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Der schwarze Storch: Roman
Der schwarze Storch: Roman
Der schwarze Storch: Roman
eBook436 Seiten6 Stunden

Der schwarze Storch: Roman

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Über dieses E-Book

Ein Kindheitsroman von bezwingender poetischer Kraft.

Ein Jahr um 1900 in der damaligen deutschen Provinz Posen und ein kleines Mädchen, Katharina, etwa sechs Jahre alt, Tochter eines Gutsbesitzers. Dazu ein schwarzer ausgestopfter Storch, der unheilvoll über dem Esstisch der Familie schwebt. Katharina ist die Tochter des Gutsbesitzers und - ungewöhnlich genug - selbst die Erzählerin.
Ilse Molzahn leiht ihr eine bezaubernde und einfache Sprache, die vieles offen lassen muss, denn das Mädchen ist mit einer Erwachsenenwelt und Vorgängen konfrontiert, die es nicht verstehen und nicht immer benennen kann: die scharfe Trennung von Herrschaft und Gesinde, das archaisch ländliche Leben, aber auch Missbrauch, Schwangerschaft, Abhängigkeiten, Rohheit und Gewalt. Von den Eltern, der fromm-bigotten Mutter und dem draufgängerischen Vater, ist keine Erklärung zu erwarten. Einzig in dem Dienstmädchen Helene findet Katharina eine Vertrauensperson. Doch Helene ist plötzlich verschwunden, gestorben bei einem Abtreibungsversuch.
Der Autorin ist etwas Seltenes gelungen: In einer verblüffend authentischen, zeitlosen Sprache erfasst sie die Welt des Kindes und sein magisch-inniges Erleben der Natur.
Der Roman erschien erstmals 1936, eine zweite Auflage wurde von den Nazis wegen "Herabsetzung des deutschen Junkertums" verhindert. Die Neuausgabe wird von Thomas Ehrsam mit einem umfangreichen Nachwort zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte unter Berücksichtigung der Biografie der Autorin bereichert.
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum2. Mai 2022
ISBN9783835348158
Der schwarze Storch: Roman

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    Buchvorschau

    Der schwarze Storch - Ilse Molzahn

    Meine Mutter ist fromm

    Deutlich erinnere ich mich des Tages, als der schwarze Storch bei uns auftauchte.

    Eben war der Winter zu Ende. Die Luft war rauh. Meine Mutter hatte mir einen Mantel angezogen, aber er hing bereits am Zaun, während ich mich auf meinem Lieblingsplatz, dem Dunghaufen, der mit trockenem glänzendem Stroh zugedeckt war, lang ausgestreckt hatte und unverwandt in die Luft starrte.

    Es hieß, die Störche würden kommen.

    Kascha sagte es. Mein Vater blätterte in seinem Kalender. Ja, die Zeit der Störche war da!

    Kascha glaubt nicht an den Kalender, sie glaubt nur an Träume. Sie hatte einen Traum und im Traumbuch stand: Ankunft von Zugvögeln, Störchen, Staren oder Schwalben … Sie erzählte es sofort in der Küche: »Hört, die Störche kommen!«

    Die Mädchen kicherten, und meine Mutter wurde rot …

    Jeden Abend betet meine Mutter mit mir: »Ich bin klein, mein Herz ist rein!«

    Einmal fragte sie mich leise, ob ich nicht einen kleinen Bruder haben möchte.

    »O ja, dann hätte ich jemanden zum Spielen!«

    »Gut«, sagte sie, »dann bete weiter: Lieber Gott, schenke mir doch einen Bruder.«

    Gestern fragte ich meine Mutter: »Wann wird der liebe Gott den Bruder schicken?«

    »Die Störche werden ihn mitbringen.«

    »Werden sie ihn mitbringen, Mutter, oder ist es so, wie Helene sagt, daß sie ihn aus dem Teiche holen?« – –

    »Wenn sie hier sind, werden sie ihn aus dem Teiche holen.« Ich dachte nach.

    »Aber der Teich ist doch zugefroren?« – – –

    »Nun«, sagte meine Mutter, »es macht nichts. Die Störche werden ihn mit ihren langen Schnäbeln aufhacken.«

    »Oh«, fiel mir ein, »es ist ja ein Loch im Teich, Lamparski hat es aufgehackt, als er die Karpfen fing …«

    »Richtig!« sagte meine Mutter, »ich hatte es vergessen. Nun schlafe aber!« – – –

    Jetzt warte ich auf die Störche. Der Wind summt im Stroh. Ferne Rufe der Pflüger kommen von den Feldern, sonst ist die Luft still. Ich richte mich auf und schaue auf das Scheunendach. Es ist mit Stroh gedeckt, das der Wind an vielen Stellen zerrupft hat. Überall gibt es Löcher. Am First sehe ich ein großes, schwarzes Rad. Stacho hat es hinaufgetragen. Es ist noch wie neu und die Störche sollen darin ihr Nest anlegen, das alte hat der Sturm heruntergerissen und wer weiß wohin getragen.

    Viele Vögel kommen daher. Hoch und tief ziehen sie dahin, kleine und große. Ich kenne sie nicht und sie kennen mich nicht, fliegen weiter.

