Eiskaltes Grab: Michael Korn & Liz Croll Band 5
Von Matthias Boden
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Buchvorschau
Eiskaltes Grab - Matthias Boden
Prolog
Costa Rica, San José
Die Hauptstadt Costa Ricas lag an diesem Morgen noch in der Dunkelheit. Bei der Polizei war ein Notruf eingegangen. Ein Bürger der größten Stadt des Landes wählte um kurz nach drei Uhr am Morgen den Notruf und meldete zwei Schüsse in einer wenig belebten Seitenstraße der Stadt. Laut der Aussage des offensichtlich alkoholisierten Person sollte jemand erschossen worden sein. Zwei Beamte der hiesigen Polizei machte sich auf den Weg zu dem Anrufer. Sie nahmen seine Aussage auf und untersuchten in der Nähe befindliche Straßen. Sie konnten an keiner Stelle eine Leiche oder einen Tatort finden, der auf ein Verbrechen hinwies.
Etwas später am Morgen erreichten die beiden Beamten der Mordkommission das Revier. Ihren letzten Fall konnten sie erst am Vortag abschließen. Eine unzufriedene Ehefrau hatte ihren Gatten mit einer tödlichen Substanz in seinem Kaffee vergiftet. Darüber wollten Kemena Colón und ihr Kollege Ricardo Basurto gerade ihre Berichte anfangen als das Telefon in ihrem Büro klingelte. Kemena nahm den Hörer in die Hand und führte das eher kurze Telefonat mit ihrem Vorgesetzten.
In der Stadt wurde in einer schmalen und schwer zugänglichen Straße ein Mord gemeldet. Colón und ihr Kollege sollten sich sofort auf den Weg machen. Sie wurden bereits erwartet. Ricardo stöhnte wegen eines weiteren Falls, den man ihnen aufs Auge drückte. Er hätte sich gewünscht, mal eine Woche von diesem Wahnsinn verschont zu bleiben. Die beiden Beamten machten sich auf den Weg zu der angegebenen Stelle. Kemena und Ricardo waren erfahrene Ermittler des Morddezernats. Sie war 38 Jahre alt und arbeitete schon seit fast sieben Jahren in diesem Bereich. Ihr Kollege war erst vor vier Jahren dazu gekommen, war aber deutlich älter, mit seinen 46 Jahren.
Kemena sah für eine Ermittlerin des Morddezernats eher aus wie ein Modell. Die sanft gebräunte Haut und den ebenmäßigen Zügen im Gesicht ließen sie eher wie aus einem Modemagazin entsprungen wirken. Ihre etwas kräftigere Figur unterstrich diesen Eindruck noch. Sie war zweifache Mutter. Ihre Kinder brachte sie am Morgen zu den Großeltern und holte sie Nachmittags dort wieder ab. Außer sie musste viel länger arbeiten. Die beiden kleinen waren das mittlerweile nicht anders gewohnt. Beide mussten die Schule besuchen und brauchten einen geregelten Tagesablauf.
Ihr Kollege war sogar dreifacher Vater, dessen Frau auf den Nachwuchs aufpasste. Sie war Hausfrau und Mutter, während er mit seiner Kollegin auf Mörderjagd gehen musste. Kemenas Ehemann hatte sich erst vor knapp einem Jahr aus dem Staub gemacht und war mit einer Jüngeren abgehauen. Dementsprechend war sie auf Männer im Allgemeinen nicht mehr so gut zu sprechen. Die beiden Ermittler machten sich auf den Weg zu ihrem Einsatzort, der nur einige Minuten mit dem Dienstwagen erforderte.
Die Seitenstraße im weniger belebten Viertel war bereits mit rotem Flatterband abgesperrt worden. Sie mussten sich erst ausweisen, um zum eigentlichen Tatort von den Kollegen der Schutzpolizei durchgelassen zu werden. Beide hielten gut sichtbar ihre Marken nach oben und beugten sich unter das Flatterband. Bis zum eigentlichen Tatort mussten sie noch eine größere Strecke zurücklegen. Auf dem Weg dorthin scherzte ihr Kollege, »Wo ist die Leiche?«
Der Platz, an dem sie liegen sollte, zeigte nur eine große Lache an eingetrockneten Blut. Weiter war dort nichts zu sehen. Ihr langjähriger Gerichtsmediziner saß in der Hocke vor dem großen Fleck und schrieb sich einige Notizen auf einen Block. Als er zu den beiden Ermittlern blickte, meinte er, »Das ist eine sehr gute Frage.«
»Du meinst, es gibt keine Leiche? Was machen wir dann hier?«, fragte Ricardo.
»Nur eine ganze Menge Blut. Egal wer diese Menge verloren hat, überlebt hat er auf keinen Fall!«, sagte er und notierte wieder etwas auf seinem Blatt Papier.
Das Ausmaß der Lache war riesig. Grob geschätzt mussten das an die vier Liter sein, die auf dem dunklen Pflaster verteilt waren. Kemena sah so etwas zum ersten Mal in ihrer Karriere. Alles, was für ihren Mordfall fehlte, war die zu untersuchende Leiche. Deshalb fragte sie, »Wo ist sie hin? Sie kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen. Gelaufen scheint sie ja nicht zu sein, nach der Menge Blut zu urteilen.«
»Da bin ich überfragt«, sagte er. »Aber es gibt Hinweise darauf, dass man die Leiche weggebracht hat.« Dabei zeigte er auf einige Abdrücke neben dem großen Fleck.
