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Höhepunkt 90: Die Zumutung fängt gerade erst an
Höhepunkt 90: Die Zumutung fängt gerade erst an
Höhepunkt 90: Die Zumutung fängt gerade erst an
eBook291 Seiten3 Stunden

Höhepunkt 90: Die Zumutung fängt gerade erst an

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Über dieses E-Book

Durch den Bau der Berliner Mauer erreicht die Teilung Deutschlands und Europas 1961 einen dramatischen Höhepunkt. Die Fluchtwelle aus der DDR befindet sich im Spätsommer 1989 auf einem absoluten Höhepunkt. Im September 1990 wird die erste und letzte ›Miss-DDR-Wahl‹ durchgeführt. 40 Jahre musste ein Volk auf diesen Höhepunkt warten. Der 3. Oktober, null Uhr, wird sicherlich der Höhepunkt der Festlichkeiten zum ›Tag der Deutschen Einheit‹ sein. Mittlerweile gibt es fast jeden Tag einen historischen Höhepunkt. Daher sollte man die gegenwärtigen Zerwürfnisse und Ärgernisse nicht als den Höhepunkt des ›Lebens-Dramas‹ ansehen. Lieber weiter diszipliniert auf einen imaginären Höhepunkt warten. Und sich dann, mit einer verblüffenden Wendung und etwas innerer Dynamik auf den nächsten emotionalen Höhepunkt vorbereiten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Juni 2023
ISBN9783347970441
Höhepunkt 90: Die Zumutung fängt gerade erst an

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    Buchvorschau

    Höhepunkt 90 - Michael Schroeder

    EINS

    Auf leisen Sohlen schleppen wir uns im Moment, mit immer geringer werdender Begeisterung, durch die hastig vorbeieilende Zeit.

    Allerdings sind wir noch auf Haltung bedacht. Nur gelingt uns das anscheinend weder am Morgen, was man ja vielleicht verstehen könnte, noch im Laufe des Tages, was schon bedenklicher erscheint und schon gar nicht am Abend. Nun gut, da sind wir meist zu müde.

    Einst haben wir uns trotzig gegen, uns nie sehr wohlwollende, Hochfluten gestemmt. Davon ist offenbar bloß noch ein kümmerliches Aufbäumen verblieben. Manch einer hält das aber eher für ein Wegducken unsererseits.

    Der Stuhl wippt. Es ist ein gutes Gefühl.

    Mir tut mein Hintern nicht so weh wie auf anderen Sitzgelegenheiten.

    Doch vermutlich habe ich mich schon lange nicht mehr so übertrieben gekränkt und verletzt gefühlt wie heute. Woran mag das wohl liegen?

    Leider führen immer mehr Erkundigungen über diesen Zustand nur zu recht mickrigen Resultaten. Oder hab ich die Antworten auf meine Fragen bereits falsch gestellt? Wenn ja, liegt der Ursprung dieses Grundgedankens gewiss schon etliche Momente zurück. Und so wird es wohl bei dem weitherzigen Versuch einer Bestandsaufnahme bleiben.

    Sicher, man kennt das, diese ewig nervigen Anfänge mancher Filme.

    Irgendetwas Wichtiges passiert – ein Mord zum Beispiel. Oder ein Mann hat sein Gedächtnis verloren oder sein Vermögen oder beides. Eine Frau hat ihren Einkauf vergessen und sieht ihren Mann mit einer fremden Frau hemmungslos herumknutschen oder sie erwischt die beiden im Bett – oder irgend so etwas Ähnliches.

    Und dann, kommt eine Einblendung: ›24 Stunden zuvor‹ oder ›eine Wochen vorher‹ oder ›Berlin 1945‹ oder ›am Montag vor zwei Wochen‹ oder … keine Ahnung und dann wird erzählt, wie die ganze Geschichte begonnen hat.

    Furchtbar. Oder?

    Könnte es etwa so gewesen sein?

    ›48 Stunden vorher.‹

    Ich warte hinter dem Eingang auf Anne. Sie hat versprochen mich abzuholen. Aber nun stehen hier schon etwa acht Leute, die ich alle nicht kenne.

    Da kommt ein ziemlich großer Wagen um die Ecke. Es gibt ein großes Begrüßungsgeschrei.

    Anne steigt aus, geht um den Wagen und stellt sich vor die Beifahrertür. Die anderen fangen schon mal an, sich in das Auto zu drängen. Natürlich auch nach vorne. Aber Anne lässt da keinen rein. Mit dem Zeigefinger lockt sie mich an.