    Aber die Störche, die Glück bringen sollen, kenne ich.

    Sie waren lange fort. In Ägypten, sagt meine Mutter. Wenn sie wieder da sind, bauen sie ihr Nest und legen Eier. Dann kommen junge Störche. Auch junge Kühe kommen, junge Schafe, junge Pferde und junge Hühner. Immer, wenn der Winter vorbei ist, vermehrt sich alles. Einmal habe ich gesehen, wie ein Kalb ankam. Aber meine Mutter will nicht, daß ich das sehe …

    Wie lange sitze ich hier schon? Leise knistert das Stroh und sticht mich. Auch riecht es nicht besonders gut, aber das macht nichts. Hier oben ist es immer trocken und warm. Die Sonne wird schon rot und kühl. Weshalb sind die Störche noch nicht da? Ob das mit Kaschas Traum wahr ist? Ich kann das Traumbuch nicht lesen, denn ich gehe noch nicht zur Schule, obgleich es längst Zeit wäre. Kascha behauptet, sie könne lesen, aber niemand glaubt es.

    Wenn sie liest, legt sie ihren breiten Finger auf die Zeile, der rutscht so schnell davon, daß da kein Mensch mitkommen kann. Außerdem spricht sie falsch. Ich lerne es von ihr und soll mich deshalb nicht so viel in der Küche herumtreiben.

    Der Baum neben der Scheune ist eine Pappel. Einmal gab es ein Feuer mitten in der Nacht. Vielleicht angezündet, man weiß es nicht. Da brannte die alte Scheune ab und die Pappeln waren so verkohlt, daß man sie umhauen mußte. Diese eine ist übriggeblieben, Gott sei Dank, denn wir haben nur wenig Bäume in Olanowo.

    »Olanowo ist eine Sandbüchse«, sagt immer unser Besuch, oder auch, »in Olanowo sagen sich Wölfe und Füchse gute Nacht.«

    »Der ewige Sand und die Trockenheit werden uns hier noch zugrunde richten«, sagt meine Mutter, »so Gott nicht ein Einsehen hat und Regen schickt.«

    Ich mag Regen nicht. Ich muß dann in der Stube bleiben. Meine Mutter sitzt am Nähtisch vor dem Fenster und schneidet aus einem weißen Stück Stoff lauter kleine Hemdchen.

    »Für wen machst du das, Mutter?« Sofort rafft meine Mutter alles zusammen und versteckt es in der Schublade. Darauf nimmt sie dann das Buch zur Hand. Es ist ein altes Buch mit schwarzem Deckel und goldenem Kreuz. Sie schlägt das Buch auf und macht ein frommes Gesicht. Lautlos bewegen sich ihre Lippen. Mit mir spricht sie kein Wort. Nur die große Wanduhr, die man Regulator nennt, tickt. Manchmal knackt sie, schabbert, rollt und dann schlägt sie. Das schallt durch das ganze Haus: Bam! Bam! Dann sieht meine Mutter auf, starrt auf die Uhr, schaut aus dem Fenster und macht ein Gesicht, als erwarte sie etwas Hübsches. Sie lächelt ein wenig. Ihre Backenknochen treten spitz hervor. »Freust du dich, Mutter? Auf was freust du dich?«

    O nein. Ihr Gesicht ist schon wieder ernst und feierlich … Ein großer Vogel sitzt mit einem Male auf der Pappel. Ich habe geträumt und nicht gesehen, woher er kam. Er sitzt in dem steilen, kahlen Geäst und braucht viel Platz. Der Wind schaukelt ihn ein wenig, der ganze Baum schwankt.

    »Wer bist du?« fragte ich zitternd vor Freude und Aufregung über das Neue und Unbekannte, das mit einem Male in Olanowo eingezogen ist.

    Ist es ein Storch? Einer, der aus Versehen schwarz geraten ist? Nun, ganz gleich. Freude, Freude, daß er da ist und ich nicht mehr allein bin!

    Ich wage es. Ich steige auf den Baum. Ich will, ich möchte einmal seine Federn streicheln!

    Aber da steht bereits meine Mutter in der Haustür. So weit es auch ist, ich erkenne sie sofort. Ihr Gesicht ist klein und von einer Hand beschattet. Sie sucht mich. Ich rufe ihr zu: »Mutter, komm, komm schnell!«

    Ich stürze ihr entgegen. Ich ergreife ihre heiße Hand. Sie wehrt ab, sie mag mein ungestümes Wesen nicht. Nur langsam läßt sie sich vorwärts ziehen und geht so vorsichtig, als habe sie Angst über irgend etwas zu stolpern.

    Nun sind wir bei der Pappel.

    »Schau, Mutter, ein fremder Vogel, oder ist es ein Storch?«

    Meine Mutter zieht den Mantel fester um sich. Ihr ist immer kalt. Sie hebt den Kopf, ihre Wangen wölben sich ganz nach innen. Ihre schrägen, glänzenden Augen sind fast geschlossen.

