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Der Dwarsläufer: oder wie ich meine Mutter aus dem Fenster warf
Der Dwarsläufer: oder wie ich meine Mutter aus dem Fenster warf
Der Dwarsläufer: oder wie ich meine Mutter aus dem Fenster warf
eBook514 Seiten6 Stunden

Der Dwarsläufer: oder wie ich meine Mutter aus dem Fenster warf

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Über dieses E-Book

»Dwarsläufer« ist ein kleiner Krebs mit seitlich orientiertem Fluchtverhalten und abwehrend erhobenen Zangen. Oder ein Schiff, das gefährlich Zickzack fährt. Beides trifft auf Kalle Franke zu. Er hetzt zwischen zwei Frauen hin und her und weicht seinen wachsenden Problemen aus, bis es knallt. Immer wieder schlingert sein Lebenskurs - erst in seiner Seefahrtszeit auf einem Hochseeschlepper, dann als Hamburger Maschinenbaustudent und WG-Bewohner.
Nach seinem Kiez-Bestseller »Rohrkrepierer« lässt Konrad Lorenz seinen Helden Kalle als jungen Mann die Seefahrt kennenlernen und die Aufbruchstimmung der 60er und 70er Jahre in den Wohngemeinschaften und Kneipen der Hamburger Studentenszene des Uni-Viertels erleben - und zeigt dabei, wie Liebe und Leidenschaft schonungslos ins böse Chaos führen können.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Temmen
Erscheinungsdatum25. Okt. 2013
ISBN9783837880106
Der Dwarsläufer: oder wie ich meine Mutter aus dem Fenster warf

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    Buchvorschau

    Der Dwarsläufer - Konrad Lorenz

    Konrad Lorenz

    Der Dwarsläufer

    oder wie ich meine Mutter aus dem Fenster warf

    Roman

    »Look around

    The grass is high

    The fields are ripe

    It’s the spring time of my life«

    – Paul Simon, »A Hazy Shade of Winter«

    Feingefühl

    »Heute ist der letzte Tag«, sagt Teufelauch.

    Als wenn ich das nicht selber wüsste! Seit zehn Tagen denke ich an nichts anderes. Und wenn sich tatsächlich mal die Spur von einem anderen Gedanken in meinen Kopf verirrt, so bringt mich dieser schwachsinnige Zettel, den ich in der Tasche habe, wieder drauf.

    »Und wenn sie krank ist?«, frage ich.

    »Warum soll sie denn ausgerechnet heute krank sein?«

    »Wegen dem Wetter natürlich!«

    Es schneit seit zwei Tagen. Heute bleibt der Schnee sogar liegen.

    Insgeheim hoffe ich, dass sie krank geworden ist, damit ich einen Aufschub bekomme. Krankheit ist so was wie höhere Gewalt. Und höhere Gewalt, das sagt der Name schon, ist einem Schwur ebenbürtig, kann ihn vielleicht sogar aufheben.

    »Dann musst du eben zu ihr raufgehen«, schlägt Teufelauch vor, »denk an deine Oma.«

    »Ich geh doch da nicht rauf! Die kennt mich doch gar nicht.«

    »Die kennt dich nicht?« Er lacht sein dreckiges Teufelauch-Lachen. »Die kennt dich so gut wie ihren eigenen Arsch!«

    Er hat ja recht.

    Wenn sie vor der Tür auftaucht, wird zweimal gepfiffen. Irgendeiner von meinen Konsorten hängt immer auf der Straße oder auf dem Bolzplatz rum. Es ist mir egal, dass alle Bescheid wissen.

    »Kalle is verknaahallt! Kalle is verknaahallt!«, rufen sie hinter mir her.

    Ja und!? Ich lass alles stehen und liegen, donnere die Treppen runter und hefte mich an ihre Fersen.

    Sie hat einen Gang wie das Indianermädchen aus dem Film »Der gebrochene Pfeil« und eine Prinz-Eisenherz-Frisur.

    Sie heißt Elke, Elke Feininger, und ich nenne sie insgeheim »die Feine«. So bekommt der Begriff »Feingefühl« einen ganz neuen Sinn. Feingefühl umhüllt mich wie ein Raumanzug, ja es lässt mich sogar streckenweise die Schwerkraft verlieren und hat gleichzeitig die Süße von feinem Puderzucker.

    Ich hab Puderzucker erst kürzlich in der Speisekammer entdeckt. Bevor ich auf die Straße renne, befeuchte ich einen Finger mit der Zunge und stecke ihn in die Puderzuckertüte. Wenn ich dann unten ankomme und sie irgendwo entdecke, habe ich immer noch den Puderzuckergeschmack im Mund.

    Manchmal überkommt mich dieses schwerelose Puderzuckergefühl sogar schon morgens, wenn ich aufwache, weil ich von ihr geträumt habe.

    Sie wohnt gegenüber von uns, am Paulsplatz, erster Eingang links. Über ihrer Treppenhaustür hat die Holzmaserung dort, wo die Farbe abgeplatzt ist, die Form einer Girlande. Das kann nur ich sehen, ebenso wie ihren schnellen Indianerblick der Übereinkunft, wenn sie mich, ihren Schatten, aus den Augenwinkeln heraus entdeckt.

    Hin und wieder muss sie was einkaufen, und ich warte vor Belitz, dem Milchmann, oder Holm, dem Feinkostgeschäft, auf sie. Und wenn sie wieder rauskommt, schenkt sie mir dieses aufblitzende Indianerlächeln.