    »Du!« sagt sie und öffnet die Tür.

    Sie küsst mich auf den Mund.

    Hinten ist Gejohle.

    Worauf ich mich hier gerade einlasse, weiß ich nicht. Ob ich jemals selbst handle oder immer bloß tue, was man oder frau von mir will? Ist das, das Wesen der Freiheit? In Wirklichkeit hab ich Anne seit fünf Jahren nicht mehr gesehen – folglich muss es sich hier um eine Träumerei handeln.

    Oder doch eher so?

    ›24 Stunden später.‹

    Eigentlich dachte ich, es wäre einfacher loszuquatschen … geht aber wohl doch nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe.

    Liegt es daran, dass … Ach ja, die Männer wollen immer nur das Eine. Aber was ist das eigentlich? Das Eine? Was sollte das bitteschön sein?

    Stellst Du dich jetzt nicht künstlich dumm, fragt Katharina.

    Und was ist daran schlimm? Eigentlich hab ich gedacht, Du willst…

    Das ist wieder typisch. Bei unseren letzten vier Unternehmungen war es so, dass Du entschieden hast, was wir machen. Es wäre schön, wenn Du mich …

    Nee, so geht das nicht.

    Ausreden. Einfach mal ausreden lassen. Aber, geht ja wohl bei Dir nicht. Wer nun hier das Sagen hat?

    Halt doch einfach mal die Klappe.

    Eigentlich fällt es mir schwer, nach einem solchen Tagesauftakt ruhig zu bleiben. Ich werde mir aber Mühe geben.

    Sicher nicht!

    Mann, Mann, Mann.

    So kann Frau sich auch verabschieden:

    Tür, knall, bumm.

    Danke. Denkst Du, das tut mich beeindrucken?

    Ach, vergiss es einfach. Fabian – kommst Du endlich mal! Alles, wirklich alles, bleibt an mir hängen. Das fing schon in meiner Kindheit an. Meine kleine Schwester Sigrid war schon immer eine nicht zu unterschätzende Belastung für mich. Das hat wohl keiner wahrgenommen. Gestreichelt wurde immer nur ihr blödes blondes Haar.

    Allerdings reicht das nicht.

    Wofür?

    Ich mach jetzt gleich ganz laut Musik an.

    Frau Lohmann, das ist nun wirklich nicht nötig. Keine Ahnung. Aber wenn Du mich nicht in die Planung einbeziehst, fühle ich mich übergangen und überrumpelt.

    Ob diese Episode – wann wird das gewesen sein – sich wirklich so zugetragen hat? Wahrscheinlich war es viel später.

    Viel früher? Das ›Kind‹ wird im April 16!

    Wir hatten uns das geteilt. Fabian brachte ich fort. Mein Mann Jürgen war am Nachmittag dran.

    Trotzdem, durchatmen. Ach Fabian, komm doch endlich.

    Eigentlich muss die Mutter da sonst nicht weinen. Wozu auch.

    Mach ich ja auch nicht.

    Wir müssen looos!

    Trödelkind geschnappt und auf zur Straßenbahn. Warum wird die heute Tram genannt?

    Es knallen ja bei uns nicht immer nur die Türen.

    Vorgestern waren es die Sektkorken und die ›Blitz- Knaller‹. Besser und lauter sind die ›Harzer-Knaller‹. Fabian mag die Knallerei nicht. Hat er nie gemocht. Früher vielleicht mal eine Wunderkerze oder zugucken, wenn ich eine Rakete starten lasse. Dann aber aus sicherem Abstand.

    Das neue Jahr hat gerade begonnen. Jetzt sind davon immerhin schon wieder zwei Tage um.

    Dienstag – Spätdienst.

    In der Zwischenzeit wurde aufgeräumt. Hier bei uns, Zuhause und am Brandenburger Tor. Da gab es einen Toten und fast 300 Verletzte. Eine 15 Meter hohe Videowand ist eingestürzt. Über 500 Leute waren auf dem Tor. Hochgeklettert. Das hat sich erst nach Mitternacht abgespielt. Am nächsten Tag war das in den Nachrichten und heute in der Zeitung. Wir waren natürlich brav daheim und es sind hier auch keine Schäden zu vermelden. Das unser Sohn noch mit dabei war, ist bald nicht mehr so selbstverständlich. Der hat sich am Nachmittag mit Freunden getroffen, aber um 12 hat er mit uns angestoßen.

