Das Geheimnis
Von Dorte Roholte
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Buchvorschau
Das Geheimnis - Dorte Roholte
Dorte Roholte
Das Geheimnis
Übersetzt von Rebecca Jakobi
Saga Kids
Das Geheimnis
Übersetzt von Rebecca Jakobi
Titel der Originalausgabe: Hemmeligheden
Originalsprache: Dänisch
Coverimage/Illustration: Shutterstock
Copyright ©2015, 2023 Dorte Roholte und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728259894
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung des Verlags gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
1. Kapitel
Am letzten Tag im Juni hatte der Sommer auf einen Schlag Einzug gehalten. Im Einkaufszentrum wimmelte es nur so von Touristen, Schulkindern und Leuten, die ihre blasse Haut zum ersten Mal im Jahr an die frische Luft ließen. Liva und Sally hatten beide je neunundsechzig Kronen für die gleiche Sonnenbrille bei H&M ausgegeben. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass es in Ordnung war, sie sofort aufzusetzen, weil das Einkaufszentrum ein Glasdach hatte und das Licht deshalb ziemlich grell war.
Sally hakte sich bei Liva ein und flüsterte ihr ins Ohr: »Ey, wenn wir jetzt keine Sonnenbrillen hätten, wären wir eben ja fast blind geworden!«
»Pssst, sie kann uns hören«, flüsterte Liva zurück, aber musste trotzdem grinsen.
Vor ihnen schob eine junge Mutter einen Kinderwagen mit einem schreienden Baby vor sich her. Sie trug eine enge kurze Hose, die ihr fast in den Po rutschte und jede Menge weiße Haut mit Schwangerschaftsstreifen und rotblauen Krampfadern offenbarte.
»Ich schwöre, ich werde niemals Kinder haben«, sagte Sally leise, als sie an der Frau vorbeigingen.
Liva umklammerte Sallys Arm so fest, dass es ihr selbst wehtat. »Jetzt halt doch den Mund! Stell dir vor, sie meldet sich bei mir!«
»Dann sagst du halt, dass du vollkommen ausgebucht bist«, sagte Sally und verdrehte die Augen.
Liva schüttelte nur den Kopf. Sie waren auf dem Weg zu Føtex, dem Supermarkt, der eine gesamte Seite des Einkaufszentrums einnahm. In der Hand hielt Liva die Anzeige, die sie und Sally einen Großteil des Vormittags lang geschrieben hatten. Sie hatten sie viele Male überarbeitet und schließlich auf gelbem Papier ausgedruckt:
Verantwortungsbewusstes Mädchen, 13 Jahre, bietet Babysitting und Abholen von Kindergarten oder Krippe. Mit Vorliebe nachmittags, eventuell auch abends. Melden Sie sich bei Liva Keldsen.
Vor dem Schwarzen Brett blieben sie stehen. Es war schon voll mit lauter anderen Zetteln.
»Da ist überhaupt kein Platz mehr«, sagte Liva verärgert.
»Natürlich ist da Platz. Guck!«
Sally stellte sich auf die Zehenspitzen und riss ein paar Aushänge ab. Dann knüllte sie sie zusammen und warf sie in den nächsten Mülleimer.
»Das kannst du doch nicht machen«, protestierte Liva.
Sally zuckte mit den Schultern. »Und wie ich das kann! Außerdem steht da, dass jede Anzeige nur eine Woche hängenbleiben darf.«
»Na dann.«
Liva befestigte den Zettel relativ mittig mit einem Reißnagel. Dann traten sie beide einen Schritt zurück. Liva legte den Kopf schief und studierte ihren Aushang. War er doch zu kindisch? Sie wurde etwas nervös, als eine grauhaarige Frau stehenblieb und ihn las.