    »Nein, das ist kein Storch«, sagt sie, wie mir scheint ein wenig enttäuscht. »Was das ist, weiß ich nicht, ich kenne so wenig Vögel. Wir werden Vater fragen. Komm, zieh deinen Mantel an, es wird kühl.«

    Gehorsam schlüpfe ich in den Mantel, den sie gleich am Zaun entdeckt hat. Dann geht sie. Ihr langer Rocksaum schleppt Stroh und Staub mit sich. Ich schaue ihr nach, bis sie ganz klein geworden ist. Dann sehe ich sie noch auf der Terrasse, und nun ist sie verschwunden.

    Wieder bin ich allein. Nun, ich kenne es nicht anders. Ich lehne mich gegen die Scheunenwand, die rauh ist. Unten sind unbehauene Feldsteine, die mich in den Rücken stoßen. Strohhalme, die ich vom Dunghaufen mitgebracht habe, kitzeln mich.

    Allmählich kommen sie alle vom Felde. Die Kühe, die Wagen, die Pferde. Knechte brüllen und knallen mit den Peitschen. Alles wird noch einmal munter. Die Frauen stolpern zum Melken und schelten mit den Kühen, die ihnen die Schwänze ins Gesicht schlagen. So ist es alle Tage. Am Brunnen lärmen sie wegen des Wassers. Jeder will zuerst seinen Eimer füllen.

    Und da ist auch der Vogt. Er schikaniert die Leute, sagt Kascha. Er hat gelbe Reithosen an. In der Mitte sitzt ein Stück Leder, das macht immer: rips, rips, wenn er geht. Er hat eine Peitsche in seinen langen Stiefeln stecken. Er schläft mit der Peitsche, sagen die Mägde. Ab und zu klopft er sich damit den Mist von den Absätzen. Manchmal sehe ich sie auch hoch in der Luft, auf irgend etwas hinabsausen. Aber von weitem sieht man nicht alles.

    Ich darf nicht allein aufs Feld gehen.

    »Im Westen«, sagt mein Vater, »hat man andere Methoden.« Da haben die Landarbeiter mehr Bildung. Das hier sind alles ›Polacken‹. Eine Peitsche sei da oft durchaus am Platz.

    »Wozu brauchst du die Peitsche, Vater?« frage ich, »wozu braucht der Vogt die Peitsche? Weshalb heißt es, daß er mit der Peitsche ins Bett geht?«

    Mein Vater will mir antworten, aber meine Mutter macht ein unglückliches Gesicht. So sagt er nur: »Frag nicht so viel!«

    Ich schaue den Weg hinab. Aber niemand kommt. Erst wenn es ganz dunkel ist, kommen sie. Dann gehen sie an dem großen Steinhaufen vorbei, den Resten der alten, abgebrannten Scheune, zu ihren Hütten. Die Wände sind aus Lehm, die Dächer aus Stroh. Manche Fenster sind mit Lumpen zugestopft. Der Weg dahin führt durch Sand und Lehm. Kaninchen haben sich Löcher gegraben. Am Tage, wenn die Kinder draußen sind, verstecken sich die Kaninchen. Aber sie werden doch gejagt und getötet. Ein schöner Sonntagsbraten für jedermann.

    Die Hütten heißen »das Dorf«. Dort wohnen unsere Zugeher. Sie arbeiten auf Deputat. Wir wohnen im »Schloß«. Aber es ist gar kein Schloß, sondern ein langgestreckter, flacher Bau, der wie eine Scheune aussieht.

    Zwei hohe Tannen stehen davor. Unten sind sie mächtig und breit, packen sich gegenseitig mit den Zweigen. Man weiß nicht, wo die eine anfängt und die andere aufhört. Nach oben zu werden sie schmal und spitz. Immer mehr rücken sie voneinander ab, je höher sie steigen. Zuletzt sind es nur noch zwei Spitzen, wie zwei Finger, die in den Himmel zeigen.

    Jetzt fegt der Wind um die Scheune. Strohhalme fliegen durch die Luft. Dann knallt eine Peitsche zweimal und dann ist es still.

    Etwas Großes, Schwarzes schwebt durch die Luft zu den Tannen. Es ist der fremde Vogel, der auf unserer Pappel ausruhte.

    Helene erschrickt

    Und am Abend sitzen wir unter der Hängelampe.

    Mein Vater läßt den Daumen tanzen und schiebt sein Soldatenkinn vor. Das heißt, er hat schlechte Laune. Schlechte Laune heißt, er hat Sorgen! Dann gibt es »etwas«, und ich fürchte mich vor ihm. Wenn er so aussieht, als wolle er gleich auseinanderspringen, möchte ich mich am liebsten unter dem Tisch verstecken. Dann hat er vergessen, daß ich mit ihm im Sattel saß, wir über Felder und Gräben preschten und uns die Erdklumpen um den Kopf flogen. Wenn wir in den Wind hineinritten, brannte der Atem meines Vaters wie Feuer auf meinem Gesicht. Ich hatte keine Angst und schrie, was ich schreien konnte: »Hallo! Juchhe! Juchhe! Hallo!!« Und mein Vater lachte, daß die Luft vor meinen Ohren zitterte und rauschte.

    Jetzt beachtet er mich nicht.

