Auf der Suche nach Jan: Sophienlust - Die nächste Generation 96 – Familienroman
Von Simone Aigner
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Über dieses E-Book
Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt.
Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren.
Clemens Weigold sperrte die Tür zu seinen Büroräumen der Firma ›Weigold, Hoch- und Tiefbau‹ ab und verließ langsam das stille Gebäude. Er nahm die Treppe, die mit blauem Nadelfilzteppich belegt war, vom ersten Stock hinunter ins Erdgeschoss. Es war beinahe 22 Uhr. Längst waren sämtliche Angestellten und Führungskräfte, die in dem Geschäftsgebäude in der Ortsmitte von Kirchberg arbeiteten, in den Feierabend gegangen. Nur er hatte wieder einmal über seinen Unterlagen die Zeit vergessen. Doch das war nicht schlimm. Sein Beruf als Bauingenieur machte ihm Freude und zu Hause wartete niemand auf ihn. Er ging durch das verlassene Foyer. Die gläserne Eingangstür des Hauses klappte hinter ihm zu. Die Sommernacht war mild und sternenklar. Clemens blieb stehen und atmete tief die laue Luft ein, die noch warm von der Sonne des vergangenen Tages war. Für Sekunden sehnte er sich danach, jetzt nicht allein sein zu müssen. Eine Frau in seinem Leben und an seiner Seite zu haben, die sich auf ihn freute, vielleicht schon auf dem Gehweg, neben dem sein Wagen parkte, auf ihn wartete. Die ihn mit einem liebevollen Lächeln empfing und ihn fragte, wie sein Tag gewesen war. Clemens wischte seine unerwarteten Sehnsüchte beiseite. Seit Yvonne ihn vor vier Jahren verlassen hatte, hatte es keine Frau mehr in seinem Leben gegeben. Tief verletzte Gefühle und die unglaubliche Enttäuschung, weil sie ihn betrogen hatte, hatten ihn zu dem Entschluss kommen lassen, dass es besser war, alleine zu bleiben, als sich einem solchen Schmerz noch einmal auszusetzen. Mit der Fernbedienung des Zündschlüssels öffnete Clemens seinen Wagen, setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. In etwa zehn Minuten würde er zu Hause sein. Vielleicht auch eher, die Straßen waren jetzt um diese Uhrzeit weitgehend verlassen.
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Buchvorschau
Auf der Suche nach Jan - Simone Aigner
Sophienlust - Die nächste Generation
– 96 –
Auf der Suche nach Jan
Unveröffentlichter Roman
Simone Aigner
Clemens Weigold sperrte die Tür zu seinen Büroräumen der Firma ›Weigold, Hoch- und Tiefbau‹ ab und verließ langsam das stille Gebäude. Er nahm die Treppe, die mit blauem Nadelfilzteppich belegt war, vom ersten Stock hinunter ins Erdgeschoss. Es war beinahe 22 Uhr. Längst waren sämtliche Angestellten und Führungskräfte, die in dem Geschäftsgebäude in der Ortsmitte von Kirchberg arbeiteten, in den Feierabend gegangen. Nur er hatte wieder einmal über seinen Unterlagen die Zeit vergessen. Doch das war nicht schlimm. Sein Beruf als Bauingenieur machte ihm Freude und zu Hause wartete niemand auf ihn.
Er ging durch das verlassene Foyer.
Die gläserne Eingangstür des Hauses klappte hinter ihm zu.
Die Sommernacht war mild und sternenklar. Clemens blieb stehen und atmete tief die laue Luft ein, die noch warm von der Sonne des vergangenen Tages war. Für Sekunden sehnte er sich danach, jetzt nicht allein sein zu müssen. Eine Frau in seinem Leben und an seiner Seite zu haben, die sich auf ihn freute, vielleicht schon auf dem Gehweg, neben dem sein Wagen parkte, auf ihn wartete. Die ihn mit einem liebevollen Lächeln empfing und ihn fragte, wie sein Tag gewesen war.
Clemens wischte seine unerwarteten Sehnsüchte beiseite. Seit Yvonne ihn vor vier Jahren verlassen hatte, hatte es keine Frau mehr in seinem Leben gegeben. Tief verletzte Gefühle und die unglaubliche Enttäuschung, weil sie ihn betrogen hatte, hatten ihn zu dem Entschluss kommen lassen, dass es besser war, alleine zu bleiben, als sich einem solchen Schmerz noch einmal auszusetzen.