    Gelegentlich geht sie mit einer Freundin spazieren, ein blödes Ding, das sich immer wieder umdreht und die unsichtbare Verbindung, die zwischen uns besteht, kaputt kichert. Und dann und wann passt sie auf ihren kleinen Bruder auf. Wenn der auf dem Spielplatz in der Sandkiste buddelt, sitzt sie daneben auf einer Bank und liest.

    Ich würde zu gerne wissen, was sie da liest. Sofort würde ich mir das Buch besorgen, um in ihre Augen, ihre Gedanken einzutauchen.

    Genau vor zwölf Tagen sagte Teufelauch auf dem Schulweg zu mir: »So wird das nie was. Du musst schwören, dass du sie bis dann und dann ansprichst.«

    »Aber das tu ich doch jeden zweiten Tag!«

    »Du musst dich selbst überlisten: Du musst dir was ausdenken, irgendwas Schlimmes, das passiert, wenn du’s nicht bis dann und dann hinkriegst.«

    »Was denn Schlimmes?«

    »Das muss was sein, was zieht: Deine Mutter fällt aus’m Fenster oder so.«

    »Meinetwegen kann meine Mutter ruhig aus’m Fenster fliegen.«

    »Dann eben deine Oma. Und das musst du aufschreiben!«

    »Wieso aufschreiben?«

    »Damit es für immer und ewig festgeschrieben ist und du dich nicht mehr rausreden kannst.«

    Er holte Deutschheft und Bleistift aus seiner Schultasche, riss eine Seite raus und diktierte mir: »Ich, Karl Franke …«

    »Karl Peter Franke …«, verbesserte ich.

    »Du heißt echt auch Peter!?«, schrie er sofort los und fing an zu singen: »Peterle, mein kleines Peterle …«

    Ich verdrehte die Augen.

    »Also gut«, sagte er. »Ich, Karl Peter Franke, schwöre hiermit, dass ich Elke Feininger bis zum zweiten Dezember …«

    »Bis zum zwölften!«, verbesserte ich.

    »Wieso denn so lange, das ist ja noch zwei Wochen hin!«

    »Dafür brauch ich eben Zeit. Das ist ja ’ne große Verantwortung, die du mir da aufhalst. Daran muss ich mich erst mal gewöhnen.«

    »Dann bis zum zehnten«, sagte er. »Und nun schreib: … dass ich Elke Feininger bis zum zehnten Dezember …«

    »bis - zum - zehn - ten - De - zem - ber …«

    »… küsse!«

    »Sag mal, spinnst du!?«

    »Kleiner Scherz … – anspreche … hast du’s?«

    Ich nickte.

    »Sonst hat meine Oma ei - nen - töd - li - chen - Unfall!«

    »Glaubst du das eigentlich selbst, was du da diktierst?«

    »Wichtig ist, was du glaubst.«

    »Das ist doch der reine Schwachsinn!«

    »Nun schreib schon auf. Den Zettel steckst du dann in die Hosentasche, und wenn du einmal pro Tag auf diesen ›Schwachsinn‹ stößt, wirst du schon sehen.«

    Heute ist der Zehnte!

    Den ganzen Tag wechselt mein Feingefühl mit Angst, so einer Angst, wie wenn man vor einer Prüfung nicht gelernt hat. Ich weiß wirklich nicht, was passieren wird, wenn sie endlich, endlich auftaucht. Was sage ich nur zu ihr? Und wenn mir die Worte fehlen oder die Stimme wegbleibt?

    Ich habe schon mal ganz dicht vor ihr gestanden. Ich kuckte damals gerade die Kinobilder im »Knopf’s Lichtspielhaus«: »Des Königs Admiral«, mit Gregory Peck, ab sechzehn. Sie kam um die Ecke gefegt und zack! standen wir uns direkt gegenüber. Ich brachte vor Schreck keinen Ton raus. Dabei hatte ich die Vorschau gesehen und echt Ahnung von dem Film.

    Oh Gott, wenn mir das heute passiert, kann es dazu führen, dass ich meine Oma auf dem Gewissen habe. Ich glaube zwar nicht daran, aber es beschäftigt mich. Dafür sorgt schon dieser Scheißzettel. Und wenn auch nur eine Wahrscheinlichkeit von null Komma null null eins Prozent besteht, so will ich diesen Schwachsinn doch lieber abbiegen – sicher ist sicher, ob nun mit oder ohne Schwur.

    Es wird schon langsam dunkel.

    Wir sind zu viert: Fiete, Teufelauch, Rembrandt und ich. Wir bauen einen Schneemann. Der Schnee backt prima.

    Die Straßen sind jetzt heller als der Himmel. Es riecht nach Schneematsch und Tauwasser. Ich recke das Gesicht in den Himmel und versuche, die Schneeflocken mit der Zunge aufzufangen. Ich bin nicht bei der Sache.

    »Nun fass mal mit an!«, schimpft Fiete.

    Wir wuchten den Kopf auf die untere Kugel und klatschen Schnee zwischen die beiden riesigen Bälle.

    »Teufel auch!«, sagt Teufelauch plötzlich, »du kannst ihr ja auch ’n Brief schreiben. Den muss sie nur heute noch lesen.«

    »Schreiben geht auch?«, hake ich sofort nach.

    »Na klar! Schreiben zählt sogar mehr als Anschnacken. Das ist wie mit deiner Oma. Es steht dann für alle Zeiten fest, und du kannst nicht mehr abstreiten, was du mal gesagt hast.«

    Ich hetze sofort nach Hause und besorge was zum Schreiben.