    Die Suppe fließt ihm über den Löffel. Seine Augen starren auf das Brot, als würde es unter seinen Blicken kleiner und kleiner.

    Meine Mutter streicht mir ein Butterbrot und schiebt mir den Teller Suppe hin. Sie sitzt ganz gerade und aufrecht, bewegt krümelnd ihre dünnen Finger. An einem blitzt ein kleiner Stern und glitzert, so oft sie die Hand rührt. Sie achtet darauf, daß ich keine Suppe verschütte. Habe ich einen Bissen Brot im Mund, so denkt sie gleich, ich will etwas erzählen, und legt den Zeigefinger auf die Lippen. Das heißt: mit vollem Munde spricht man nicht.

    Aber ich fürchte mich ja, den Mund aufzumachen.

    Jetzt hat mein Vater seine Suppe gegessen und wischt sich den Schnurrbart ab, streicht ihn nach oben, dreht die Spitzen zu feinen Enden und drückt sie fest. Ich lasse den letzten Bissen Brot unter den Tisch fallen. Meine Mutter schaut mich an, ich weiß, was das zu bedeuten hat, und falte die Hände.

    Ich soll beten, kann aber den Anfang nicht finden.

    Die Hängelampe scheint mir gelb ins Gesicht. Ich biege mich ein wenig nach hinten, gleich drückt mich die Stuhllehne wieder nach vorn.

    Meine Mutter sagt: »Bete!«

    Ich flechte Finger um Finger. Meine Stimme ist ganz laut:

    »Lieber Gott, für Speis’ und Trank

    nimm von Herzen unseren Dank!«

    Alle Teller klirren mit einem Male. Die Hängelampe zittert an ihren Bronzeketten. Die nackten Jungfrauen mit den Fischschwänzen, die um sie herumschweben, fangen leise an zu wippen. – Was ist los?

    Nun, mein Vater hat mit der Faust auf den Tisch geschlagen, mitten in das »Amen« hinein.

    Meine Mutter bleibt ruhig. Sie macht ein frommes, gottergebenes Gesicht und sitzt steif da. Mein Vater beginnt zu schreien. Sicher kann man es wieder in der Küche hören. Ich soll das alberne Beten sein lassen und meine Mutter möchte endlich um Geld nach Hause schreiben, sonst käme Olanowo »unter den Hammer« …

    Meine Mutter sagt leise und heftig, daß ihre Eltern genug getan hätten. Außerdem habe sie ja eine schöne Aussteuer mitbekommen. Mein Vater schreit dagegen, daß er auf die Aussteuer pfeife und daß ihn die Sorgen umbringen würden.

    Meine Mutter schaut die niedrige Decke an, die schiefen Wände.

    »Du sprachst immer von einem Schloß, und daß wir standesgemäß auftreten müßten.«

    Mein Vater behauptet dagegen, daß Olanowo auch ein Schloß sei, nur die nötige Kraft, in Gestalt einer tatkräftigen Frau, fehle ihm. Aber er wäre ja mit einer Nonne verheiratet. Statt ihre Hände in das Schweinefutter zu tauchen, säße seine Frau über frommen Traktätchen, mit denen man keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken könnte.

    »Das Kind!« fährt meine Mutter dazwischen und zeigt auf mich. Aber mein Vater kaut weiter an bösen Worten, spuckt sie in die Stube, ganz gleich wohin.

    »Nimm doch Rücksicht auf meinen Zustand!« sagt schließlich meine Mutter ernst und bedeutungsvoll. In diesem Augenblick geht die Tür auf. Helene steht auf der Schwelle.

    »Schlafen gehen, Kater!« sagt sie, aber es klingt wie: »Aufstehen, Kater!«

    Niemand sieht Helene an. Aber Helene läßt ihre flinken Augen wandern. Einmal betrachtet sie meinen Vater, dann meine Mutter. Mich sieht sie nicht, obgleich sie meinen Stuhl zur Seite schiebt.

    »Gute Nacht«, sage ich leise. Mein Vater hört es nicht, nur meine Mutter hebt den Kopf und wirft mir einen langen, traurigen Blick zu.

    Sofort zerschmilzt mein Herz.

    Draußen fange ich heftig an zu schluchzen.

    »Nun, nun«, beruhigt mich Helene, »was gibt es denn wieder? Was hat denn der gnädige Herr zu schelten?«

    Ihre langen Wimpern flattern und ihre Augen spielen Verstecken. Ich gebe ihr keine Antwort. Ich bin sterbenstraurig und weiß nicht warum. Irgend etwas stimmt bei uns nicht. Wer ist schuld? Meine Mutter, die gut und fromm ist, oder mein Vater, den ich liebe, und der doch immer wieder alles vergißt und es mit seiner harten Faust zerschlägt.

    »Wer ist schuld?« frage ich Helene, weil ich sie immer so viel frage, obgleich sie mir niemals die richtige Antwort gibt, »Vater oder Mutter?«

    Natürlich schweigt sie. Vorsichtig zieht sie mir das Kleid über den Kopf und macht ein Häkchen los, das sich verfangen hat. Ich schaue sie an, ihre zuckenden Wimpern, ihre roten Lippen, über die sie manchmal ganz schnell mit der Zunge fährt.

