, aber der Gedanke an das Festmahl, das bei den Wildkatz‘ für diesen Tag vorbereitet worden war, verdarb ihr den Appetit auf das trockene Stück. Die Unterkunft ernüchterte sie; zudem hatten das Husten und Röcheln einiger Pilger sie an die Gefahren von Krätze und Seuchen erinnert. Wenn es irgendwie ging, würde sie nicht mehr hier schlafen.

    Am folgenden Morgen war ihr ganz elend zumute. Das wäre der Tag ihrer Hochzeit mit Rupert gewesen. Sie floh aus dem Kloster und suchte an denselben Hafenmauern wie tags zuvor nach Velten. Konnte er nicht jeden Augenblick um die Ecke biegen? Sie schärfte ihren Blick, aber Velten war nicht zu sehen. Jeder Mann, der kam, war irgendein Fremder. Dieselben Schiffe lagen vertäut, die Zahl der Eisschollen war eher größer geworden.

    Dasselbe hat Velten gesehen, dachte sie, und begriff: Velten würde nicht auf ein Schiff warten. Zaudern lag nicht in seiner Natur und Anstrengung hatte er nie gescheut. Also war er zu Fuß nach Rotterdam unterwegs.

    Mit einem Ruck löste sich Barbara von der Mauer, drückte ihr Bündel gegen die Brust und ging los. Sie wollte keine Zeit mehr vergeuden, die Velten nur Vorsprung verschaffte. Sie verließ die Stadt auf dem Fahrweg nahe dem Rhein. Am Hafen hatte sie sich die Namen einiger Städte nennen lassen, die auf der Strecke nach Rotterdam lagen. Wesel. Kleve. Nijmegen. Den Rest war ihr entfallen; sie wünschte, sie hätte die Strecke aufschreiben können, die die Fuhrleute beschrieben. Aber wie, wenn sie zwei Tage vorher noch nicht gewusst hatte, dass sie sich, statt zu heiraten, auf einen solch weiten Weg begeben würde?

    Sie sah Velten vor sich, seinen ernsten Blick, die schwarzen Augen, Brauen und Wimpern. Manche hatten ihn einen finsteren Mann genannt. Barbara verstand, warum er so schweigsam geworden war; die Bitternis seiner Kindheit hatte ihn zum Schweigen gebracht, aber nicht sein Wesen verdorben. 

    Sie fragte sich, warum sie nicht darüber nachdachte, dass er sie enttäuscht und betrogen hatte, und fand tausend Gründe. Weil Velten so schön Flöte spielen konnte, dass es einem das Herz zerriss. Weil er Barbara ihr Leben lang begleitet hatte, still, aufmerksam, rücksichtsvoll. Weil er sein Schicksal klaglos getragen hatte. Sie hatten zusammen in ihrem großen Buch von der Neuen Welt gelesen, dem Buch, das sie von Rupert geschenkt bekommen hatte. Velten hatte es laut gelesen und jedes Wort mit Blicken verschlungen, bevor er es aussprach. Barbara teilte seinen Traum, dorthin zu gehen. Sie würde Velten spätestens in Rotterdam finden.

    Unter ihren Füßen sah sie die von Eis und Schneeresten bucklige Straße liegen. Als sie so lange gegangen war, dass sie ihre Beine nicht mehr spürte, verschwamm auch ihr Blick, und manchmal kam es ihr vor, als ob die Straße ein Band wäre, das unter ihr dahinlief. Sie schaute auf die Spitzen ihrer Stiefel, die bei jedem Schritt unter dem Rock hervorfuhren. Hatte Velten denselben Weg genommen? Vielleicht hielt er sich irgendwo eine Weile auf oder ging langsamer als sie, und sie konnte ihn einholen. Jedes Mal, wenn sie ein Dorf oder eine Stadt durchquerte, sah sie sich aufmerksam um.

    Velten war nicht da. Kein einziges Mal, so oft sie sich auch um ihre Achse drehte.

    Die Tage dehnten sich und einer war wie der andere. Gehen, immer nur gehen, bis Barbara nur noch mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte. Ihr war warm, obwohl der Schnee in dicken Flocken fiel und Eis auf allen Bachläufen lag, die sie überquerte. Sie trug dicke Strümpfe in den Stiefeln, aber auch die verhinderten nicht, dass ihr jeder Schritt wehtat. Sie suchte nach abseits liegenden Scheunen für die Nacht, um nicht Geld ausgeben und sich der Gesellschaft irgendwelcher Kerle erwehren zu müssen; trotzdem musste sie einmal davonrennen und sich ein anderes Mal verstecken, weil ihr eine abgerissene Gestalt zu nahe treten wollte. Die Scheunen gaben Wärme und Schutz genug für die Nacht, und nach Gesprächen verlangte es sie nicht. Jeden Abend rieb sie die wunden Füße mit einer Salbe ein, für die sie ein paar Münzen ausgegeben hatte. Am nächsten Morgen ging es weiter, ob die Füße schmerzten oder nicht. Unter dem Stiefel knirschte der Schnee, und der Schmerz wurde zur Gewohnheit. Wenn sie doch nur bald in Rotterdam ankäme!

    Bald waren die Sohlen ihrer Stiefel abgetreten und löchrig. Barbara wurde den Schnupfen nicht los, hustete und schniefte, und der Weg wollte immer noch nicht enden. Es hieß, dass der Rhein bei Rotterdam ins Meer mündete, aber die vielen Flussarme verwirrten Barbara. Welches war der Hauptstrom? Wo musste sie das Wasser überqueren, an welchem Ufer gehen? Die Leute am

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