    »Aber wie … wie schaff ich’s …«, stoße ich atemlos hervor, als ich zurückkomme, »dass sie’s heute … noch liest?«

    Teufelauch streicht sich mit der nassen Hand über seine Meckifrisur. Das tut er immer, wenn er nachdenkt. Es ist fast so, als bürste er sich die guten Ideen aus dem Stoppelhaar. »Schreib du erst mal deinen Brief«, sagt er, »und dann sehen wir weiter.«

    Wir machen in unserem Treppenhaus Licht an, und ich setze mich schräg auf die unterste Stufe. Auf der zweiten streiche ich den Zettel glatt.

    Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. »Liebe Elke …«, fang ich erst mal an.

    Fiete kuckt mir über die Schulter. »Liebste!«, sagt er, »du musst ›Liebste Elke‹ schreiben. ›Liebe‹ schreibt doch jeder, schreib ich sogar an meine Schwester, die blöde Kuh!«

    »Ich weiß nicht …«

    »Natürlich weißt du’s, JEDER weiß das!«

    »So was kann man doch nicht einfach schreiben …«

    »Das MUSS man sogar: Die ist doch keine Verwandte von dir, die ist eine … eine … nun sagt ihr doch auch mal was!«, fährt er die beiden anderen an.

    »Eine, nach der du verrückt bist«, reagiert Rembrandt prompt.

    Wir wundern uns ein bisschen, weil Rembrandt sonst nie das Maul aufkriegt. Er ist ein rothaariger, schmächtiger Typ, der am Rande mitläuft, weil er nix Besseres vorhat und allein zu Hause wäre. Seine Eltern haben die Pantry auf einem Fährdampfer und sind den ganzen Tag unterwegs.

    Wie sich das schon anhört: »Eine, nach der du verrückt bist …« Ich weiß nun überhaupt nicht mehr, was ich davon halten soll. »Das ist doch alles komisch genug«, sage ich, »das muss man doch nicht auch noch aufschreiben.«

    Wie zur Bestätigung geht das Licht aus.

    Teufelauch, der im Treppenhaus rumhampelt, macht es wieder an. Fiete nimmt den Zettel von der Stufe, knickt den oberen Rand in beide Richtungen und reißt geschickt die Anrede ab. »Jetzt noch mal«, befiehlt er, und es ist, als wenn er mir die Hand führt: »Liebste! Liebste Elke!«

    »Wer schreibt, übertreibt!«, sagt Rembrandt plötzlich. Das ist einer unserer Sprüche, und ich wundere mich wieder über ihn. Aber Teufelauch sagt: »Manchmal muss man übertreiben, um dem Leben eine Liebe vorzuschreiben!«

    »Richtig!«, Fiete lacht aufmunternd. »Und nun weiter im Text!«

    Ich starre auf das Papier. Es ist so gnadenlos leer wie mein Kopf. Selbst die Anrede ist nicht von mir und bietet keine Anregung. »Und wenn sie gerade jetzt draußen aufkreuzt?«, wende ich schnell ein.

    »Die kreuzt bestimmt nicht mehr auf«, sagt Teufelauch. »Im Dunkeln darf die doch gar nicht auf die Straße.«

    Er sagt immer DIE. Bestimmt mag er sie nicht. Keiner von meinen Freunden mag sie besonders, bis auf Rembrandt vielleicht. Der malt manchmal ihr Profil für mich mit einem Backsteinsplitter auf eine Gehwegplatte. Das kostet mich ein Zigarettenbild. Er ist der beste Zeichner in der Klasse und heißt eigentlich Rudi, Rudi Beckmann.

    Ich seufze gequält und überlege laut: »Ich glaube, ich möchte doch lieber mit ihr reden.«

    »Gut«, sagt Fiete, und ich starre ihn überrascht an. »Dann machst du mit ihr jetzt schriftlich ein Treffen aus.«

    Schließlich sind Fiete und Teufelauch einigermaßen zufrieden. Rembrandt hält sich da raus. Und was mich betrifft: Ich weiß nicht so genau.

    Auf meinem Zettel steht:

    »Liebste Elke! Ich muss dich unbedingt sprechen. Ich erwarte dich übermorgen um 15 Uhr im Schauermannspark.« (Ich habe auf übermorgen bestanden, damit ich mich noch einen Tag erholen kann.) Dann kommt meine Unterschrift und darunter »Karl Peter Franke« in Druckbuchstaben. Teufelauch hat auf meinen vollen Namen bestanden: »… denn mit drei Namen«, hat er gesagt, »hast du die dreifache Chance.«

    Danach klettern wir über den Zaun auf den Kirchhof. Ich habe hier oft schon gestanden und zu ihrem Küchenfenster im zweiten Stock raufgestarrt. Heute Abend ist es sogar erleuchtet.

    Es dauert eine Weile, bis Fiete, Rembrandt und ich kapieren, was sich Teufelauch ausgedacht hat, damit sie heute noch meinen Brief bekommt.

    Ich brauche einen mittelgroßen, runden Stein. Den mache ich im Schnee sauber und trockne ihn an meiner Jacke ab. Dann knülle ich meinen Zettel um den Stein – »Warte!«, mischt sich Teufelauch ein: »Mit der Schrift nach innen, damit die nicht verläuft – ist doch klar, wa?«

    Danach backe ich von außen Schnee drumrum und mache einen astreinen, fetten Schneeball daraus.

    Fiete und Rembrandt drücken und kneten jeder an einem »normalen« Schneeball herum.

    »Wer von euch wirft den ersten?«, fragt Teufelauch die beiden.

    »Ich!«, sagt Fiete energisch, und Rembrandt pfeffert seinen Schneeball ärgerlich in die Büsche.

    »Waaarte!«, ruft Teufelauch, »du bist doch Ersatzwerfer!«

    Rembrandt atmet laut aus, wischt sich neuen Schnee vom Boden und schimpft beim Kneten: »Warum sagst du das nicht gleich!«

    »Alles klar?«, fragt Teufelauch nun. »Bei drei.«

    Fiete geht in Position.