»Vielleicht hättest du deine Handynummer doch nicht mitangeben sollen«, sagte Sally. »Da können dich ja alle möglichen Geisteskranken kontaktieren. Also, irgendwelche ekligen Männer und so. Oder jemand aus unserer Klasse.«
»Meinst du?«
Liva biss sich auf die Unterlippe. Gestern Abend hatte sie ihrer Mutter gesagt, dass sie diese Anzeige aushängen wollte. Sie hatte genau die gleichen Bedenken gehabt, aber Liva hatte sich damit gerechtfertigt, dass sie so auch die Babysitterin von Cassandra geworden war. Im Februar hatte Cassandras Mutter Therese sich auf Livas Aushang bei Netto gemeldet, und seitdem passte Liva ab und zu auf die Kleine auf. Es war relativ gut gelaufen, aber jetzt zogen Therese und Cassandra nach Kolding, weil Therese dort jemanden kennengelernt hatte. Somit blieben Liva nur noch die vierhundert Kronen monatliches Taschengeld, auf das sich ihre Eltern geeinigt hatten. Tatsächlich war das so ziemlich das Einzige, bei dem sie sich einig waren.
»Vielleicht ruft Sebastian an und fragt, ob du auf ihn aufpassen willst.« Sally lachte und stupste Liva mit dem Ellbogen in die Seite.
»Ich stehe nicht auf ihn, das hab ich dir längst gesagt, und das weißt du auch«, sagte Liva.
Das stimmte. Sie mochte Sebastian aus ihrer Klasse nicht, obwohl alle wussten, dass er auf sie stand. Zumindest hatte sie keine Gefühle für ihn.
»Wann kommt nochmal dein Stiefbruder zu euch?«, fragte Sally, als sie langsam wieder auf die andere Seite des Einkaufszentrums schlenderten, wo sie bei Burger King ihre Fahrräder abgestellt hatten.
»Benjamin? Zum Glück bin ich in der Woche mit Papa und Heidi in Schweden, sonst wäre ich währenddessen zu Oma geflüchtet!«
»Ach, so schlimm kann er doch nicht sein, Liva!«
»Doch! Er ist widerlich, stinkt und … ih! Du hast keine Ahnung, wovon du redest!«
Liva presste die Lippen zusammen, damit ihr keines der vielen Schimpfwörter herausrutschte, die ihr durch den Kopf gingen. Sie hasste es, dass Benjamin jedes zweite Wochenende bei ihnen zu Hause war. Sie war der festen Überzeugung, dass sie ihn noch riechen konnte, wenn sie von ihrem Wochenende bei ihrem Vater heimkam. Der Gestank von seinen Käsefüßen, seinem schlechten Atem, Schweiß und Fürzen hing dann immer noch in der Luft. Das Erste, was sie sonntagabends machte, war, ihr Zimmerfenster sperrangelweit zu öffnen, um zu lüften. Ihre Mutter kannte den Grund, aber kommentierte es nicht. Kim, Benjamins Vater, auch nicht. Er wusste natürlich, dass Liva Benjamin meiden wollte und deshalb die Wochenenden getauscht hatte.
Es war jetzt fast zwei Jahre her, dass Livas Mutter mit Kim zusammengekommen war. Am Anfang hatten sie sich nur verabredet, wenn Liva bei ihrem Vater war. Ihre Eltern waren zu dem Zeitpunkt seit fünf Jahren geschieden gewesen. Sie hatten sich scheiden lassen, weil Livas Vater Heidi kennengelernt hatte. Inzwischen hatte sich Liva an die Situation gewöhnt und fand es gewissermaßen okay. Wenn sie ihren Vater und Heidi besuchte, wurde sie größtenteils richtig verwöhnt. Die meiste Zeit lebte Liva aber bei ihrer Mutter, die ihr ihre volle Aufmerksamkeit schenkte. Zumindest war das einmal so gewesen.