Ricardo beugte sich nach unten und besah sich die gut sichtbaren Abdrücke. Das Erste, was ihm auffiel, war, dass sie über keinerlei Profil verfügten. Sie waren einfach nur in der Form von Schuhen. Das nächste, was er erkannte, dass es sich dabei um zwei Personen handeln musste. Die Abdrücke waren unterschiedlich groß. Zudem gab es eine ganze Menge davon. Ein junger Kollege der Schutzpolizei kam dazu und sagte, »Es gab einen Anruf heute am frühen Morgen. Jemand hat zwei Schüsse gemeldet. Die Kollegen haben in der Nacht nichts gefunden, obwohl der Zeuge steif und fest behauptete, sie gehört zu haben. Er war sehr alkoholisiert, weshalb die Spur nicht weiter verfolgt wurde. Jedenfalls gab ein Zeuge in der näheren Umgebung an, dass gegen halb vier heute Morgen ein weißer Lieferwagen geflüchtet ist. Beinahe wäre er davon noch überrollt worden.«
»Haben wir ein Kennzeichen?«, fragte die Ermittlerin und besah sich den Fleck etwas genauer.
»Nein, leider nicht. Aber wir hören uns genauer um und checken die Überwachungskameras.«
»Hatte die Leiche einen Ausweis bei sich?«, fragte Kemena.
Der Gerichtsmediziner schüttelte den Kopf, »Keinen den wir finden konnten. Auch keine Handtasche oder persönliche Sachen.«
Ricardo sah sich in der näheren Umgebung etwas genauer um. Nicht weit entfernt von dem Fleck erkannte er im trockenen Staub Reifenspuren. Er wies seine Kollegin darauf hin und ließ sie vorsichtshalber sichern. Die Spurensicherung sollte sich in der Nähe noch etwas genauer umsehen. Kemena kam wieder auf die Abdrücke zurück und fragte den Gerichtsmediziner, warum sie kein Profil aufwiesen. Jeder Schuh hinterließ eigentlich ein unverkennbares Muster, aber diese hier waren einfach nur ausgefüllte Flecken. Von der Sohle war nichts zu erkennen.
Der Gerichtsmediziner antwortete ihr nachdenklich, »Sie müssen Überschuhe getragen haben. Solche Plastiksäcke um die Schuhe.«
Ricardo fasste zusammen, »Eine verschwundene Leiche. Täter, die ihre Spuren verwischen und Überschuhe tragen. Ein weißer Lieferwagen, der vom Tatort wegrast. Bin ich der einzige, der dabei an ein Killerkommando denkt?«
»Es gibt noch einen anderen Abdruck hier. Sieht aus wie von einem Behälter oder einer Kiste. Was wissen wir darüber?«, fragte seine Kollegin den Gerichtsmediziner.
»Bisher noch nichts. Das wird die Spurensicherung klären müssen.«
Ricardo wandte sich an seine Kollegin, »Kurz nach drei meldet jemand zwei Schüsse. Um halb vier etwa flieht ein weißer Lieferwagen vom Tatort. Die Abdrücke sagen uns, dass es zwei Leute waren, die offensichtlich mit einem Behälter den Leichnam weggeschafft haben. Es gibt Reifenspuren, aber kein Kennzeichen. Das ist alles sehr mysteriös.«
»Du sagst es, Ricardo«, murmelte Kemena Colón. »Hoffen wir, dass uns das Glück ein bisschen hilft. Falls wir wenigstens durch die Kameras ein Bild des Transporters bekommen, ist schon viel gewonnen. Vielleicht findet sich da eine Aufschrift und man kann das Kennzeichen erkennen.« Dann wandte sie sich wieder an den Kollegen der Gerichtsmedizin, »Bekommen wir von dem Blut einen DNA-Abgleich? Den können wir durch das System schicken, vielleicht finden wir so heraus, wer eigentlich unser Opfer ist.«
»Gute Idee«, pflichtete ihr Ricardo bei. »Sieht doch schwer nach Bandenkriminalität aus. Möglicherweise wurde er schon mal erfasst.«
»Wollen wir es hoffen. Lass uns aufs Revier fahren und nachsehen, ob wir so etwas irgendwo in den Akten haben. Ich habe schon Fälle erlebt, in denen wir das Opfer nie gefunden haben. Aber ohne Leiche zu ermitteln ist neu. Das gab es bisher noch nie«, sagte Kemena und wandte sich ab, um zu gehen.
Ricardo folgte ihr in einem bisschen Abstand. Er dachte über das gesagte nach. So lange war er noch nicht im Morddezernat, aber ein Mord ohne Leiche war auf jeden Fall ungewöhnlich. Falls man ein Opfer in einem Haus, einem Auto oder mit Benzin verbrannte, war es schwer, das Opfer zu identifizieren. Aber wenn sogar die ganze Leiche fehlt, dürfte es noch schwieriger werden herauszufinden wer umgebracht wurde. Selbst eine Beerdigung war unter diesen Umständen nicht möglich.
* * *
Am frühen Nachmittag saßen die beiden Ermittler an ihrem Schreibtisch. Die Berichte der Untersuchungen am Tatort waren angekommen. Die Reifenspur, die man dort fand, gehörte zu einem sehr verbreiteten Modell, das auf vielen Autos verwendet wurde. Es war unmöglich, daraus einen speziellen Van zu finden. In ganz Costa Rica konnten das einige Tausend sein, die mit diesen Reifen unterwegs waren. Einen Hinweis lieferte das untersuchte Blut vom Tatort. Die Gerichtsmedizin konnte mit Bestimmtheit sagen, dass es sich bei dem Opfer um eine Frau handelte. Das grenzte das Opfer zumindest auf dieses Geschlecht ein. Nur wer war sie?