    »Eins, zwei …«

    Fast zeitgleich mit »drei« hören wir Fietes Schneeball mit sattem Platschen auf die erleuchtete Scheibe treffen. Ich steh mit erhobenem Arm in Wurfbereitschaft. In dem Moment, in dem das Fenster auffliegt, ist auch mein Ball in der Luft.

    Scheiße! Es ist Elkes Vater, der wütend in die Nacht hinausstarrt. Haarscharf saust mein Schneeball an seinem Kopf vorbei und landet klirrend irgendwo in der Küche.

    Wir tauchen unter den Büschen weg und wälzen uns, die Luft anhaltend und vor Begeisterung fast platzend, im Schnee.

    Es ist verrückt, aber ausgerechnet heute treffen wir keinen von unseren Konsorten auf der Straße. Also müssen wir es uns selbst erzählen, immer wieder: »Genau wie im Film!«, lacht Fiete, und Teufelauch brüllt: »Indianerland!«

    Ich deute den Einfallswinkel, den der Schneeball genommen hat, mit der flachen Hand an. »Bssssssssscht!!«, mache ich und lasse ihn wie eine Rakete in der Küche einschlagen.

    »Und dann … und dann …«, jubelt Rembrandt, und es fällt ihm schwer, vor Lachen die Worte zu finden. »Habt ihr … das auch gehört?! Es war … es war: BOOM und KLIRR!« So haben wir ihn noch nie erlebt! »Es war KAWUMM! wie eine Explosion … eine Explosion im Suppentopf!« Wir schütteln uns aus vor Lachen und schlagen uns gegenseitig vor die Brust. »Jaaahaha! Ich sag’s euch … denen ist unser … unsere Eierschneegranate …« – brüllt Teufelauch, und das Tolle daran ist, dass wir uns das, was tatsächlich in der Küche passiert war, ausmalen müssen – »in die … in die Bohnensuppe geflogen und die … die ist echt hochgegangen … und die Bohnen … die Bohnen kleben jetzt … kleben bei denen jetzt … überall in der Bude rum. Ahaa, ahaaa, ahaaaa!«

    Auch das Gesicht von Elkes Vater malen wir uns aus, ja wir machen es uns sogar gegenseitig vor: Bald lässt ihn die heranrasende Eierschneegranate in der Schockstarre zum Schielauge werden, bald zieht sie ihm den Scheitel hinter der Stirnglatze nach, und bald streift sie sein rechtes Blumenkohlohr (oder war es das linke?) und lässt es ratternd vibrieren wie in einem Zeichentrickfilm.

    Unübertroffen aber ist das »Elkes-Vadder-Gesicht« von Teufelauch. Es wird in die Geschichte eingehen, unsere Geschichte. An zahllosen Kneipenabenden wird es für Stimmung sorgen. Immer wieder wird es heißen: »Nun mach schon! Einmal noch, ein allerletztes Mal – bidde! Ich geb für dein Elkes-Vadder-Gesicht auch einen aus, ehrlich!«

    Teufelauch kann echt die besten Ideen und die irresten Gesichter haben!

    Erst als ich im Bett liege, erinnere ich mich wieder daran, wofür wir das alles veranstaltet haben. Mir wird klar, dass SIE meinen Zettel bereits gelesen haben muss, dass ich also übermorgen mit ihr sprechen werde.

    Ich bete selten, aber an diesem Abend bedanke ich mich beim lieben Gott dafür, dass er alles so gut und so punktgenau gelenkt hat, besonders meinen Schneeball.

    Mein Schlaf ist unruhig, ich sause in einer Raumkapsel aus Feingefühl, Puderzucker und Kleinmut immer wieder auf Elke los. Doch unser Abstand bleibt der gleiche.

    Ich habe mich zu früh bedankt.

    Als ich am nächsten Abend nach Hause komme – endlich haben wir unseren Schneegranatenangriff detailgetreu an die Konsorten weitergeben können –, da zieht mich Bertha, meine Großmutter, in die Küche rein und macht hinter mir die Tür zu. Das tut sie immer dann, wenn meine Mutter, die in der Stube sitzt und näht, irgendwas nicht mitkriegen soll.

    Sie zeigt auf den Küchentisch und sagt: »Kuck mal, was der noble Herr Feininger von gegenüber vorbeigebracht hat!«

    Da steht ein kaputter Lampenschirm. Er hat mehrere Sprünge, und am unteren Rand sind ein paar Milchglasstücke rausgebrochen.

    Beinahe muss ich losprusten, reiße mich aber zusammen.

    »Diese Lampe ist gestern Abend durch das offene Fenster von einem Schneeball zerschlagen worden, einem Schneeball mit Stein«, sagt sie ernst und beobachtet mich dabei.

    Ich versuche möglichst ahnungslos und ein wenig überrascht auszusehen.

    »Das Interessante daran ist, sagte der Herr Feininger – und ich nenne es das Bekloppteste, was ich jemals gehört habe –, dass der Werfer in diesem Schneeball mit Stein auch einen Zettel mit Namen hinterlassen hat!«

    Damit ist meine Tarnung überflüssig geworden.

    Sie sieht mich böse an. »Der Herr Feininger wird eine neue Lampe kaufen und dir die Rechnung um die Ohren hauen!«

    »War’s das?«, frage ich pampig und öffne die Tür. Ich bin enttäuscht, wie wenig Achtung und Anerkennung ein zielgenauer Schneeball bei diesen … diesen Spießern hinterlässt.