    Eier und Spinat stehen auf meinem Einkaufszettel. ›Feinfrost Spinat‹! Hat Katharina extra gesagt.

    »Kein Spinat im Glas! Der schmeckt immer so säuerlich und knirscht manchmal auch zwischen den Zähnen. Jürgen, bring bitte ›Feinfrost Spinat‹ mit! Der ist in so’ner grünen Verpackung mit ‘nem Schneemann drauf.«

    »Und wenn‘s keinen gibt?« Das kennen wir ja zur Genüge.

    »Leergut kannst Du bitte auch gleich wegbringen.«

    Im vergangenen Jahr haben die in unserer Kaufhalle eingeführt, dass man nach der Auszahlung des Pfandbetrages die Flaschen selbst in die Kästen sortieren muss. Woanders gab‘s das wohl schon lange. Bei uns hat da immer noch ein Kaufhallenmitarbeiter gestanden und das gemacht.

    Nun ja. Durchatmen.

    Nicht aufregen. Warum auch. Bis ich zur Arbeit muss, ist noch Zeit. Ich schaff das.

    Erst mal trink ich einen Magenbitter. Und DANN.

    Dann suche ich die Flaschen zusammen. Über die Feiertage ist einiges zusammengekommen. Das wird gerade in die zwei Beutel passen. Oder auch nicht. Doch, doch, es geht.

    So langsam muss man aber doch mal nachdenken wie es weiter gehen soll.

    Es wird schon.

    Klig klong.

    Unsere Klingel hat eher einen sehr schnarrenden Ton. Nichts mit: Klig, Klong. Eher: Qureeeeeeck. Oder so ähnlich. Ich könnte es vormachen. Wenn es gewünscht wird.

    »Herr Jochen Lohmann? Guten Tag ich bin vom Deutschen Roten Kreuz.«

    »Nee, Jürgen Lohmann ist mein Name.«

    Wie blöd. Das müssen wir noch lernen. Ungefragt solche Antworten geben. Wer macht denn so etwas? Eigentlich wollte ich gerade Flaschen wegbringen und der Typ nervt jetzt.

    Deshalb übernehme ich sofort die Initiative.

    »Haben Sie schon mal was von einem Mann mit dem Namen Wassili Arkadjewitsch Rachmaninow gehört?« frage ich mein Gegenüber.

    Der Typ sieht mich etwas verwirrt an. Wie es scheint hab ich ihn aus seinem Konzept gebracht. Also fahre ich fort: »Das war der Vater von Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow. Wie? Nie gehört? Russischer Pianist und Komponist. Nicht Kommunist und auch nicht sowjetisch! Aber Hallo! Im letzten Jahr ist bei ›ETERNA‹ gerade die Platte mit seinem Zweiten Klavierkonzert rausgekommen.«

    Das Mühlrad in seinem Kopf scheint sich chaotisch zu drehen. Sollte ich ihm jetzt mal die Chance geben zu antworten? Lieber nicht.

    »Der Vater, war ein gutmütiger und geselliger Phantast. Seine Frau hatte ein Vermögen in Form von fünf Landgütern in die Ehe eingebracht. Wassili Arkadjewitsch fehlte jedoch jede wirtschaftliche Befähigung für eine Bewirtschaftung und so führte er die Betriebe innerhalb von zehn Jahren in den Ruin.«

    Selbstverständlich hat es dieses Gespräch so nie gegeben. Irgendwann im Nachhinein, dachte ich, so hätte es laufen können, sollen.

    Stattdessen sag ich: »Wo soll ich unterschreiben?«

    Und er: »Ihre Adresse hab ich ja.«

    Trübe grüßt mich aus dem Nebenzimmer das Licht der Besonnenheit. ›Einsicht‹ wäre in diesem speziellen Fall sicherlich von erheblich besserem Vorteil für mich, jedoch sicher nicht für den anderen gewesen. Was solls. Da sage ich jetzt lieber nichts zu.

    Spinat gab es in der Kaufhalle nicht. Oder ich hab ihn nicht gefunden. Was auch eine Möglichkeit wäre. Oder ich habe nicht richtig hingeguckt. Was ebenfalls eine nicht zu entschuldende Tatsache darstellt und kaum zu erklären ist. Wie ich das meiner Frau beibringen sollte, wusste ich nicht. Doch vielleicht blieb mir das ja erspart, da ich erst spät Nachhause kam.