    Keine Antwort. Niemals. Deshalb frage ich weiter.

    »Oder ist das Geld an allem schuld?«

    Helene zuckt mit den Achseln, schweigt. Ihr Gesicht ist ernst. Oft ist es spöttisch, ihr Mund klein und zusammengepreßt. Dann sieht er rund aus, rot und leuchtend wie eine Kirsche. Geht Helene, so zieht sie ein wenig die Schultern hoch … »Lahme Krähe«, sagte Kascha bissig. »Bachstelze«, meinte mein Vater, der ihr nachsah.

    Meine Mutter hörte es, und von dem Tage an kann sie Helene nicht mehr so richtig leiden.

    Das Fenster ist geöffnet. Frisch und kühl weht es herein. Ich liege bereits im Bett und Helene steht vor dem Spiegel und betrachtet sich. Das tut sie jeden Abend. Während ich Kleid und Leibchen über einen Stuhl breite, zieht sich Helene alle Haarnadeln aus den Zöpfen.

    Sie spielt gern mit ihren Zöpfen, wickelt sie sich um den Finger. Dann steckt sie sie wieder ordentlich und fest um den Kopf.

    Der Lichtschein der Lampe fällt nach draußen und da sehe ich ihn zum zweiten Male, den unbekannten Vogel. Er sitzt in der Tanne, dicht neben meinem Fenster, das Licht hat ihn geweckt. Er blinzelt und streckt einmal kurz seine Flügel aus.

    Vor Freude springe ich aus dem Bett.

    »Da ist er, Helene«, schreie ich, »da ist er wieder!«

    Aber Helene reißt mich zurück. Sie wird blaß wie ein Handtuch und fällt auf einen Stuhl. Helene ist abergläubisch, das ist es. Sie glaubt an den Totenvogel, von dem sie in der Küche schwatzen.

    Ich aber will zum Fenster, reiße mich los, doch mein Schatten ist früher da und legt sich breit um die Tanne und ihren Gast. Er ist unsichtbar geworden.

    Aber was ist mit Helene? Sie weint plötzlich. Ihre Schultern beben, doch ich sehe keine Träne. Dann, sich besinnend, springt sie auf und sammelt die Haarnadeln, die alle auf den Boden fielen.

    Wie alle Abende klebt sie sich die Zöpfe um den Kopf. Ehe sie hinausgeht, schlägt sie das Fenster zu, alle Scheiben klirren.

    Nun warte ich auf meine Mutter. Sie kommt bestimmt, um mit mir zu beten. Nie habe ich sie so erwartet. Arme Mutter! Sie will mir niemals zeigen, daß sie weint. Aber ihre Lippen verraten sie. Ich werde meine Arme um ihren Nacken legen und sie auf den Mund küssen, auch wenn sie mir, wie immer, die Wange hinhält.

    Da ist sie. Ich springe auf. Das Nachtlämpchen wirft einen kleinen Schein auf ihr Gesicht.

    Ihr Gesicht ist traurig.

    »Mutter!« rufe ich leidenschaftlich und laut. Sie ist erstaunt und fast ärgerlich. »Beherrsche dich!« Ja, ich weiß. Aber sie sagt es nicht. »Bete!« Dieses eine höre ich.

    »Ich bin klein«, bleiern plappere ich es nach.

    Dann beugt sich meine Mutter zu mir. Ich küsse sie nicht auf den Mund. Sie küßt mich auf die Stirn.

    Ihr Körper scheint zu dampfen und ihr Leib ist schwer, wie ein Berg, der sich auf meine Bettdecke senkt und mich erdrückt.

    Heilige Nacht

    Meine Mutter ist gegangen. Die Treppe, die unter ihren müden Schritten ächzte, hat sich beruhigt. Nun höre ich den Wind durch die Dachluken fahren. Er zerrt an den Säcken mit trocknen Kräutern, die Kascha gesammelt hat, und mit denen sie alle Krankheiten heilt. Sie tanzen um die Pfosten, knistern und rascheln. Oder sind es Mäuse, die an den Sonnenblumenkernen nagen?

    In meiner Kammer riecht es nach Mutter. In meinem Zudeck ist eine Mulde, dort lag ihr Leib. Ein Berg drückt mich und ich kann nicht schlafen. Ich versuche über dieses und jenes nachzudenken, verwirre mich aber, und dann kommt der Sturm und brüllt wie ein Stier, dem man die Augen verbunden hat.

    Seine Hufe stampfen auf unseren Schindeln, sein Atem faucht um die Giebel, mit seinen Hörnern stößt er in die Tannen, daß sie jammern und stöhnen.

    Jetzt rast er schnaubend über den Hof. Donnert gegen die Stalltüren, rennt gegen die Bretterwagen und ist wirklich blind.

    Im Kuhstall wird es lebendig. Ketten spannen sich und klirren, als wollten sie zerreißen.

    Und nun stürzt er sich wieder auf das Haus. Die Dielen zittern, schwingen leise auf und nieder von Schritten. Jemand schleicht über den Boden.

    Ich richte mich auf. Wer ist das?