Mit der Fernbedienung des Zündschlüssels öffnete Clemens seinen Wagen, setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. In etwa zehn Minuten würde er zu Hause sein. Vielleicht auch eher, die Straßen waren jetzt um diese Uhrzeit weitgehend verlassen. Er blinkte und rangierte das Auto aus der Parklücke. Ein Martinshorn, ein gutes Stück entfernt, durchbrach die Stille der Nacht.
Er fuhr durch die Osseckerstraße, bog nach rechts in die Hoferstraße ein, die von etlichen Laubbäumen gesäumt waren und fuhr auf eine um diese Uhrzeit ausgeschaltete Ampelanlage mit Fußgängerschaltung zu. Nur schemenhaft erkannte er die Umrisse eines Kindes, das mit schnellen Schritten über den Gehweg rechts der Fahrbahn lief. Im ersten Moment glaubte Clemens, sich getäuscht zu haben. Um die später Stunde war wohl kaum ein Kind alleine unterwegs. Vielleicht hatte er nur einen Schatten gesehen, verursacht vom Mondlicht, das durch die Zweige der Bäume drang. Er fuhr langsamer und sah noch einmal zur Seite. Doch, da war ein Kind. Es hielt den Kopf gesenkt und lief schnell. Für ihn völlig unerwartet sprang es vom Gehweg auf die Straße, auf Höhe der Ampel. Clemens bremste viel stärker, als es erforderlich gewesen wäre. Wie erstarrt blieb das Kind stehen und sah ihn entsetzt an. Es war ein Junge, vielleicht sechs Jahre alt. Offenbar war der Kleine wirklich alleine unterwegs. Clemens stellte, nach einem Blick in den Rückspiegel, den Motor ab und stieg aus.
»Ist dir was passiert?«, rief er, obgleich er sicher war, dass das nicht der Fall war. Glücklicherweise war er langsam gefahren und hatte noch gut anhalten können. Der Junge starrte ihn an. In dem kleinen Gesicht meinte er Furcht zu sehen. Nein, schlimmer. Panik.
›Er läuft vor etwas weg‹, fuhr es Clemens durch den Kopf.
»Wie heißt du denn?«, fragte er und ging einige Schritte auf ihn zu. Noch immer stand das Kind reglos auf der Fahrbahn. »Ich bin Clemens. Kann ich dir irgendwie helfen?«
Der Junge gab keine Antwort.
»Bist du alleine unterwegs?« In der Ferne hörte er noch immer das Geräusch eines Einsatzfahrzeuges. Vermutlich war ein Unfall passiert, vielleicht mit Verletzten. Stand der Junge in einer Verbindung zu dem Unfall? War er gar der Verursacher, weil er schon vor ein anderes Auto gelaufen war? Nein, gab Clemens sich selbst die Antwort. Der Klang des Martinshorns war zu weit entfernt. Oder doch? Er musste etwas tun. Er konnte das Kind hier nicht spät abends stehen lassen. Mitnehmen konnte er ihn natürlich auch nicht. Ihm blieb nur, die Polizei zu verständigen. Nicht unbedingt über die Notrufnummer, aber er konnte auf dem Präsidium im etwa fünf Kilometer entfernten Maibach anrufen. Sie würden sich um den Jungen kümmern. Er würde bei ihm bleiben, bis eine Streife hier war.
Clemens nahm sein Mobiltelefon aus der Brusttasche seines Hemdes. In dem Augenblick wandte sich der Kleine auf dem Absatz um und rannte davon.
»Warte!«, rief Clemens erschrocken. »Bleib hier, ich helfe dir!« Hastig sah er sich nach allen Seiten um. Er stand vor der ausgeschalteten Ampel, beinahe mitten auf der Kreuzung. Parkmöglichkeiten gab es hier keine und es hätte auch viel zu lange gedauert, den Wagen ordnungsgemäß abzustellen. Schon war der Junge in der Dunkelheit verschwunden. Himmel! So ein kleines Kind. Es konnte so viel passieren. Clemens Puls ging zu schnell. Ihm hinterherzulaufen war nicht möglich. Er wusste lediglich die Richtung, in die der Junge gerannt war. Es gab reichlich Seitenstraßen, er würde ihn kaum finden. Und da war ja noch immer sein Auto, dass er hier nicht stehen lassen konnte.
Clemens setzte sich wieder hinter das Steuer und googelte die Telefonnummer der Wache in Maibach.
*
Katrin Kleewald umarmte Pünktchen.
»Vielen, vielen Dank fürs Erklären, Pünktchen«, sagte sie und lächelte die Klassenkameradin an.