Die gefundenen Schuhabdrücke am Tatort wurden mit der Größe 46 und 40 angegeben. Es war also anzunehmen, dass die beiden, die den Leichnam weggeschafft hatten, Männer waren. Es gab kaum Frauen mit so großen Füßen. Das Labor konnte eine DNA-Probe nehmen und sie den Ermittlern zukommen lassen. Der Computer allerdings fand in der erfassten Datenbank keinen Treffer. Da in der Hauptstadt Costa Ricas die Verkehrskameras nicht besonders verbreitet waren und sehr weit von der Gasse entfernt waren, kamen gleich hunderte Transporter infrage. Darüber konnte man den Van auch unmöglich finden. Kemena Colón bekam zwar eine Liste mit den fraglichen Kennzeichen, aber das war eine ziemlich lange Liste.
Es würde Wochen dauern, jedes einzelne Fahrzeug zu überprüfen. Darunter waren Bäcker, die ihre Ware auslieferten oder Wäschereien, die damit durch die Hauptstadt fuhren. Der Abdruck des Behältnisses brachte keine Informationen ein. Es musste sich dabei um eine besondere Kiste handeln, die aber nicht in den Daten des Reviers verzeichnet war. Was man fand, waren zwei Patronenhülsen in unmittelbarer Nähe der Blutlache. Aber auch das Kaliber 9 mm brachte die beiden Beamten nicht weiter. Alle Spuren, die in der Gasse gefunden wurden, führten geradewegs in eine Sackgasse.
Ricardo überprüfte die Fälle der letzten 15 Jahre auf seinem Computer. Es gab kein Verbrechen in Costa Rica, bei dem man von einem Mord ausgehen musste, ohne eine Leiche zu finden. Sollten sie es hier mit dem perfekten Verbrechen zu tun haben? Das war unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Die zweifache Mutter saß an ihrem Schreibtisch und starrte auf den Monitor ihres Computers. Seit Dienstbeginn hatte sie schon fast zwei Schachteln Zigaretten vernichtet und trank eine Tasse Kaffee nach der anderen. Es gab nicht den kleinsten Ansatz, dem sie nachgehen konnten, um wenigstens ein Opfer zu finden.
Alles, was sie wussten, war, dass es eine Frau war. Aber welche der 170.000, die in dieser Stadt lebten? Falls das Opfer nur zu Besuch in der Stadt war und vielleicht aus einem anderen Land stammte, war sie unmöglich zu finden. Aufgrund der sonstigen Spuren am Tatort gab die Gerichtsmedizin die Größe der toten Frau an. Sie sollte zwischen 1,55 m und 1,70 m liegen. Auch das konnten tausende sein. Kemena durchforstete die Liste der verschwundenen Frauen. Dort fand sie so viele Treffer, dass es aussichtslos war auf die richtige zu treffen. Die Ermittler wussten fast nichts. Es gab nicht den geringsten Ansatz auf einen Erfolg.
Die Stimmung in dem Büro war ziemlich bedrückt. Sie hatten den Auftrag einen Mord aufzuklären, bekamen aber so wenige Hinweise, dass es unmöglich war. Ricardo saß über den Berichten und stützte seinen Kopf mit den Händen ab. Er schüttelte leicht den Kopf und murmelte, »Wir geben dir so viel, und du uns fast nichts! So können wir dir nicht helfen.«
Kemena brachte nur ein trauriges Lachen zustande. »Spätestens wenn dir die Akte etwas erzählt, ruf ich in der Psychiatrie an.«
»Irgendjemand muss uns etwas sagen können. Egal ob es jetzt die Akte ist oder der Greenkeeper vom nächsten Golfplatz«, sagte er enttäuscht.
»Ricardo, wir haben einige Zeugenaussagen von den umliegenden Bewohnern, aber wir suchen eine einzige Nadel in einem Haufen Stroh, der die Größe von Südamerika aufweist. Das schlimmste allerdings ist, dass wir nicht wissen, aus welchem Material die Nadel besteht.«
»Gibt es irgendeine Datenbank auf der Welt, die das für uns herausfinden könnte?«
Mit einem missmutigen Lächeln sagte sie, »Höchstens die Datenbank der NSA. Die hören alles und jeden ab. Die wissen sicher schon lange, welches Opfer wir suchen.«
Ricardo lächelte, »Dann lass uns dort anrufen. Vielleicht bekommen wir so wenigstens einen Hinweis auf unser Opfer.«
»Alles, was wir tun können, wäre bei Interpol nachfragen, ob es so etwas schon einmal gegeben hat. Ohne unser Opfer zu identifizieren, können wir nicht ermitteln und ohne Leiche bleiben uns nur Vermutungen. Ich gebe das an unseren Chef weiter und erkläre es ihm und du kümmerst dich um die Berichte«, resignierte Kemena.
Ihr Kollege nickte nur stumm und kümmerte sich um die Berichte ihres vorangegangenen Falls. Kemena stellte eine kurze Anfrage bei Interpol in Lyon, ob es solche Morde schon irgendwo auf der Welt vorher schon gab. Immerhin war die Organisation, die ihren Hauptsitz in Frankreich hatte, für derlei Informationen zuständig. Sie war genau für so einen Fall überhaupt erst entstanden. Interpol war dafür zuständig, sämtlichen Polizeibehörden Informationen zur Verfügung zu stellen.
Als sie mit der kurzen Anfrage an Lyon fertig war, begab sie sich mit den, bis dahin äußerst dünnen Akten unter dem Arm, zum Büro ihres Chefs. Ohne ein Opfer oder auch nur den geringsten Hinweis von den Spuren am Tatort konnten sie keine Ermittlung starten. Nach einem zähen Ringen musste auch er einsehen, dass so eine Ermittlung nichts werden konnte. Kemena Colón erwähnte die von ihr gestellte Anfrage an Interpol und würde ihn sofort informieren, was dabei herauskam. Damit war er auch zufrieden und packte den Schnellhefter in den Aktenschrank neben seinem Schreibtisch. Kemena kehrte wieder in ihr Büro zurück und setzte sich an die noch fehlenden Berichte, die liegengeblieben waren, nachdem der Fall am Morgen auf ihrem Tisch gelandet war.