Liva hatte damals recht schnell bemerkt, dass irgendetwas anders war. Ihre Mutter lauerte förmlich über ihrem Handy und wurde manchmal ganz rot, wenn sie eine Nachricht bekam. Erst hatte sie darauf bestanden, dass die Nachrichten von einer Kollegin aus der Apotheke oder ihrer Freundin Susan kamen, letztendlich aber zugegeben, dass sie begonnen hatte, einen Mann namens Kim zu daten, den sie schon von früher kannte. Liva hatte nicht so recht gewusst, was sie davon halten sollte. Es war irgendwie komisch, wenn die eigene Mutter plötzlich einen Freund hatte und frisch verliebt durch die Gegend lief. Also hatte Liva ihrer Oma davon erzählt. Sie liebte ihre Oma, weil sie sie so gut verstand und ihr immer etwas einfiel, das Liva die Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehen ließ. So war es auch bei Kim gewesen. Anders als Livas Vater hatte ihre Oma nicht bloß gesagt, dass Livas Mutter erst siebenunddreißig war und es ihr gutes Recht war, einen neuen Freund zu haben. Nein, sie hatte gesagt, dass das jetzt vielleicht erst einmal etwas seltsam war, weil Liva sich daran gewöhnt hatte, ihre Mutter für sich allein zu haben, sie sich aber bald darüber freuen würde, dass ihre Mutter nun noch etwas anderes hatte, das sie glücklich machte. Denn wenn Liva einmal selbst einen Freund hatte oder mit einem Jungen ausging, wie Oma es nannte, wäre es eine Erleichterung, dass ihre Mutter nicht ständig auf ihr hing und traurig wurde, wenn sie nicht zu Hause war.
Liva hatte noch keinen richtigen Freund gehabt, abgesehen von Leo, doch der hatte ein Jahr zuvor die Schule gewechselt, mit ihm war es also aus. Trotzdem verstand sie, was Oma meinte, und wusste, dass sie recht hatte.
Erst einige Monate später hatte Liva Kim zum ersten Mal getroffen. Und kurz vor diesem Treffen erzählte ihre Mutter ihr plötzlich, dass Kim einen Sohn hatte, der zwei Jahre älter als Liva war und Benjamin hieß. Er wohnte in Herning bei seiner Mutter Ulla, die Oberfeldwebel in einer Kaserne war. Liva hatte Ulla nie zu Gesicht bekommen, aber war überzeugt, dass sie wie eine weibliche Version von Terminator aussah.
Benjamin hingegen hatte Liva bisher zweimal gesehen. Das genügte. Er war groß, sehr dünn und sah ernsthaft bescheuert aus. Außerdem redete er nur mit Kim. Einmal hatte er einen großen roten Pickel auf dem Kinn gehabt.
»Hey, Liva. Halloo! Erde an Liva! Woran denkst du?«, fragte Sally und fuchtelte mit einer Hand vor Livas Gesicht herum.
»Äh … an meine Oma.«
Obwohl Liva und Sally nun schon seit vier Jahren die besten Freundinnen der Welt waren, wollte sie nicht sagen, dass sie an Benjamin gedacht hatte. Das würde nur falsch rüberkommen. Sally verstand einfach nicht, dass überhaupt nichts toll daran war, einen Stiefbruder zu haben. Im Gegenteil.
»Stimmt irgendwas nicht mit ihr?«
»Nein, nein.« Liva schüttelte den Kopf. Oma war zwar schon neunundsechzig Jahre alt, aber gesund.
»Kommst du noch mit zu mir?«, fragte Sally. »Meine Eltern kommen erst spät nach Hause, wir könnten was zusammen kochen?«
»Ich hab versprochen, zum Essen nach Hause zu kommen«, sagte Liva. »Wir grillen heute.«
»Okay, gut. Wir hören uns!«
»Jepp.«
Bei den Fahrrädern umarmten sie sich und fuhren dann in getrennte Richtungen nach Hause.
*
Livas Handy vibrierte genau in dem Moment, als sie zu Hause in den Carport einbog. Es war knapp siebzehn Uhr, weshalb sie sich etwas wunderte, dass das Fahrrad ihrer Mutter schon dort stand. Kim war Verkäufer von Zahnpflegeprodukten und hatte einen Firmenwagen. Der stand auch im Carport. Er hatte abweichende Arbeitszeiten, aber die Apotheke schloss erst um halb sechs.
War etwas passiert? Der Gedanke ging Liva durch den Kopf, während sie ihr Handy aus der Hosentasche zog.
Therese ruft an, stand auf dem Display. Vielleicht brauchte sie für heute Abend einen Babysitter? Oder sie zogen doch nicht um?
»Liva hier.«
»Hallo Liva, hier ist Therese. Du, ich muss dich mal schnell was fragen. Wir ziehen ja bald um, und du gehst bei niemand anderem babysitten, oder?«
»Noch nicht, aber ich habe