    Die Schritte sind jetzt an meiner Tür, halten dort ein wenig an und wandern weiter. Jetzt knarrt die Treppe, und ich höre Diana hin und her fahren, die unten vor der Schwelle wacht. Ich höre sie deutlich winseln, auf den Fliesen hin und her patschen, sich beim Gleiten schabend mit den Krallen festhalten. Sie umspringt jemanden, den sie kennt, über dessen Erscheinen sie sich freut.

    Die Haustür wird nun leise geöffnet. Ein Pfiff. Und dann wandern Schritte ums Haus.

    Der Sturm macht eine kleine Pause. Ich springe aus dem Bett und gehe ans Fenster. Trockne Geißblattranken drohen, wehren meinem Blick. Draußen ist es Nacht. Nichts sehe ich, niemanden! Und doch ist da ein Licht. Strahlt aus einem Fenster des Gesindehauses. Es ist Helenes Fenster. Helene hat Licht, liest sie wieder Romane?

    Nein, sie liest keine Romane. Alles lachte, als meine Mutter Helene deswegen einmal zur Rede stellte. Meine Mutter behauptete, daß ihr ein Buch abhanden gekommen, und Helene habe dieses Buch mitgenommen, um darin nachts zu lesen und sich die Augen daran zu verderben.

    Kascha platzte nur so heraus, als sie es hörte und nachher sagte sie zu Josefa, Helene habe etwas Besseres zu tun, als in der Nacht Bücher zu studieren.

    Aber meine Mutter blieb bei ihrer Meinung. Denn wozu brennt Helene oft die halbe Nacht Licht? …

    Wieder fängt der Sturm an. Ein sonderbares Pfeifen entsteht über dem Dache. Unter meiner Tür fährt es sausend durch, peitscht meine nackten Füße. Ich krieche ins Bett zurück und bin beruhigt, weil Helene Licht hat. Ihr Licht schimmert freundlich bis zu mir und verdrängt allen Spuk. Ranken und Blätter, wehende Wipfel und fächelnde Tannenzweige scheinen sich vor ihm zu verneigen.

    Ich blinzele noch ein wenig und schlafe ein. Da träume ich, daß sich Helenes Licht in viele Lichter verwandelt hat. Ich höre die Stimme meiner Mutter, die leise sagt: »Heute ist Weihnachten.«

    Kein Berg drückt mich mehr. Froh ist mir zumute und leicht. Der Schellenbogen schüttelt seine Glocken, und ich sitze im Schlitten, in einen hohen Fußsack versteckt, der mit Pelz gefüttert ist.

    Wir gleiten durch Nacht. Ich spüre Stöße und Schwanken und manchmal die warmen Knie meiner Mutter. Wir sausen durch den Schnee, als flögen wir mitten in den Himmel hinein.

    Dann gibt es einen Stoß, und wir halten. Glocken dröhnen nah über meinem vermummten Kopfe. Eine knarrende Stimme fällt in eine kalte Höhle, in die ich geführt werde, und ich höre das, was meine Mutter so oft, so viel erzählt hat, die Geschichte vom Jesuskind, das im Stalle geboren wurde.

    Das Wort verhallt. Viele Menschen stehen wie eine Mauer. Chöre singen hoch über mir. Ich versuche die Bank, auf der ich sitze, zu erklettern, aber meine Mutter drängt mich energisch zurück. Sie singt mir so laut in die Ohren, daß ich, eingeschüchtert, mich nicht mehr bewege. Hier und da erhasche ich ein bekanntes Gesicht. Ich nicke ihm zu, bekomme aber keinen Gegengruß. Weit von mir entfernt steht ein Baum, geschmückt mit vielen Lichtern. – – –

    »Heilige Nacht«, so hat meine Mutter sie genannt. Einmal im Jahr. Ich darf dann aufbleiben. Die Türen zum großen Saal werden feierlich geöffnet. Ganz hinten steht der Tannenbaum, über und über mit brennenden Lichtern geschmückt. Silberfäden hängen an ihm nieder. In der Tür drängen sich unsere Leute, singen Weihnachtslieder und scharren mit den Füßen. Unter dem Baum liegen Geschenke. Für mich. Alle für mich? Ich fange an zu weinen. Sie sind neu und so schön! Ich wage es nicht, sie anzufassen. Vorsichtig greife ich zu. Aber was ich auch berühre, es bewegt sich nicht. Ich kann alles noch so viel stoßen, drehen, schaukeln, es bleibt, was es ist, langweiliges und totes Zeug.

    Mein Vater setzt sich nun an den Flügel und spielt: »Die Tiroler sind lustig.« Er hämmert es mit einem Daumen hin und ist vergnügt.

    Meine Mutter liest Briefe, über die sie lächelt. Manchmal probiert sie etwas an, ein Paar Handschuhe, ein Kleid. Dann sagt sie: »Seht nur, wie schön der Baum in diesem Jahre gewachsen ist.« Das sagt sie jedes Jahr. Dieser Spruch kehrt immer wieder. Alle betrachten den Baum, sehen in seine brennenden Lichter, auf seine silbernen Kugeln und machen gerührte Gesichter.

    Und doch! Ich glaube, der Baum ist nicht echt.