* * *
1. Kapitel
Bahamas, Nassau
Am Himmel über der Karibikinsel stieg ganz langsam der große Feuerball über den Horizont und tauchte die kleinen Schleierwolken in ein majestätisch leuchtendes Licht. Es war noch früh am Samstagmorgen als Emilia bereits wach war. Sie hatte es sich auf der großen Liege auf der Terrasse gemütlich gemacht. Ihr leichtes Nachthemd mit der aufgedruckten Disneyfigur flatterte im leichten Wind, der von Westen kam. Nur noch zwei Wochen trennten sie und ihre Halbschwester noch von den langen Sommerferien. Die letzten Ferien, bevor sie in die Schule durften. Sie hatte kaum geschlafen in dieser Nacht.
Ihr Luftgewehr hing noch in ihrem Waffenschrank. Wie jeden Abend hatte sie ihn abgeschlossen und den Schlüssel an Dolores gegeben. Die drei Erwachsenen lagen, wie ihre Halbschwester noch im Bett und schliefen. Die große Uhr an der Wand zeigte gerade kurz nach vier Uhr am Morgen. Sie war lange wach in ihrem Bett gelegen und hatte versucht wieder einzuschlafen. Es funktionierte nicht mehr. Die letzten Tage waren mehr als genug Schlaf möglich, jetzt konnte sie einfach nicht mehr. Heute am frühen Morgen lag sie hier und beobachtete das große Schauspiel der Natur. Wie jeden Tag, an dem die Sonne ihren Kreis über den Himmel zog. Bisher konnte sie das noch nie beobachten.
Ihr ganzes Leben stand sie immer erst auf, wenn der Feuerball schon tief am Himmel stand. Sie hatte noch nie beobachtet, wie die Sonne ihren Lauf begann und sich langsam erhob. Alles um sie herum war noch friedlich. Die ganzen Vögel erwachten erst nach und nach und begannen ihr fröhliches Singen. Eigentlich wollte sie schon auf der Terrasse liegen und ihre Papierscheiben, mit den aufgedruckten Ringen, durchlöchern. Solange ihre Eltern aber noch im Bett lagen, kam sie nicht an den Schlüssel für ihre Waffen. Dann bemerkte sie leise Schritte oben an der Treppe. Sie drückte sich nach oben und linste über die Kante der Liege.
Oben an der Treppe kam ihr Vater aus dem Schlafzimmer. Noch bevor er die erste Stufe erreichte, sprang sie von der Liege und rannte zum Fuß der Treppe, um auf ihren Vater zu warten. Er fing an zu lachen als er seine Tochter mit den nackten Beinchen und ihrem Nachthemd sah. Als er unten war, hob er seine Tochter an und drückte sie an sich. Sie gab ihm einen dicken Kuss und fragte als Erstes nach ihrem Schlüssel zum Waffenschrank. Micha begann zu lachen und flüsterte, »Den muss ich erst holen, Mäuschen, aber so früh am Morgen sollten wir noch leise sein. Die anderen schlafen noch.«
»Du hast es aber versprochen, Papa«, beschwerte sie sich.
»Was soll ich versprochen haben?«, fragte er verwirrt. Er konnte sich nicht erinnern, seiner Tochter etwas versprochen zu haben.
»Dass wir heute eine Überraschung bekommen«, sagte sie.
Micha lächelte sie an, »Ja, ich habe euch eine Überraschung versprochen, aber ich habe nicht gesagt, was. Außerdem ist sie noch nicht hier, ich muss sie erst noch holen. Das kann ich aber noch nicht so früh am Tag. Nach dem Frühstück gehts los.«
Er trug seine Tochter mit in die Küche und stellte einen kleinen Topf auf den Herd. Dann hob er sie weiter nach oben und sagte, »Dein Schlüssel liegt da oben auf dem Schrank, mein Schatz.«
Emilia lächelte und streckte ihre kleine Hand nach oben. Sie fühlte die obere Kante des Hängeschranks. Dann fand sie den kleinen Schlüssel und hielt ihn wie ein Gewinn nach oben. Micha setzte sie ab. Sofort rannte sie nach oben in ihr Kinderzimmer. Wenige Sekunden später kam sie mit ihrem Luftgewehr wieder nach unten. Wie üblich legte sie die Waffe auf das Sofa und wartete auf das Magazin, was sie von ihrem Vater bekam. Das legte sie neben ihre Waffe und rannte dann wieder in die Küche.
Micha hatte Milch in den Topf gegeben und ihre Tasse bereitgestellt. Er bereitete ihren Kakao zu und setzte sich mit ihr an den Tisch. Emilia versuchte ihn auszufragen, was es für eine Überraschung gab, wie sie es in den letzten Tagen schon öfter versuchte. Seit er es angekündigt hatte, versuchten die beiden Mädchen irgendwelche Informationen aus ihm herauszuholen. Bisher gab er keinen Hinweis dazu heraus. Das änderte sich jetzt und er sagte kryptisch, »Ihr werdet es lieben, weil es so flauschig ist!«
Seine Tochter dachte darüber nach, was das sein könnte. Aber so sehr sie auch überlegte, kam sie nicht hinter das Geheimnis. Die nächste, die nach unten kam, war die nur in Unterwäsche gekleidete Dolores. Sofort stand Micha auf und machte ihr einen Kaffee. Dolly setzte sich neben Emilia, die als Erstes an ihrer Mami hing und auch ihr einen feuchten Kuss aufdrückte. Michael stellte eine Tasse mit Kaffee vor sie und gab auch ihr einen dicken Kuss. Emilia war clever und versuchte Dolly auszufragen welche Überraschung sie und Valeria bekämen.