    Der Rest des Tages verlief dann so einigermaßen. Auf dem Weg zur Arbeit blieb ich erst mal am S-Bahnhof hängen. Es fuhr nichts – Schienenbruch. Bei Temperaturen um die null Grad kann es doch nicht an der Witterung liegen – denkt man. Ersatzverkehr mit Bussen – doch es kam keiner. ›Wenn schon kein Schnee fällt … lassen wir wenigstens die Preise fallen‹. Bei uns gibt es jetzt auch einen ›Winterschlussverkauf‹. Ob ›Centrum am Hauptbahnhof‹ oder Intershop, alle machen mit. Preissenkungen in Höhe von 30 bis 60 Prozent werden versprochen.

    Die Leute sind langsam ungehalten – kein Bus in Sicht – »Scheiß Osten!« Na da werdet ihr euch noch wundern. Besser wird’s nicht werden.

    Obendrein gibt es jetzt noch ganz neue Probleme – »Ick hab jetzt meinem Bengel seinen Personalausweis abgenommen.«

    »Wieso’n ditte? «

    »Na wegen die Drogen. Der ist 14. Is ja klar, det der neujierig is. In dem Alter. Der würde doch ouch ohne meine Erlaubnis in‘n Westen fahren. Kannst‘e ne Rauschgiftzigarette von ner normalen unterscheiden? – Na siehste. Hört man doch. Schon einmal Ausprobieren macht abhängig!«

    »Dit kannste uf kenen Fall machen. Dit jet voll jegen de Prinzipien.«

    »Häääh? Watten für Prinzipien? Ick werd mir als Mutter doch wohl noch Sorjen machen dürfen.«

    Da immer noch kein Bus gekommen ist, gehen nun einige versuchsweise zurück zum S-Bahnhof. Von dort sind Fetzen unverständlicher Lautsprecherdurchsagen zu vernehmen.

    ›In’n Westen fahren‹ war jetzt mal ein Stichwort. Da fällt mir gleich was zu ein. Bisher konnte jeder im Westen kostenlos S- und U-Bahn und Bus benutzen. Straßenbahn gibt’s da ja nicht. Brauchte man nur unseren blauen Personalausweis oder den DDR-Pass vorzuzeigen. Hat gereicht. Das ist aber nun vorbei.

    Seit dem 1. Januar benötigt man einen Fahrschein und der kostet zwei Mark! Das ist ein ganz schöner Hammer. Wo man doch bei uns sonst nur 20 Pfennige in die Zahlbox zu werfen braucht. Selbst das nehmen viele nicht so genau. Werfen nicht mal einen Knopf rein, sondern fahren gleich so, ohne zu bezahlen.

    Die Fahrscheine gibt’s jetzt hier am Schalter im S-Bahnhof. Oder auch in den Kaufhallen. Damit kann man zwei Stunden lang im Westen fahren und auch umsteigen. Wem das nicht reicht, für den gibt es eine Tageskarte für fünf Mark.

    Ich hab mir das schon überlegt. Wenn ich mal rüber will, um nur ‘ne Kleinigkeit zu kaufen, geht das in zwei Stunden. Vor Weihnachten waren wir am Kottbuser Damm, wo es viele Geschäfte gibt. Da kommt man gut hin. Der Übergang Jannowitzbrücke wurde ja gleich am 11. November aufgemacht.

    Bis dahin mit der S-Bahn und dann in die U-Bahn. Dort muss jetzt auch dieser neue Fahrschein entwertet werden. Also nicht gleich hier wo man losfährt.

    Wenn man dann aus dem U-Bahnhof ›Kottbuser Damm‹ rauskommt, entgegen der Fahrtrichtung, hinten, links, ist da ein ›Reichelt‹ Supermarkt. Ist ein bisschen teuer. Aber ein tolles Angebot. Viel Westgeld haben wir nicht. Wir sind aber ziemlich sparsam und von den 300 D-Mark Begrüßungsgeld, was wir als Familie im November bekommen haben, ist ja noch gut was übrig. Da können wir uns schon mal einen Joghurt leisten. Für jeden einen Becher. Drei verschiedene Sorten und dann wir reihum probiert.