    Wohl brachte ihn der Förster vor ein paar Tagen, schüttelte ihn tüchtig, damit der Schnee nicht mit ins Haus geschleppt wurde. Aber neben den »Riesen« ist er nur ein Zwerg, wenn er hier auch bis zur Decke reicht.

    Ich gehe um ihn herum, fühle seine Zweige. Ja, sie sind echt. Sie sind so frisch und grün, wie das Sofa, auf dem meine Mutter sitzt und liest. Seine Nadeln sind ganz fest. So fest, wie der Daumen meines Vaters, der immer noch über die Tasten hüpft. – – –

    Auf einmal kniet Helene neben mir. Mit ihren roten Händen nimmt sie ein Wollschäfchen und legt es sich in den Schoß. Sie betrachtet es staunend, streichelt es, dessen Beine nur aus Holz sind.

    Dumme Helene! Sieht sie nicht, daß das ganze Schaf unecht ist? »Willst du es haben, Helene? Da, nimm es dir!«

    O nein! Helene wird rot, rafft den Stoff zusammen, den sie bekommen hat, und verschwindet.

    Nach und nach verschwinden alle, wir sind allein.

    Draußen höre ich noch ihre Schritte und ihre Stimmen.

    Der Saal ist mit einem Male groß und leer.

    Zwar brennen noch alle Lichter am Tannenbaum und doch ist es viel dunkler geworden. Ihre bunten Tücher haben alles Helle und Vertraute mit fortgenommen. Da ist nur noch meine Mutter in ihrem schwarzen, seidenen Kleid.

    Aber schimmert es nicht durch den Spalt der Fensterläden? Ein geheimnisvolles, weißes Licht fällt in den gelben Schein der Kerzen. Ich schaue durch einen Ritz und sehe Eiszapfen. Es gleißt und glitzert, wolkt auf wie Rauch.

    Oder winken mir weiße Hände? Ist es der Schnee oder sind es Engel, von denen meine Mutter sagt, daß sie in der Heiligen Nacht erscheinen? Mich drängt’s nach draußen. Niemand sieht mich aus der Tür schlüpfen. Im Flur ist es dunkel und kalt, aber mich friert’s nicht. Die Tür zur Terrasse ist leicht zu finden. Ich drücke die Klinke hinunter, die Tür ist nur angelehnt.

    Wer hat sie aufgeschlossen, jetzt, mitten im Winter?

    Helle strömt auf schmaler Bahn herein, Schneestaub sprüht in Bogen über die Schwelle und liegt in feinen Rillen auf den Fliesen.

    Dann überschüttet mich weißes Licht. Ich muß die Augen schließen. Als ich sie wieder öffne, laufen Spuren über die schneeverwehten Stufen hinab in den Garten.

    Da sind Schritte, die nicht anhielten, Füße, die, obgleich sie immer tiefer einsanken, immer weiter hasteten.

    Der volle Mond spiegelt sich in den glitzernden, festangedrückten Sohlen. Und quer durch den Garten, von der Hofseite her, läuft ein anderes Paar Schuhe, traf sich mit dem, welches vom Hause herkam.

    Manchmal hat der Wind die Schritte verweht, desto deutlicher erscheinen sie an einer anderen Stelle.

    Zwei und zwei, so trafen sie sich hier. Aber wohin gingen sie?

    Vorsichtig trete ich in die hier flüchtigen und dort deutlichen Spuren. Steige in tiefe Stapfen und muß große Schritte nehmen, um ihre Spannweite zu erreichen. Ich springe bis an die Knie in den tiefen Schnee. Verfolge fremde Spuren, die mutig Schneewälle überquerten, als müßten sie weiter und weiter, vorwärts! Eiskalt rieselt es in meine Strümpfe. Eiskalt wird auch mein Herz. Als sei da eine warnende Stimme, als wäre da Helene, die mit mir schilt, weil meine Strümpfe naß werden. Und doch zieht es mich unaufhaltsam weiter, ich kann nicht mehr zurück.

    Auf einmal ist es mir, als bekäme ich einen Stoß. Jemand schüttelt mich heftig. Erschrocken wende ich mich um, aber niemand ist da. Ich bin ganz allein. Keine Engel schwingen sich über die schimmernde Weite. Da ist nur Schnee, und aus ihm ragen, frierend, in weiße Mäntel gehüllt, meine »Riesen«, die beiden Tannen. Über ihren Spitzen schweben flammende Lichter. Viele, viele Sterne brennen unbeweglich zu ihren Häuptern. Der Himmel trägt sie in seinem blauen Mund. Zu ihm werde ich emporgehoben, und auch mich saugt er auf. Ganz nahe brennen die Sterne. Goldene Augen, so erscheinen sie mir, die meine Wimpern zärtlich streicheln. Breite Flügel umfangen mich. Zwei Engel stehen vor unserem Haus und lächeln.

    In dichte Mäntel eingehüllt, berühren sie sich mit den Flügelspitzen und heften ihren unverwandten Blick auf mich.

    Engel! Meine Mutter hat es gewußt. Sie gingen vor mir über die Terrasse. Sie glitten die Stufen hinab in den Schnee und bahnten mir den Weg.