»Ich weiß es nicht, Emilia«, bekannte Dolores. »Nur Papa weiß, was ihr bekommt. Er hat es weder euch, noch uns verraten. Das einzige, was ich weiß ist, dass wir uns darüber freuen werden.«
Micha setzte sogar noch einen drauf, »Ihr werdet es lieben! Aber heute Mittag brauchen wir alle Hände dafür.«
Nun waren Mutter und Tochter gleichermaßen verwirrt. Die beiden versuchten, aus den wenigen Hinweisen schlau zu werden. Michas Lachen wurde immer breiter, je mehr Ideen die beiden miteinander entwickelten. Nachdem auch Valeria und Leonie aus dem Bett kamen, die ebenfalls keine Ahnung hatten, was sich Micha ausgedacht hatte, saßen sie alle vier am Tisch und rätselten. Irgendwann stand er auf und nahm sich den Autoschlüssel. Er verabschiedete sich von seinen Ladys und machte sich auf den Weg, die Überraschung zu holen. Mütter und Töchter rätselten noch immer darüber. Leonie fing sogar an, das ganze Haus zu durchsuchen. Nach dem Hinweis, dass sie alle Hände brauchten, war sie sicher, dass es irgendwo eine Veränderung gegeben haben musste. Allerdings fand sie nichts, was darauf hinwies.
Micha brauchte fast zwei Stunden, bis er wieder mit leeren Händen in der Tür stand. Die Haustür ließ er offen und fing an seine Damen aufzuklären, »Ihr müsst mir jetzt versprechen ganz ruhig zu sein und euch hier auf den Teppich zu setzen. Alle vier nebeneinander. Bitte nicht schreien oder streiten. Jeder bekommt sein Geschenk in die Hand und darf erst dann die Augenbinde abnehmen, die ich euch jetzt aufsetze.«
Seine Ladys waren jetzt restlos verwirrt, kamen aber seiner Aufforderung nach und setzten sich nebeneinander auf den Teppich. Micha zog Augenbinden aus der Tasche. Jede bekam eine und setzte sie auch auf. Sie hörten ganz genau hin. Die nächsten paar Minuten hörten sie nur ein Klappern und wie Michael irgendwas von draußen hereinbrachte. Dann schloss er die Haustür und auch die Tür zur Terrasse. Leonie war, die erste, die ihr Geschenk in die Hand bekam. Es war warm, furchtbar weich und bewegte sich auf ihrer Hand. Sie wusste sofort, was Michael für die ganze Familie besorgte. Das Geschrei wäre riesengroß. Valeria und Emilia warteten ungeduldig darauf, was sie bekamen. Dann hatten alle ihr Geschenk und durften die Augenbinden abziehen.
Jede von ihnen hatte eine ganz junge Katze in den Händen, die sich von der Körperwärme angezogen an sie drückten. Valeria konnte nicht glauben, was sie da an ihrer Brust auf den Händen balancierte. Aber Michael hatte ihr im Rahmen ihres letzten Falls einen Wunsch gewährt. Nun hatte er sein Versprechen eingelöst. Sie hatte sich nämlich ein Haustier gewünscht. Leonie liebte Katzen und wollte schon immer welche haben. Bisher waren sie aber immer wieder zu lange außer Haus und hatten niemanden, der sich um sie kümmern konnte. Auch Dolores mochte Katzen und die beiden Mädchen waren immer hocherfreut, wenn sie eine davon streicheln konnten. Jetzt hatten sie alle eine auf dem Arm.
Am Eingang standen mehrere große Pakete, die Michael mitbrachte. Sie enthielten alles Mögliche für die neuen kleinen Bewohner des Hauses. Das größte, was dort auf den Aufbau wartete, waren sechs Kratzbäume. Daneben gab es Futter und Wassernäpfe für die Miezen und auch eine Menge an Spielzeug, um sie zu beschäftigen. Für Emilia war das schießen für diesen Tag komplett erledigt. Noch bevor sie auch einen Schuss abgab, landete ihr Gewehr wieder im Schrank. Die ganze Familie schraubte an den Kratzbäumen für die neuen Bewohner herum, die sich ihr neues Heim ganz genau ansahen. Alle vier Katzen liefen an den Wänden jeden einzelnen Raum des Hauses ab.
Valeria sprang wie ein Gummiball durch das große Wohnzimmer. Sie hatte den Wunsch, ein Haustier zu haben. Ihr Vater musste ihr versprechen, ein Haustier zu besorgen. Eigentlich dachte die Kleine an einen Hamster oder kleinere Tiere, aber er hatte stattdessen gleich für jede Frau seiner Familie eine Katze besorgt. Er achtete auch noch für jedes Familienmitglied auf die Farbe des Fells. Leonie bekam eine Katze mit einem fast weißen Fell, nur die Beinchen waren mit ein bisschen dunklerem Fell gesprenkelt. Dolores bekam eine getigerte Katze, deren helles Fell tausende kleine dunkle Punkte aufwies. Die Tiere der beiden Kinder brachte ihre Augen zum Leuchten.
Valerias Kater war fast schwarz, mit einigen weißen Streifen, vor allem die Pfoten sahen aus wie wenn er weiße Socken trug. Emilias Kater hatte eine besondere Mischung aus Weiß und rötlichem Fell. Alle vier waren gerade wenige Wochen alt. Sie stammten alle aus dem gleichen Wurf und waren Bruder und Schwester. Eigentlich wollte Michael die Tiere aus einem Tierheim holen. Als er es besuchte fand er zwar einige Katzen, aber sie waren schon deutlich älter und nicht gerade anhänglich wie er es sich vor allem für die Kinder wünschte. Seinen Damen war das ziemlich egal. Emilia und ihre Schwester folgten ihren Katzen in einigem Abstand auf ihrem Weg durch das Haus.