    Von ›Reichelt‹ könnte man dann Richtung Kottbuser Tor laufen und noch im ›Bilka‹ Kaufhaus vorbeischauen. Oder andere Richtung zum Hermannplatz und bei ›Karstadt‹ rein. Hin und zurück ist das in zwei Stunden mit einer Fahrkarte zu schaffen.

    Auch wenn man zur ›Amerika-Gedenkbibliothek‹ will geht das. Das ist überhaupt der Wahnsinn. So eine riesige Bibliothek. Und die Bücher kann man sich alle selbst aus den Regalen nehmen. Da war ich auch schon im Dezember. Das hatte ich von einem Kollegen gehört, dass man sich als DDR-Bürger da anmelden kann. Vorsichtshalber hab ich an der Grenze, als ich rüber bin, aber noch gefragt, ob ich mir wirklich von da Bücher mitbringen darf. Das kann man ja immer noch nicht so richtig glauben, dass das alles möglich ist. Und was hab ich mir als erstes ausgeliehen? Stefan Heym ›5 Tage im Juni‹ – über den Aufstand von 1953 – was bei uns verboten war.

    Also, die S-Bahn fuhr dann wieder und ich kam nur etwa 30 Minuten zu spät zu meiner Nachmittagsschicht, was auch niemand interessierte.

    Es geht ja im Moment sowieso alles etwas drunter und drüber. Unsere Chefin ist verschwunden. Schon seit Mitte Dezember. Erst hieß es, sie sei krankgeschrieben. Dann, sie ist im Westen oder entlassen worden oder versetzt. Keiner hat wirklich Ahnung, was mit ihr los ist. Man munkelt, unsere Abteilung soll demnächst einem anderen Leiter unterstellt werden.

    Von der alten Belegschaft sind sonst noch alle da. Nur einer von unseren Lehrlingen ist im letzten Sommer abgehauen. Über Ungarn wie sich im Nachhinein herausstellte.

    Ob das hier bei uns überhaupt weitergeht?

    An unserer Wandzeitung hängt der Aufruf ›Für unser Land‹ – ›Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu den Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln.‹ Die Schriftstellerin Christ Wolf hat das so formuliert. Aber will denn noch jemand ernsthaft diese Alternative?

    Ich hatte das gleich, nachdem es rausgekommen war, ich glaub das muss in der letzten Novemberwoche gewesen sein, da angepinnt und eine Liste gemacht, so mit Name, Beruf und Wohnort und das dann an die angegebene Adresse geschickt. Es gab einige Diskussion darüber und es haben auch nicht so viele unterschrieben. Ein Grund war vielleicht, dass sich herum gesprochen hatte, dass Egon Krenz zu den Unterzeichnern gehörte.

    Ausgerechnet der hat den Begriff ›die Wende‹ erfunden. Im Oktober sagte er wörtlich nach seiner Wahl zum SED-Generalsekretär: ›Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten. Werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wieder erlangen.

    Krenz wurde ja schon früh, da war er noch Chef der FDJ, als ›Kronprinz‹, also als Honeckers Nachfolger gehandelt. Beliebt war der jedoch nie. Ich erinnere mich gut an das Transparent auf der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November – Krenz als gefräßiger Wolf mit ›Omamütze‹.

    Darunter der Text:

    ›Großmutter warum hast Du so große Zähne‹.

    Das mit der Demo, auf der wir und 500.000 andere waren, ist nun schon wieder zwei Monate her. Seitdem ist viel passiert. Die Mauer ist auf. Wir sind aber immer noch hier. Krenz ist dafür weg. Also nicht mehr Generalsekretär seiner Partei. Die nennt sich jetzt ›Sozialistische Einheitspartei Deutschlands – Partei des Demokratischen Sozialismus SDE/PDS‹ und wird seit Anfang Dezember von Gregor Gysi angeführt. Der ist in letzter Zeit regelrecht zum Medienstar geworden. Früher kannte den kaum jemand. Aber ich glaub, der war auch schon vorher mal im Westfernsehen, weil er der Anwalt von Robert Havemann und Bärbel Bohley war. Sein Vater Klaus, von dem hatte ich schon früher des Öfteren mal was gehört. Der war der erste Botschafter der DDR in Italien. Anschließend wurde er Staatssekretär für Kirchenfragen. Das lag aber glaube ich nicht daran, dass er in Rom mal vom Papst zur Audienz empfangen wurde.