    »Noch nicht ganz«, sagt sie und versucht ihr böses Gesicht zu erhalten. »Denn das war erst der Anfang. Bis hierhin hat der Herr Feininger ja eigentlich ganz normal reagiert …«

    »Normal?«, frage ich, »findest du das normal?«

    »Allerdings!«, betont sie, »denn es ist das Gegenteil von dem, was jetzt kommt: Plötzlich hat der noble Herr Feininger nämlich seine Noblesse verloren.«

    Ich mache die Tür leise wieder zu, denn ich ahne schon, worauf das hinausläuft. Und das muss meine Mutter nun wirklich nicht mitkriegen.

    »Er verbietet dir ein für alle Mal, seiner Elke zu nahe zu treten! Sollte er mitbekommen, dass du sie von Weitem anglotzt, ihr näher als auf fünfzig Meter kommst oder sie sogar ansprichst, dann wird er dir eigenhändig – und das hat er wörtlich rumgebrüllt – den Arsch versohlen, und ihr auch!«

    Jetzt werde ich echt wütend. »Der hat sie doch nicht mehr alle! Ich bin ein … ein … freier Mensch und Bürger! Und ich kann reden, mit wem ich will und was ich will!« Im selben Moment schießt mir durch den Kopf: »Dann tu es doch endlich, du Feigling!«

    Bertha kann nun ein winziges Grinsen nicht mehr aus ihrem bösen Gesicht verbannen. »Väter«, sagt sie, »sind mit ihren Töchtern immer etwas komisch. Das muss man einfach wissen. Die erinnern sich plötzlich, wie sie selber mal waren, und das wollen sie ihren Töchtern nicht zumuten.«

    »Und DU!?«, frage ich gereizt. »Was hast du zu ihm gesagt?« Sauer bin ich eigentlich nur auf mich.

    »Wörtlich oder so ungefähr?«

    »Wörtlich!«

    »Warte …«, sie grinst jetzt offiziell. »Ich hab wörtlich zu ihm gesagt: ›So ist das nun mal, wenn die Gören zu poussieren anfangen. Wie war denn das bei Ihnen, als Sie noch so jung waren?‹«

    »Und er? Was hat der noble Herr Feininger gesagt?«

    »›Mag schon sein‹, hat er gesagt, ›aber bei meiner Elke ist das was anderes.‹ Dann ist er abgezittert.«

    »Na toll!« Auch ich muss jetzt machen, dass ich wegkomme. Ich spüre, wie sich der Kloß, den ich im Hals habe, langsam löst.

    »Warte!«, sagt sie wieder, kommt rangeschlurft und verstrubbelt mir die Haare. Dabei weiß sie genau, dass ich das schon lange nicht mehr leiden kann! »Komische Väter hat’s immer schon gegeben. Trotzdem sind Jungs und Deerns zusammengekommen. Väter wie der haben doch keine Ahnung vom Leben, höchstens vom Geldverdienen. Deshalb sind die auch den lieben langen Tag auf Achse … verstehst du?«

    Nachdem ich das von Elkes Vadders Besuch Teufelauch erzählt habe, will der gleich wissen, ob ich heute trotzdem um drei in den Schauermannspark gehen werde, um SIE zu treffen.

    »Ich weiß noch nicht.«

    »Könnte ja auch ihr Vadder da auf dich warten …«

    »Eben …«

    »Wie der schon rumläuft: als sei er was Besseres!«

    »Genau!«

    »So einer hat doch Geld genug, der wird sich wohl noch mal ’ne neue Küchenlampe leisten können.«

    »Was meinst du, was so ’ne Scheißlampe kostet?«

    »Zwanzig?«

    »Oh Mann, ich hab gerade mal fünf achtzig.«

    »Da kommen ja schwere Zeiten auf dich zu.«

    »Das kannst du laut sagen.«

    »Allein: ›Bei meiner Elke ist das was anderes‹, wenn ich das schon hör: MEINE Elke! Das Zeitalter der Leibeigenschaft ist doch wohl vorbei, oder?«

    »Genau!«

    »Der ist doch irgendwie daneben, der gehört hier doch gar nicht her, findest du nicht auch?«

    »Du sagst es.«

    »Weißt du was? Den müssen wir rausschmeißen!« Schon streicht sich Teufelauch wieder mit der flachen Hand gedankenschwanger über die strubbeligen Haare. Deshalb ist ein zweiter Spitzname auch: ›der Stratege mit dem Raspel‹. Normalerweise muss man viel Geduld aufbringen, bis er seine Trickkiste auspackt. Heute ist das was anderes. »Und ich weiß auch schon, wie wir das hinkriegen: Indianerland! Onkel, schieß mal die Pille rüber«

    Oh Mann! Das ist ein ganz linker Trick. Allein der Gedanke daran lässt meine Laune besser werden. Ich habe aber auch ein mulmiges Gefühl dabei und gebe zu bedenken, dass ein Schlipsträger wie der bestimmt nicht so leicht einen Ball treten wird.

    »Das weiß man nie«, sagt Teufelauch. »Der war doch auch mal jung. Die Aufforderung muss ganz locker rüberkommen, dann nimmt er auch wie von selbst Anlauf.«

    Und schon beschreibt Teufelauch, strategisch genau, wie und wo die Onkel-schieß-mal-die-Pille-rüber-Methode funktionieren kann:

    »Der Feininger macht als Bürohengst ja keinen Schichtdienst bei Blohm. Er latscht jeden Tag durch den Elbtunnel rüber und kommt abends, kurz nach sechs, die Hafenstraße wieder rauf.

    Wenn wir ihn kommen sehen, muss einer von uns den Ball ans Ende der Straße legen und über den Zaun auf dem Kirchhof verschwinden.