Michael rief sie in die Küche. Er hatte für die kleinen spezielle Katzenmilch vorbereitet, die er mit etwas Wasser verdünnte. Außerdem stellte er Trockenfutter für sie bereit und zur Feier des Tages bekamen sie Thunfisch aus der Dose im eigenen Saft. Die vier Leisepfötchen kletterten fast an seinem Hosenbein nach oben als sie rochen, dass es Fisch gab. Beide Kinder sollten ihren Haustieren ihr Essen selbst auf den Boden stellen. Die Katzen waren nicht die einzigen auf dem Boden, denn die beiden Mädchen setzten sich hinter ihre Schützlinge und strichen ihnen durch das samtweiche Fell. Dolores und Leonie hielten ihren Mann im Arm und erfreuten sich am Anblick der Kinder. Sie waren begeistert.
Insgesamt hatte die Familie im ganzen Haus sechs Kratzbäume aufgestellt. In den Kinderzimmern stand jeweils eine kleinere Ausgabe. Im Schlafzimmer der Eltern gab es einen größeren für die beiden Katzen der Mütter und zwei weitere standen im Wohnzimmer. Die waren deutlich größer und reichten bis zur Decke hinauf. Der letzte fand seinen Platz im Arbeitszimmer. Das Spielzeug für die Neuzugänge landete auf dem Boden des Wohnzimmers und war immer verfügbar. Mit den beiden Mädchen war nichts mehr anzufangen. Den ganzen Tag liefen sie den Vierbeinern hinterher und konnten nicht aufhören, sie zu streicheln.
Leonie und Dolores mussten die Mädchen ein bisschen bremsen. Den Katzen war es gar nicht recht andauernd verfolgt zu werden und sie wehrten sich dagegen mit den verfügbaren Waffen. Die scharfen Krallen an den Beinen konnten schwere Kratzer verursachen. Vor allem war es schwer, den Hieben der Kätzchen auszuweichen. Sie waren verflucht schnell und schlugen auch sofort zu, wenn ihnen etwas nicht gefiel.
Die beiden Kinder waren sich darüber bewusst, aber die kleinen neuen Bewohner des Hauses waren so flauschig, dass sie ihnen keine Ruhe gönnten. Michael ging neben seinen beiden Mädchen auf die Knie und nahm sie in den Arm. Dann sagte er, »Ihr müsst ihnen ein bisschen Freiraum lassen. Stellt euch mal vor, ich würde euch beiden Zaubermäuse einfach so in ein neues Haus stellen. Ihr würdet euch auch zuerst alles genau ansehen. Die vier wollen das auch. Sie kennen sich hier nicht aus und brauchen ein bisschen Zeit, sich einzugewöhnen.«
Leonie kam dazu und fragte, »Habt ihr euch schon Namen für eure beiden Schmusetiger ausgesucht?«
Die beiden Mädchen schauten sich erschrocken an. Sie brauchten ja noch einen Namen für die neuen Bewohner. Alle vier Damen des Hauses setzten sich an den großen Tisch und überlegten sich Namen für die Katzen. Es gab so viele unterschiedliche zur Auswahl. Emilia und Valeria hatten tausende Ideen, konnten sich aber nicht entscheiden. Michael versorgte seine geliebten Ladys mit frischem Fruchtsaft und setzte sich dazu.
Währenddessen konnten die vier Kätzchen ihre neue Heimat erkunden. Das Haus, ihre neue Heimat, war riesengroß und sie brauchten viel Zeit sich alles anzuschauen. Untereinander kannten sich die vier schon. Sie waren schließlich Geschwister und verbrachten schon ihre gesamte Lebenszeit miteinander. Solange die fünf Menschen am Tisch Namen diskutierten, machten sie sich ungestört auf Entdeckungsreise.
Das Erste, was sie aus ihrer Perspektive fanden, waren die fast unbegrenzten Möglichkeiten sich zu verstecken. Sie konnten unter das große Sofa krabbeln, die ganzen Schränke boten ebenfalls wunderbare Versteckmöglichkeiten, damit die beiden Mädchen nicht an sie herankamen. Zwei von ihnen beendeten ihr Erkunden des unteren Stockwerks und setzten die Besichtigung oben fort. Auch unter den Betten gab es genügend Platz, sich zu verbergen. Allerdings gefiel ihnen das obere der Betten auch ganz gut. Hochspringen funktionierte nicht, aber sie konnten an den Decken nach oben klettern. Hier war es weich und kuschelig, was geradezu prädestiniert war sich einzurollen und ein bisschen zu schlafen.
Dolores Katze sollte Tiger heißen. Das passte am besten zu ihrem getigerten Fell. Leonie wollte ihre Katze Princess nennen. Valeria und Emilia konnten sich nicht entscheiden, welchen Namen sie ihren neuen Freunden geben sollten. Obwohl es ein Kater war, dachte Valeria an Calimera, war sich aber nicht sicher, ob der ausgesuchte Name zu einem Kater passte. Dolores beruhigte sie damit, dass ihre Katze auch Tiger heißen sollte, obwohl es ein Mädchen war. Für Emilia war der Fall klar. Ihr Kater mit dem rötlichen Fell musste einfach Garfield heißen. Leonie fing an zu lachen und sagte zu Michael, »Liebling, wenn du das nächste Mal Lasagne machst, brauchen wir für Emilias Kater eine eigene Schüssel!«
»Vermutlich werde ich dann jeden Tag Lasagne machen müssen. Garfield im Fernsehen frisst ja auch nichts anderes«, grinste er seine Frau an.