    Mittlerweile ist es nach 19 Uhr und ich bin jetzt alleine hier. Draußen wehen einige wenige Schneekrümel vorbei. Zum Wochenende soll es ja etwas mehr werden. Da muss ich auch nicht arbeiten, also könnten wir da was gemeinsam unternehmen.

    Seit dem letzten Sommer machen wir wieder richtig durchgehenden Schichtdienst. Was das soll weiß keiner. Hatten wir ja schon mal. Wurde dann abgeschafft. Und nun? Hinter vorgehaltener Hand hieß es, aus Sicherheitsgründen.

    Keine Ahnung wieso. Ist auch egal. Ich bin den Schichtdienst von früher gewöhnt und meine Familie auch. Hat alles seine Vor- und Nachteile.

    Am 9. November, das war ja ein Donnerstag, hatte ich Frühdienst. Katharina war zuhause, krankgeschrieben – grippaler Infekt. Da haben wir am Abend im DDR-Fernsehen die Pressekonferenz mit dem Schabowski gesehen. Hätte man sich auch nicht vorstellen können, dass unsere Nachrichten mal interessanter und aktueller waren als die im Westen. Früher hat doch kein Mensch freiwillig die ›Aktuelle Kamera‹ eingeschaltet. Ich hab den Satz »Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich« so verstanden wie er auch von Schabowski gemeint war – es ging um die Ausreise aus der DDR.

    Anfang der Woche war der Entwurf des Reisegesetzes veröffentlicht worden. Es gab nun die Hoffnung, dass es mit Besuchsreisen nach dem Westen für alle etwas werden würde. Zwar auf Antrag, aber ohne Voraussetzungen, also nahe Verwandtschaft. Und 30 Tage im Jahr waren ja nun auch besser als bisher.

    Ich hab dann den Fernseher umgeschaltet und in der ›Abendschau‹ vom SFB um halb acht, war der Regierende Bürgermeister Walter Mompert zu Gast. Der redete vom historischen Tag, dass in Zukunft alle ausreisen dürfen und das Privatreisen für alle Bürger genehmigt werden. In der anschließenden ›Tagesschau‹ ging es hauptsächlich darum, dass DDR Bürger nicht mehr über dritte Staaten sondern direkt in die Bundesrepublik ausreisen können. Genauso im ›heute-journal‹ um dreiviertel Zehn. Da haben sie auch noch gar nicht von irgendeiner Grenzübergangsstelle berichtet. Nur von der Bayrische Grenzen, über den Strom von DDR-Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei. Weiter ging es dann noch um Kohls Polenreise, die Rentenreform, Fußball – Stuttgart gegen die Bayern. Als das Wetter dann kam, habe ich ausgeschaltet und wir sind ins Bett gegangen. »Na mal sehen, was das wird« hab ich zu Katharina gesagt. Dass die Mauer jetzt wirklich offen ist, haben wir nicht geglaubt. Wie sich dann später herausstellte, war sie es zu diesem Zeitpunkt ja auch noch nicht.

    Die ›Tagesthemen‹ 20 vor 11 liefen dann schon ohne uns. Deshalb haben wir auch nicht mehr Hanns- Joachim Friedrich gehört: »Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind, die Tore in der Mauer stehen weit offen.«

    Wir haben diese historische Nacht verpennt und ich glaube, trotz Katharinas Erkältung, gut geschlummert. Mit den Worten: »Die Mauer ist auf!« hat uns dann Fabian am nächsten Morgen geweckt.

    Eins der Telefone auf meinem Arbeitsplatz klingelt gerade. Es ist der Apparat mit der Nummer, die wir immer für private Gespräche nutzen. Ich schau auf die Uhr – kurz vor 21 Uhr. Das könnte Katharina sein. Bevor ich abnehmen kann, ist schon wieder Ruhe. Es hat nur einmal geklingelt.

    Fünf Minuten später wieder ein Anruf. Ich lass es erst mal läuten, nach dem dritten Mal nehme ich dann den Hörer ab.

    »Ja? Lohmann.«

    Schweigen am anderen Ende.

    »Hallo, wer ist da? Ich hör nix.«

    Stille.

    Auch ein weiteres, freundliches »Hallo« nützt anscheinend nichts. Es ist nur ein leises Surren zu vernehmen. Dann – »Klick!« – der Anrufer hat anscheinend aufgelegt – es ertönt das Besetztzeichen »tut, tut, tut, tut …« War das jetzt eine Anwesenheitskontrolle? Oder was?

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