Die Tochter des Gutsherrn
Von Dorte Roholte
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Buchvorschau
Die Tochter des Gutsherrn - Dorte Roholte
Dorte Roholte
Die Tochter des Gutsherrn
Übersetzt von Patrick Zöller
Patrick Zöller
Saga Kids
Die Tochter des Gutsherrn
Übersetzt von Patrick Zöller
Titel der Originalausgabe: Herremandens datter (Bind 1)
Originalsprache: Dänisch
Coverimage/Illustration: Shutterstock
Copyright ©2015, 2023 Dorte Roholte und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728258637
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung des Verlags gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
1.
Eine glänzende schwarze Fliege stürzt sich wieder und wieder gegen die Scheibe des Turmfensters. Sicher bereut sie es, dass sie sich in meine Kammer verirrt hat. Verzweifelt sucht sie nach einem Ausweg, und findet sie ihn, bleibe ich allein zurück. Ich lege die Stickerei in den Schoß und starre hinaus in die Sonne.
Draußen herrscht hochsommerliche Hitze, aber hier drinnen, hinter den dicken steinernen Mauern, ist es kühl. Trotzdem sind mein Nähzeug und meine Hände schweißnass, denn Vater verlangt, dass ich jeden Tag wenigstens drei Stunden nähe. Offenbar verbessert es seine Aussichten, einen passenden Ehemann für mich zu finden, wenn ich nähen und sticken kann.
Der Gedanke an eine Ehe macht mir Angst und Näharbeiten langweilen mich schrecklich. Außerdem kann ich es auch nicht besonders gut. Ständig steche ich mich mit der Nadel und muss leuchtend rote Perlen aus Blut von den Fingern lecken.
Die alte Magna schimpft mich immer aus, wenn ich mich steche. „Ach, Boel, du ruinierst noch den ganzen Stoff!", schnaubt sie dann, aber jetzt liegt sie in ihrer Kammer nebenan und ruht sich aus. Seit Kurzem wird sie sehr schnell müde. Ich kann ihr Schnarchen hören, ganz schwach nur, und es ist beruhigend und irritierend zugleich.
An richtig langen Tagen vermisse ich sogar Magister Frantz. Er hat mir Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht und mich in Deutsch und Französisch unterrichtet. Aber nun ist er abgereist. Papa meinte, ich müsse nicht noch mehr lernen.
Die Fliege summt wütend und hämmert noch einmal gegen das Glas. Könnte ich das Fenster öffnen, würde ich sie nach draußen lassen. Aber es ist zugenagelt. Mein Blick wandert zu dem großen Gobelin rechts neben dem Fenster. Meine Mutter hat ihn angefertigt. Es muss viele, viele Stunden gedauert haben. Er zeigt eine Jagdszene. Prächtig ausstaffierte Reiter auf edlen Pferden sind zu sehen, gefolgt von zwei einfach gekleideten Reitern. Jeder von ihnen führt einen Falken mit sich auf dem linken Arm. Die Falken haben eine kleine Haube auf dem Kopf, sodass sie nichts sehen können, und sitzen stolz und ruhig auf den langen, dicken Lederhandschuhen. Zum Schluss kommen die Jäger und die Hundeführer, die nebeneinander gehen.
Der Gobelin ist das einzige greifbare Andenken an meine Mutter, das ich habe. Bis vor fünf oder sechs Jahren hing außerdem ein Porträtgemälde von ihr im Rittersaal. Aber Papa ließ es abnehmen. Ich sehe meinen Vater fast nie, aber wenn ich ihn sehe, dann ist er meistens kalt und wie abwesend. Ob meine Mutter warmherziger und freundlicher war? Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich kaum noch an sie erinnern. Sie starb, als ich drei Jahre alt war. Zum Glück hatte ich Magna. Sie stillte mich, als ich ein Säugling war, und hat seitdem immer auf mich aufgepasst. Als meine Mutter starb, tröstete sie mich. Sie wischte mir die Tränen weg und spielte mit mir im Rosengarten. Manchmal nahm sie mich mit auf die andere Seite der Zugbrücke und des Wassergrabens. Sie sagt, mein Vater habe über die Maßen getrauert, als meine Mutter tot war. Vielleicht trauert er immer noch, denn er trägt stets schwarze Kleidung. Die Leute im Dorf halten Erik von Falkenholt für einen harten und strengen Mann. Und für fromm. Jeden fünften Tag feiert Pastor Munk eine Andacht in unserer kleinen Kapelle, und dann kniet Papa stundenlang da und betet mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen.
Ich weiß nicht, wofür er betet. Aber er erwartet, dass ich bei der Andacht bin und ebenso lange bete wie er. Drei Mal hat er mich geschlagen, weil er meinte, ich sei nicht andächtig genug.
Ein Geräusch übertönt Magnas Schnarchen. Pferdehufe klappern nervös auf dem Kopfsteinpflaster. Ich lege das Stickzeug beiseite und drücke das Gesicht an die Scheibe. Es ist der Stallbursche, der den Schimmel für meinen Vater bereithält. Unruhig trippelt der Hengst vor und zurück. Auf der Treppe erscheint mein Vater. Er trägt Reitstiefel und einen breitkrempigen Hut, schwingt sich in den Sattel und reitet im Schritt über den Hof hinüber zur Zugbrücke, ohne zu meinem Fenster heraufzusehen. Einen Moment später ist er verschwunden.