Dann aber fiel Emilia etwas anderes ein, was ihr Sorgen bereitete. »Papa, bleiben die Katzen nur im Haus?«
Er nickte und erklärte dann, »Vorerst bleiben sie im Haus. Erst in ein paar Wochen dürfen sie auch in den Garten.«
»Dann können Mama und ich gar nicht mehr schießen. Nicht, dass wir unsere Katzen treffen«, sagte sie mit fast nassen Augen. Die Katzen waren ja schön, aber ihr liebstes Hobby wollte sie deswegen nicht aufgeben.
Micha hatte sich dafür aber schon eine Lösung einfallen lassen. In den nächsten Tagen würde eine Truppe Bauarbeiter anrücken und den beiden einen richtigen Schießstand bauen, auf den ihre Kätzchen nicht gelangen konnten. Er hatte sich sogar dafür entschieden, eine unterirdische Anlage zu bauen, damit Emilia zusammen mit ihm trainieren konnte. Das sollte eine weitere Überraschung werden. Den geplanten Teil für oben erklärte er seiner Tochter, damit sie beruhigt war.
Den ganzen restlichen Tag verbrachten die beiden Mädchen damit, ihren Katzen zu folgen. Die Eltern hatten ihnen auch erklärt, dass die vier flauschigen Bewohner auch zu ihnen ins Bett durften. Allerdings durften sie die Katzen nicht dazu zwingen. Das mussten sie schon selbst wollen und sich dann zu den Kindern legen. In den ersten Tagen würde es ohnehin nicht dazu kommen. Noch waren die vier zu ängstlich und Emilia und Valeria waren viel zu hektisch, was auf die Stubentiger abschreckend wirkte.
Dolly und Leonie bedankten sich für das liebe Geschenk bei ihrem Mann. Sie hatten sich schon immer Katzen gewünscht und da jetzt immer jemand im Haus war konnten sie auch versorgt werden. Die Kinder müssten sich halt um sie kümmern, wenn die Agenten im Einsatz waren. Zusätzlich hatten sie ja noch Unterstützung durch die beiden Studentinnen, die für die beiden Kinder sorgten. Nur Bernand Roussel, ihr Verbindungsmann, würde Probleme bekommen, wenn er zu Besuch kam. Er nannte eine Katzenhaarallergie sein Eigen und würde dauernd Niesen.
* * *
2. Kapitel
Frankreich, Lyon
Die Serverschränke in den Kellerräumen liefen auf vollen Touren. Einige Computerspezialisten durchsuchten die Daten, die dort gespeichert waren. Es gab eine Anfrage aus Costa Rica über einen Mord ohne Leiche. Aber auch die Daten des Servers gaben keinen Aufschluss. In der ganzen Geschichte gab es so einen Fall noch nie. Morde passierten rund um die Welt täglich, aber dazu gab es jedes Mal eine Leiche. In San José fand man nur Spuren, die man nicht zuordnen konnte.
Rhonda Miller, die Direktorin der Organisation, betrat gerade das Hauptgebäude im Herzen von Lyon. In der Hand hielt sie eine Tüte des kleinen Cafés schräg gegenüber. Wie jeden Morgen besorgte sie sich dort ein kleines Frühstück bevor sie ihren Arbeitstag begann. In ihrem Büro stapelten sich die Aufträge, was ihre Laune etwas schmälerte. Ihr Sekretär nahm ihr zwar vieles ab, aber sie war die Chefin des gesamten Orchesters. Vieles davon konnte sie nur selbst erledigen.
Als sie das Vorzimmer ihres Büros im 23. Stockwerk betrat, erwartete sie bereits ihr Sekretär. In ihrem Büro wartete Bernand Roussel auf sie. Er war erst aus Italien zurückgekehrt und überbrachte der Direktorin gute Nachrichten. Das Team um Amy Vaughn kam bei ihrem Auftrag gut voran und er hatte für sie einen Zwischenbericht vorbeigebracht. Das wollte er noch erledigen, bevor er wieder nach Nassau flog und sich um das Team von Liz Croll kümmerte.
Roussel hatte nach seinem Ruhestand als Direktor die Betreuung der beiden Teams übernommen. Seitdem pendelte er regelmäßig zwischen Bologna in Norditalien und Nassau auf den Bahamas hin und her. Er selbst wohnte in Nassau. Das Klima dort tat ihm gut. Nach seiner Alkoholsucht, die er mithilfe von Leonie und ihrem Mann Michael überwinden konnte, ging es ihm wieder richtig gut. Seit fast fünf Jahren war er nun trocken. Der Flachmann in seiner Brusttasche enthielt nur noch klares Wasser. Früher war er gefüllt mit Brandy oder anderem hochprozentigem.
Roussel war beinahe 70 Jahre alt und hatte das vorgeschriebene Rentenalter schon lange überschritten. Der alte Haudegen weigerte sich aber beharrlich in Rente zu gehen. Er wollte seine Aufgabe nicht an einen anderen abzugeben. Er wusste sonst nichts mit sich anzufangen. Auch sein alter Weggefährte im Keller, der für die Waffen zuständig war, François Pierlot dachte nicht an Rente. Er war zwar nur ein Jahr jünger als Bernand Roussel, aber ihre Aufgaben wollten sie nicht den Frischlingen überlassen. Rhonda war das eigentlich ganz recht. Solange die beiden alten noch da waren, hatte sie bei Problemen noch zwei erfahrene Ansprechpartner.