»Immer gerne. Sag einfach Bescheid, wenn ich dir nochmal helfen kann«, versicherte Angelina Dommin, die von jedem, der sie kannte, wegen ihrer vielen Sommersprossen, Pünktchen genannt wurde.
»Ich denke, ich habe diese elende Englischgrammatik jetzt verstanden. Trotzdem, danke, ich melde mich auf jeden Fall«, erwiderte Katrin. »Bist du sicher, dass du den Bus ins Kinderheim nehmen willst? Meine Mutter kommt in circa zwanzig Minuten von der Spätschicht. Sie fährt dich bestimmt gerne nach Hause.«
»Das ist lieb, Katrin, aber echt nicht nötig. Der Bus kommt in zwei Minuten und ist fünf Minuten später in Wildmoos. Ich liege wahrscheinlich schon Bett, noch ehe deine Mutter hier ist«, antwortete Pünktchen.
»Okay. Ich guck aus dem Fenster, dass du sicher in den Bus kommst und nicht überfallen wirst«, sagte Katrin und lächelte ihr zu.
»Alles klar.« Pünktchen lächelte zurück, legte den Riemen ihrer Tasche um die Schultern und verließ das Haus. Die Bushaltestelle war nur wenige Schritte entfernt, nicht einmal die Straße musste sie überqueren. Am beleuchteten Küchenfenster stand Katrin und winkte ihr noch einmal zu. Sie winkte zurück und sah auf ihre Handyuhr. Noch eine Minute, falls der Bus pünktlich kam. Sie war müde und freute sich auf ihr Zimmer und ihr gemütliches Bett im Kinderheim Sophienlust, in dem sie seit dem Tod ihrer Eltern vor einigen Jahren lebte.
Pünktchen blickte die Straße entlang, in die Richtung, aus der der Bus kommen sollte. Über den Gehweg rannte ein kleiner Junge. Verwundert erkannte sie, dass der Kleine offenbar allein unterwegs war. Außer Atem kam er an der Haltestelle an. Wollte er etwa jetzt, spätabends, mit dem Bus irgendwohin fahren? Nach Wildmoos ins Kinderheim sicher nicht. Das Kind atmete schnell und sah sich immer wieder um, als hätte es Angst.
»Hey«, sprach Pünktchen ihn an. »Alles klar? Bist du alleine unterwegs?« Der Junge senkte den Kopf und sie meinte, die Andeutung eines Nickens zu sehen.
»Du solltest doch um die Zeit daheim sein. Hast du dich verlaufen?« Besorgt musterte sie den Kleinen. Jeden Moment kam der Bus. Den Jungen hier stehen zu lassen, ging überhaupt nicht. Es war schon viertel elf.
»Ich kann nicht heim«, wisperte das Kind, so leise, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte.
»Nicht? Warum denn nicht?« Sie sah wieder die Straße entlang. Der Bus kam nicht. Manchmal hatte er Verspätung.
»Es ist was ganz Schlimmes passiert«, flüsterte der Kleine und senkte den Kopf.
»Was denn? Kann ich dir helfen?«, fragte Pünktchen. Der Junge schüttelte den Kopf.
»Pünktchen? Was ist los?«, hörte sie Katrin rufen. Sie wandte sich um. Die Freundin hatte das Küchenfenster geöffnet.
»Warte«, rief Pünktchen zurück. Für Erklärungen hatte sie gerade keine Zeit, zumal sie eigentlich gar keine Erklärung wusste.
»Wie heißt du denn?«, wandte sie sich wieder an das Kind.
»Jan«, flüsterte der Kleine.
»Ich heiße Angelina, aber jeder nennt mich Pünktchen«, stellte Pünktchen sich vor. Sie überlegte, ihm ihren Arm zu zeigen, auf dem ein Teil ihrer vielen Sommersprossen zu sehen waren. Dann aber dachte sie, dass diese beim trüben Licht vom Mond und einer Straßenlaterne schwer zu erkennen waren.
»Es ist also was ganz Schlimmes passiert und deswegen kannst du nicht nach Hause«, fasste sie stattdessen zusammen. Der Junge nickte.
»Wo ist denn dein Zuhause?«, fragte sie, obgleich sie sicher war, er würde es ihr nicht sagen. Falls er es überhaupt wusste. So klein und zart, wie er war, war sie im Zweifel, ob er nicht sogar noch im Kindergartenalter war.
Tatsächlich gab das Kind keine Antwort. Es würde wahrscheinlich zu nichts führen, eine Frage nach