    Wir anderen stehen unten, am Ende vom Pinnasberg, etwas verteilt, so als bolzten wir gerade auf ein Tor. Fiete pfeift auf zwei Fingern – er kann das am besten –, und ein anderer ruft … na, was ruft der wohl?«

    »He, Onkel, schieß doch mal die Pille her!«

    Teufelauch lacht los, ergreift meine Arme, und schon legen wir einen kleinen Freudentanz hin.

    Der eigentliche Trick besteht darin, dass es sich bei der Pille um einen Gummiball handelt, der von unten aufgeschlitzt und mit einem fetten Trümmerbrocken gefüllt worden ist.

    »He, Onkel!«, singen wir, »schieß doch bidde, bidde mal die Pille rüber-über-und-über!«

    »Schade!«, sage ich atemlos, »leider … leider können wir das nicht … nicht riskieren, weil der sofort ahnt, wer dahintersteckt. Und schon steht er wieder bei uns auf der Matte.«

    »In dem Moment, in dem der Anlauf nimmt«, sagt Teufelauch, »machen wir natürlich die Biege. Und du … du darfst dich schon mal gar nicht blicken lassen!« Dabei kuckt er mich grinsend an. »Ich bezweifle sehr, dass der bei euch im dritten Stock auf der Matte stehen wird …«

    Wir müssen wieder losprusten und legen gleich noch mal eine Tanzrunde hin.

    Es geht ja nicht allein darum, dass sich die Kerle, die einen solchen Ball treten, fürchterlich auf die Schnauze legen, es kommt auch auf das Schuhzeug an, das die anhaben. Und Elkes Vadder, mit seinen blitzblanken Bürotretern, der bricht sich dabei bestimmt den Fuß.

    Es kommt dann aber doch ganz anders.

    Und eigentlich bin ich ganz froh darüber, denn das ist ja echt ein gemeiner Trick. Es ist auch schon mal jemand, der einen solchen Ball getreten hat, direkt mit dem Krankenwagen ins Hafenkrankenhaus gebracht worden.

    Kurz vor drei schleiche ich am Schauermannspark vorbei und stelle mich drüben, auf der anderen Straßenseite, im Rücken der Dreißigmeterbank mit Blick auf die Elbe, in einen Hausflur.

    Das Warten fällt mir schwer, da es von feinfühliger Bangigkeit vor IHR und von Heidenangst vor ihrem Vater bestimmt wird.

    Plötzlich aber wetzt jemand hinter der endlos langen Bank vorbei, mit dem ich gar nicht gerechnet habe: ihr lütter Bruder!

    Ich stürze über die Straße und bekomme ihn am Parkende gerade noch am Schlafittchen zu fassen. »Hee!«, rufe ich erleichtert, »du willst doch sicher zu mir!«

    Er zappelt mit allen vieren und brüllt: »Lass mich los! Lass los, du Arsch!«

    Als ich ihn tatsächlich loslasse, wirft er mir einen Briefumschlag vor die Füße und jammert: »Wenn Papa das merkt, krieg ich auch Stubenarrest!« Und weg ist er.

    Ich hebe den Umschlag auf.

    Darauf steht in der schönsten Schönschrift dieser Welt: »An Karl Peter Franke«!

    Das ist der Beginn einer Brieffreundschaft, nein, einer Briefleidenschaft, die über zehn Jahre anhalten wird.

    »All you need is love«

    Ab sofort findet mein Leben auf zwei Ebenen statt: auf dem Boden des alltäglichen Durchwurstelns und auf dem Papier, das bereits beim Beschreiben mit mir auf und davon segelt.

    Ich antworte der Feinen am selben Tag und schicke meinen ersten Brief an die Anschrift einer Freundin, die sie mir mitgeteilt hat.

    Ihr Vater bleibt also von Anfang an außen vor. Ich glaube sogar, dass er durch das Verbot für mich, nicht näher als fünfzig Meter an sie ranzukommen, diesen Schreibkontakt erst ausgelöst hat. Trotzdem wird er in den zwei-, dreihundert Briefen, die in den folgenden Jahren zwischen uns hin- und hergehen, nicht ein einziges Mal erwähnt. Was ist härter: über einen mit einem Trümmerbrocken gefüllten Ball zu fliegen oder aus dem Leben seiner Tochter?

    Doch auch meine Mutter verbietet mir den Briefverkehr.

    Dafür sei ich noch zu jung, sagt sie, und außerdem sei es viel zu gefährlich, eine Freundin zu haben. Welche Gefahr allerdings von einer »Brieffreundin« ausgeht, darüber schweigt sie sich aus.

    Bertha, meine Großmutter, ist es, die mir mal wieder aus der Patsche hilft: Die Feine steckt die Briefe an mich in einen zweiten Umschlag und adressiert den an meine Oma, solange ich noch zu Hause lebe.

    Irgendwann zieht die Feine mit ihren Eltern in einen anderen Stadtteil (vielleicht hat ihr Vater ja eingesehen, dass er hier nicht herpasst). Von da an ist unser Schriftverkehr nicht nur die Folge der Verbote, er bekommt durch die Entfernung mehr Sinn. Ihre Adresse ist jetzt ein Postfach. Und noch später hat sie eine eigene Anschrift.

    »Liebste Elke …«, eröffne ich jede meiner Nachrichten, denn es sind ausschließlich Liebesbriefe, die ich ihr schreibe. Ja, ich liebe sie auf diesem weißen, unschuldigen Papier über alles, nur dass das mit meinem alltäglichen Leben nichts zu tun hat.