Auf Rhondas Tisch lag auch ein kurzer Bericht aus San José. Sie hatte Anweisung gegeben, über völlig neue Verbrechen informiert zu werden. Die Direktorin wollte informiert bleiben, was auf der Welt um sie herum passierte. Neuartige Waffen besprach sie mit François Pierlot, der ihr alles erklären konnte, was sich in diesem Bereich machen ließ. Von Roussel konnte sie in einigen Situationen lernen, wie sie damit umgehen sollte. Was sie direkt verstand, war, dass ihre Teams in Bologna und Nassau ohne politische Einmischung agierten. Solange sie nicht ihren Abschlussbericht in Händen hielt, kümmerte sie sich nicht um irgendwelche Schreiben von Politikern oder Anwälten.
Das Problem mit den Weisungen kannten sie schon aus Deutschland. Dort war die angeblich unabhängige Justiz nur auf dem Papier vorhanden. Der Staatsanwalt durfte aber keine Ermittlungen aufnehmen, wenn es seinem Justizminister nicht gefiel. Er war weisungsgebunden, was auch bedeutete, sie durften offiziell keine europäischen Haftbefehle ausstellen. Das hatte der Europäische Gerichtshof schon 2019 entschieden. Diese Haftbefehle mussten daher die Richter ausstellen. Deshalb konnten deutsche Politiker auch treiben, was sie wollten, ohne eine Strafverfolgung fürchten zu müssen. Der Justizminister konnte einfach entscheiden, in diesen Fällen nicht zu ermitteln und die Staatsanwälte mussten sich daran halten.
Ihren Teams war das völlig egal. Liz Croll hatte bei ihrem ersten Fall schon die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik wegen Mordes direkt im Bundestag während einer Sitzung verhaftet. Da brauchte man keinen Staatsanwalt. Amy, die Chefin ihres Teams in Italien, hatte das bereits verinnerlicht. Ihr war zwar noch kein Schlag gegen einen hohen Politiker gelungen, aber auch in diesen Fällen ermittelte sie sorgfältig.
Das neue Verbrechen, was ihr aus Costa Rica gemeldet wurde, machte sie stutzig. Ein Mord ohne Leiche, bei dem man nicht mal den kleinsten Rest auffinden konnte, war mehr als ungewöhnlich. Sie besprach den Fall mit Bernand Roussel, der so etwas in seiner Karriere auch noch nie erlebte. Dass man eine Leiche vom Tatort irgendwo anders ablegte, kam beinahe täglich vor, aber ganz ohne Spur? Nur ein großer Blutfleck wurde auf dem Pflaster entdeckt und die Gerichtsmedizin stellte fest, dass so ein großer Blutverlust definitiv tödlich war. Auch ihre Daten lieferten keinen ähnlichen Fall, in dem so etwas schon einmal vorkam.
Bernand Roussel kam auf die Idee, den ganzen Fall Michael vorzulegen. Er konnte anhand einiger Spuren mit seiner Logik meiste einen Ansatz finden, den die Polizei in Costa Rica verfolgen konnte. Rhonda hielt das für eine gute Idee und gab ihm eine Ausgabe des Falles mit auf seinen Heimflug. Nachdem Roussel sich auf den Weg zu seinem Flugzeug machte, versuchte Rhonda einen Sinn dahinter zu finden. Alleine die gefundenen Fußspuren sollten eigentliche einen Hinweis liefern, aber ohne Sohle war es aussichtslos. Alle Spuren verliefen sich im Sand.
Als Ermittlerin wusste Rhonda, dass es so etwas wie das perfekte Verbrechen nicht gab. Es fand sich immer ein noch so kleiner Faden, der die Polizeibeamten auf die Spur des Täters brachte. Das größte Problem war einfach nur den richtigen Ansatz zu finden. Die Direktorin entschied auch Mike, dem Hacker von Liz die bisher vorhandenen Ergebnisse zu schicken. Er sollte sich das ebenfalls einmal ansehen. Vielleicht fand er irgendwas verwendbares.
* * *
Costa Rica, San José
Kemena lag die halbe Nacht wach in ihrem Bett. Der Fall ließ sie keine Ruhe finden. Vor ihrem inneren Auge sortierte sie die Hinweise immer wieder neu. Es war doch nicht möglich, dass alles eine Geschichte erzählte und keinen Rückschluss auf die Täter erlaubte. Sie musste etwas übersehen haben. Die ganze Nacht überlegte sie, welchem kleinen Hinweis sie noch nachgehen konnte. Mehr als den Fall zu den Akten geben konnte sie nicht.
Eigentlich brachte sie ihre Arbeit nie mit nach Hause. Hier zählten nur ihre Kinder, aber nicht die Fälle aus dem Revier. Die Grenzen waren fließend, aber normalerweise legte sie die Überlegungen ab, wenn sie nach Hause fuhr. Heute hatte das aus irgendeinem Grund nicht funktioniert. Nach Feierabend versuchte sie sich mit ihren Kindern abzulenken. Ihre Gedanken drifteten trotzdem immer wieder zu dem ungewöhnlichen Fall.
Anhand der Größe der am Tatort gefundenen Blutlache kamen die Mediziner auf einen Blutverlust von fünf Litern. Das Opfer war also nahezu noch dort ausgeblutet. Ungewöhnlich war das, obwohl man das Opfer offensichtlich wegtrug, keine einzelnen Tropfen zurückblieben. Kemena konnte sich nicht vorstellen, wie das gegangen sein sollte. Wenn das Opfer blutet und fünf Liter vergoss und man es dann vom Ort des Verbrechens wegschaffte, musste es zwingend Tropfen geben, die senkrecht nach unten fielen. An ihrem Tatort waren solche Tropfen aber nicht gefunden worden.
Früh am Morgen, als die Sonne langsam wieder ihrem Platz am Himmel eroberte, quälte sie sich aus dem Bett. Schlafen konnte sie fast gar nicht. Colón war