    Sie sind erschienen, um mir das Geheimnis dieser Nacht zu verkünden, das ich noch nicht erfassen konnte.

    Sie singen. Alles ist davon erfüllt. Der Schnee beginnt zu brennen. Mir scheint, Feuergarben schießen ringsum hoch. Eine Flamme fährt auch durch mich und entzündet mich vom Kopf bis zu den Füßen. In meinem erkalteten Gesicht starren die Augen wie Eiskugeln. Ich bin wie blind, und Schneestaub sprüht mit spitzen Nadeln. Dennoch lächele ich: Engel! Engel! …

    Ich greife nach ihren Schleppen. Ich taste nach ihren Flügeln, stoße an Zweige und Nadeln, die mich stechen. Eine dichte Schneelast poltert über mich.

    Ich reibe meine Augen. Fühle zwei warme Tropfen an meinen Fingern. Ich betrachte sie verwundert und schüttele sie ab. Ach was! Es sind die Riesen und keine Engel! Frierend krieche ich unter ihr schützendes Zweigdach. Ihre Dunkelheit umfängt mich, aber sie ist nicht beruhigend. Die vertrauten Äste starren fremd. Es knistert und raschelt in der Nacht der Zweige. Es bedrängt mich unheimlich und gewaltig. Ein fremder Atem mischt sich in den Duft der trocknen Nadeln. Ich horche und höre wispernde Laute. Ich wage es nicht, mich zu rühren. Gleich wird es meine Schultern umklammern und mich zu Boden drücken. Ich will aufstehen, davonlaufen, aber wie gebannt sind meine Glieder. Ich kann mich nicht mehr rühren, und es ist nur der eine Schrei, der sich aus meiner Kehle ringt: »Mutter! Mutter!« …

    Der Ruf schwebt noch in meiner Kammer. Ich weiß nicht, daß ich ihn ausgestoßen habe. Ich bin wach und allein. Ich liege im Bett und nicht unter den Tannen. Niemand wandert mehr umher. Der Wind faucht, als wolle er das ganze Haus auseinanderreißen. Mein Körper ist heiß und die Haare kleben feucht an meinen Schläfen.

    Ich habe geträumt und finde das Ende des Traums nicht wieder. Draußen wird es allmählich Tag. Ein Wecker wird rasseln, und Helene wird aufstehen. Werden heute die Störche kommen?

    Es rauscht in der Luft wie von Flügeln … Nein, niemandem kann ich es sagen! Das erlebte ich in der Heiligen Nacht:

    Ich saß unter den Riesen und da hörte ich Stimmen. Dicht neben mir flüsterten sie, aber ich konnte kein Wort verstehen. Einmal lachte es, aber jemand legte eine Hand auf das Lachen. Auch seufzen hörte ich es, aber das war nicht der Wind.

    Und mit einem Male schrie es: »Nein, nein – – – nein!«

    Und eine andere Stimme keuchte dagegen: »Ja – – – ja – – – jaaa!«

    Und dann hörte ich Atemstöße wie Wind, Flüstern wie Blätter im Sommer, Wimmern und Schreie, wie von kleinen Kindern oder Nachtvögeln. Ein Winseln, wie das eines Hundes. Und dann kam nur noch ein einziger, runder Laut, wie ein »Oh«, dem die Luft ausging. Und nun war es still …

    Jetzt hörte ich mein Herz. Das zerschlug mir wie ein Hammer die Brust. Aber ich konnte nicht schreien. Nur die Zähne schlugen mir aufeinander. Ich wollte fort, aufspringen, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich packte die Riesen, um sie zu schütteln, aber sie waren unbeweglich, eisenhart und fest.

    Da stürzte ich hoch und rannte mitten in den Schneeberg hinein. Blind stieß ich mich vorwärts. Schluchzen riß meine Lippen auseinander und mein Mund füllte sich mit Schnee. Die Tränen erstarrten auf meinem Gesicht. Immer noch stand die Haustür offen. Die Schneestreifen waren kleine Wellen geworden, die sich weit in den Flur hineinzogen. Ich zertrat sie mit meinen schweren Schuhen.

    Erst an der Tür zum Saal kam ich wieder zur Besinnung. Meine Mutter saß noch auf ihrem alten Platz. Sie schaute in den Baum. Fast alle Lichter waren inzwischen ausgebrannt.

    »Warum hast du dich wieder in der Küche herumgetrieben? Du bist ein schreckliches Kind! Schnell ins Bett mit dir, es ist schon spät … Weshalb ist Helene noch nicht da?« Und, – fragt meine Mutter weiter: »War Helene in der Küche?«

    »Ja«, sage ich leise, »sicher ist Helene in der Küche, ich werde sie holen.«

    »Nein, bleib da!« sagt meine Mutter, »wer weiß, was dort heute für Gäste sind.« Und sie steht auf.

    Aber da ist Helene, gerade ging das letzte Licht am Tannenbaum aus.

    »Komm zu Bett, Kater!« sagt sie.

    Wir gehen zusammen die Treppe hinauf, wie alle Tage.

    Als Helene die Kammertür öffnet, sehe ich einen großen

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