    Ich habe sogar zeitweise eine andere, eine »vorliegende« Freundin: Anna. Aber das ist etwas anderes. So wie Anna von der anderen Seite der Elbe kommt, also eine sogenannte Jenseitige ist, gehört auch meine Verbindung zu ihr auf die andere Seite meines Lebens und hat mit meinem Liebesleben auf dem Papier überhaupt nichts zu tun. Wenn ich in meiner Raumkapsel aus Feingefühl und Puderzucker vor einem Briefbogen sitze, bin ich in einer ganz anderen Welt, als wenn ich mit dem Dampfer nach Altenwerder rüberfahre und mit Anna durch die Wiesen streife. Infolgedessen wissen Anna und die Feine auch nichts voneinander.

    Aber von der Feinen weiß ich ja auch nur das, was auf ihrem Papier steht, hellblaues Papier mit Wölkchen, schäfchenweiß und geduldig.

    Als Anna mir das Herz bricht, weil sie Schluss mit mir macht, ist es das Herz von der anderen Seite, mein Gebrauchsherz. Die Feine würde mir das niemals antun!

    Das ist der endgültige Beweis für mich, dass die Liebe auf dem Papier viel beständiger und schmerzloser ist als die im richtigen Leben. Erstere wird allein durch den Rand des Briefbogens und den des »Feingefühls« bestimmt.

    Manchmal aber macht mich diese Einschränkung wütend. Dann kritzele ich die Blätter so voll, bis es keinen Rand, kein Feingefühl für »Sitte und Moral« mehr gibt, sondern die »verkokelten« Tintenspuren von einer unbegrenzten Liebe, einem unerschöpflichen Begehren um meine Worte tanzen wie Nachtfalter um das Licht.

    Solche Briefe haben etwas Dreifach-Verbotenes: von ihrem Vater, von meiner Mutter und vom Inhalt verboten, ja, und ich bekomme eine Gänsehaut, so verboten fühlt es sich an, was ich tue. Ich halte diese Schreiben für einen kleinen Moment in der Schwebe, bevor ich sie in den Briefkasten gleiten lasse, mit pochendem Herzen und jenem zwiespältigen Gedanken: »Egal … wahrscheinlich sehe ich sie ja doch nie wieder.«

    Der Tag, an dem von ihr eine Nachricht eintrifft, ist ein Festtag für mich.

    Manchmal macht sich meine Großmutter einen Spaß und flüstert mir nach der Schule zu: »Nix dabei …«

    Doch nachdem sie mich eine Zeit lang beobachtet hat, greift sie wie zufällig in ihre Schürzentasche und murmelt: »Was’n das? Wo hab ich nur wieder meinen Kopp? Da steckt doch tatsächlich noch einer in meiner Schürze.«

    Ich entferne den Umschlag an meine Oma, knicke den Brief an mich in der Mitte, stopfe ihn in meine Hosentasche und trage ihn so lange mit mir herum, bis ich es nicht mehr aushalte. Dann verschlinge ich Elkes Worte.

    Oft bin ich enttäuscht: Ihre Schilderungen kreisen zu sehr um den profanen Alltag, und ich vermisse eine Reaktion auf meine Liebestollheiten.

    Wenn sie aber so was schreibt wie: »Ich muss dauernd an dich denken«, oder: »Deine schräge Ausdrucksweise verschlägt mir den Atem«, werfe ich ihren Brief in die Luft, fange eine von ihrer Hand beschriebene Seite wieder auf und zerknülle, zerkaue und fresse sie, ja ich fresse buchstäblich aus ihrer Hand – welch eine aufregende Vorstellung.

    Der überwiegende Schriftverkehr fällt in meine Seefahrtszeit.

    Dabei kann es sein, dass in den fünf, sechs Seiten eines Luftpostbriefes, den ich ihr von der Elfenbeinküste sende, nur ein einziges Wort auf das Land verweist, in dem ich mich gerade aufhalte: Ich vergleiche die Farbe der feinen Haut an der Innenseite ihrer Schenkel (die ich ja nie kennengelernt habe) mit Elfenbein.

    Bei ihr ist das anders: Sie lässt mich an ihrem Leben teilhaben, an ihrem Werdegang. Sie freut sich zwar »füchsisch« – ja, so nennt sie es – über meine Avancen, versichert mir auch, dass es für sie nichts Aufregenderes gebe, als einen meiner Briefe zu öffnen, aber sie geht kaum auf meine Anzüglichkeiten ein.

    Manchmal legt sie ein Foto mit dazu, damit ich sie – wie sie schreibt – überhaupt erkennen werde, wenn wir uns endlich, endlich einmal wiedersehen. Auf die Fotos schreibt sie hinten: »Ich mit Bruder« oder: »Ich an der Ostsee mit Tante Mildred und Onkel Paul«.

    Auch da gibt es einen Unterschied: Auf den zwei Fotos, die ich ihr in all den Jahren von mir zukommen lasse, sind im Hintergrund Schiffe zu sehen. Namen liefere ich nicht.

    Je länger wir uns schreiben, umso häufiger kommt sie auf ein Wiedersehen zu sprechen und umso größer wird meine Angst davor. Ich frage mich, ob sie wohl auch manchmal daran denken muss, dass wir nie, niemals miteinander gesprochen haben. Meine kindliche Angst, dass mir die Stimme versagen oder die Worte fehlen könnten, kommt wieder hoch. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken, sie gar nicht wiedersehen zu wollen. Ich weiß ja genau – und das ist eine Erkenntnis, die mir Anna hinterlassen hat –, dass es viel einfacher ist, eine ferne Angebetete zu haben, als eine hautnahe Geliebte.

    Es gibt aber auch Momente, in denen ich mich nach ihr verzehre und mir schwöre, ihr vor dem nächsten Heimatflug ein Telegramm zu schicken: »Ankunft dann und dann, freue mich auf Dich, Dein Papiertiger.«

    Ich tue es nie.