Ich wende mich dem Gobelin zu und lasse meine Finger über den feinen Stich gleiten. Es ist wie ein Gemälde, das mit Nadel und Faden ausgeführt wurde. Eine eigenartige Sehnsucht stellt sich ein. Ob alles anders wäre, wenn meine Mutter noch lebte?
Ich seufze, schleiche zur Tür und drücke vorsichtig mit der Schulter dagegen. Die Angeln knarren. Ich schlüpfe nach draußen und werfe einen Blick in Magnas Kammer. Leise schmatzend dreht sie sich im Schlaf um. Ich halte den Atem an, denn die Luft, die zu mir dringt, ist schwer und stickig. Magna hat schon seit Längerem eine Verletzung am Fuß, die sich immer wieder entzündet und einfach nicht heilen will. Es stinkt widerlich, wenn sie wie jetzt ihre Schuhe ausgezogen hat.
Ich hebe meine grobe Schürze an und laufe so schnell ich kann die Treppe hinunter. Beinahe stürze ich über das Zimmermädchen, das am Fuß der Treppe kniet und die Bodendielen schrubbt. Es ist meine Schuld, dass sie gegen den Eimer stößt und das Wasser überschwappt. Dennoch entschuldigt sie sich bei mir.
„Verzeihung, Jungfer Boel", sagt sie und sieht nur ganz kurz zu mir auf, bevor sie sich daran macht, aufzuwischen. Trotzdem bemerke ich ihre aufgedunsenen und von Tränen rot gefärbten Augen. Außerdem läuft ihr die Nase.
„Warum weinst du?", frage ich, obwohl es sich für mich nicht gehört, mit der Dienerschaft zu sprechen. Meinem Vater würde es nicht gefallen. Aber er ist nicht hier, und das Zimmermädchen ist vielleicht gerade neun, zehn Jahre alt.
„Es ist nichts."
„Du lügst", sage ich.
Sie schnieft laut und das kleine Gesicht ringt um Fassung.
„Mama ist letzte Nacht gestorben. Und meine kleine Schwester, die sie gerade zur Welt brachte, schluchzt sie. „Mein Bruder war heute Morgen da und hat es mir erzählt. Ich wollte nach Hause, aber die Köchin hat es mir verboten.
„Ach", murmele ich. Die Mutter des Zimmermädchens ist im Kindbett gestorben. Ein vager Gedanke leuchtet schwach in meinem Hinterkopf auf.
Ich nehme ein Taschentuch aus dem Ärmel und reiche es dem Zimmermädchen. „Hier, für die Tränen. Du kannst es gerne behalten."
Ehrfürchtig nimmt sie es entgegen. Von einem Moment auf den anderen versiegt der Strom aus Tränen und Rotz.
„Wirklich?", flüstert sie mit kugelrunden Augen.
„Ja, wenn ich es dir sage", antworte ich und mache zwei Schritte von ihr weg. Mir wird klar, dass sie noch nie etwas so Schönes und Feines besessen hat wie mein Spitzentaschentuch.
„Jungfer Boel, sagt sie entschlossen, „Verzeihung, aber darf ich es meiner Mutter mit ins Grab geben?
„Du kannst damit machen, was du willst."
Ich wirbele herum und haste durch den Rittersaal zum Privatgemach meines Vaters. Bevor ich die Türklinke nach unten drücke, werfe ich einen Blick über die Schulter. Hoffentlich sieht der Verwalter mich nicht. Er ist Papas rechte Hand, und manchmal scheint er überall zur gleichen Zeit zu sein. Aber im Rittersaal ist niemand außer dem Zimmermädchen, das intensiv das Taschentuch studiert. Mein Puls beschleunigt, als ich das Zimmer betrete. Hier drinnen riecht es nach Büchern, Tabak und Leder. Auf Papas Bett liegt eine kostbare Decke aus Brokat. Es gibt zwei Fenster, die im Gegensatz zu meinem geöffnet werden können. Mitten im Zimmer steht sein großer Schreibtisch, auf dem sich Papiere, Dokumente und Briefe stapeln. Mitten auf der glänzenden Tischplatte steht der Schrein.
Ich schleiche hin und öffne ihn. Er ist nicht verschlossen. Bestimmt kann Papa sich gar nicht vorstellen, dass jemand hereinkommt und es wagt, ihn zu öffnen. Es befindet sich auch nichts darin, nur der Brief. Mit angehaltenem Atem falte ich ihn auseinander. Mit den Jahren ist das Papier vergilbt, die Ränder sind eingerissen und die Faltkanten abgegriffen. Aber die Schrift meiner Mutter kann ich immer noch lesen, auch wenn die Tinte allmählich verblasst:
Mein lieber Gemahl,
unser Erbe ist also zur Welt gekommen. Leider ist es ein Mädchen, im Gegensatz zu dem, was uns versprochen wurde. Doch sie scheint gesund und lebensmutig zu sein. Ihr Haar ist dunkel und sehr dicht. Aber so ist es oft bei