    Wenn ich in Hamburg ankomme, holt mich selten jemand vom Flughafen oder vom Bahnhof ab. Meine Konsorten sind bei der Bundeswehr oder beruflich in der Weltgeschichte unterwegs, und meiner Mutter habe ich die Ankunftszeit vorenthalten.

    Ich belächle die Menschen, die sich jauchzend oder weinend in die Arme fallen, werfe mir den Seesack auf die Schulter und fühle mich als der einsame Seewolf, der mal wieder in seinem alten Revier vorbeischaut. Dabei lobe ich mir die Entscheidungsfreiheit, auf- und untertauchen zu können, wo immer ich will.

    Allein meine Großmutter Bertha vermisse ich bei der Ankunft: ihr sorgend suchendes Gesicht, und dann dieses aufklarende Lachen darin! Ja, ich hätte sie zu gerne noch einmal unter den Wartenden ausgemacht. Doch dafür ist es zu spät: Sie hat während meines letzten Seetörns das Zeitliche gesegnet.

    Die telegrafische Nachricht erreichte mich auf der Rückreise von Westafrika, Höhe Monrovia. Sie bestand aus drei Worten: »Oma eingeschlafen, Darmverschluss«!

    Das wirkte auf mich wie ein Wachrütteln und ein Stoß vor den Kopf.

    Sofort hatte ich eine andere Theorie. Meines Erachtens ist meine Großmutter an der Folge jener Hassliebe gestorben, die sie und meine Mutter ein Leben lang verbunden (mein Vater nannte das: »Ein Kopp und ein Arsch!«) und entzweit hat – gegen Ende überwiegend entzweit. Das hat meine Oma einfach nicht mehr verdauen können.

    Jetzt liegt sie in Ohlsdorf neben meinem Vater, was irgendwie passt, denn wenn meine Mutter schlecht auf ihn zu sprechen war, hat sich meine Oma meistens vor ihn gestellt. Dann fauchte meine Mutter: »Warum hast DU ihn eigentlich nicht geheiratet?«

    »Unsere Beziehung ist rein seelischer Natur«, entgegnete meine Oma dann. »Das kriegt man in der Ehe nicht so leicht hin, das sieht man ja an dir.«

    Ohlsdorf passt insofern, denke ich, weil zwei Häuflein Asche durch die Urnen hindurch – wenn überhaupt – nur in »rein seelischer Natur« Kontakt miteinander aufnehmen können.

    Ich höre meinen Vater dann Hans Albers nachmachen: »Das letzte Hemd hat keine Taschen …« Darüber konnte meine Oma immer lachen, meine Mutter kaum.

    Ich habe meine Großmutter das letzte Mal kurz vor dem Auslaufen gesehen.

    Das ist so eine Geschichte, mit der ich mich an Bord als jener Assi (kurz für Ingenieur-Assistent) hervorgehoben habe, »der in Hamburg fast achteraus gesegelt ist«.

    Es ist jedes Mal ein Dilemma, wenn der Seemann sein Schiff verpasst, für beide Seiten. Denn laut Schiffsbesatzungsverordnung darf das Schiff eigentlich nur mit vollzähliger Mannschaft auslaufen. Trotzdem passiert es immer wieder, dass Hein Seemann nicht rechtzeitig an Bord ist, weil er – und da schwingt durchaus ein gewisses Verständnis mit – »im Suff die Orientierung verloren hat« oder »nicht rechtzeitig von der Mutter runtergekommen ist«.

    Bei mir hatte das einen anderen Grund, den man nicht weniger grinsend kolportierte: »wegen seiner fußkranken Oma!«

    Und wer Näheres erfahren wollte, bekam zu hören, dass der Käpt’n nur deshalb auf mich gewartet hätte, weil ich dem Hafenlotsen noch Geld schuldete.

    Unsere Inspektion bei Blohm & Voss ist abgeschlossen. Ich stehe mit einigen anderen von der Mannschaft an Deck. Wir warten auf den Lotsen und schnuppern noch ein bisschen Landluft, wenn man den nach verbrannten Schweißelektroden und feuchter Rostschutzfarbe stinkenden Werftdunst überhaupt so nennen darf.

    Da kommt quer über den Platz eine alte Frau geschlurft, die offensichtlich schlecht zu Fuß ist. Als sie auf den Kaianleger abbiegt, an dem unser Schiff festgemacht hat, sehen wir von oben, dass sie sich eher schleppt, als dass sie geht.

    »Da kommt endlich der Lotse«, macht einer einen Witz.

    Mir aber gerinnt das Blut: Der vermeintliche Lotse ist Bertha, meine Großmutter! Sie ist von unserer Wohnung die drei Etagen runtergestiegen, quer über den Paulsplatz, die Antonistraße durch und die ganze Hafenstraße runtergelatscht. Im Fahrkorb des Elbtunnels hat sie sich für fünf Minuten ausgeruht, ist fünfundzwanzig Meter tiefer ausgestiegen und durch die Röhre marschiert. Sie hat die Tierreliefs an den Wänden gezählt, alle elf, zwölf Schritte eines: Stör, Seestern, Hecht, Krabbe, Knurrhahn, Aale, Schollen, Ratten in einem Stiefel … Irgendwann ist das Schild »Tunnelmitte« aufgetaucht.

    Sie hat keine Pause gemacht und ist weitergestiefelt, denn sie weiß, mein Schiff wird bald auslaufen. Und sie muss mir etwas bringen, was ich zu Hause vergessen habe, etwas, von dem sie annimmt, dass ich

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