Gary, der Junge aus Amerika: Sophienlust Extra 89 – Familienroman
Von Gert Rothberg
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In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg.
In dem Hotelzimmer, das Sigrid Gordon für sich und ihren Sohn gemietet hatte, herrschte bedrückende Stille. Nur das Rascheln der Zeitung war manchmal zu hören. Sigrid hatte sich mit einigen Tageszeitungen an den kleinen Couchtisch gesetzt und prüfte sehr sorgfältig die Inserate. Sie war eine immer noch sehr attraktive Frau Mitte der Dreißig. Ihr braunes Haar fiel von einem Seitenscheitel in einer großzügigen Welle bis zum Kinn, auf ihrer frechen Stupsnase saß eine moderne Brille. »Mami?« Das war Gary, Sigrids fast zwölfjähriger Sohn, der in diesem fragenden, langgezogenen Ton nach ihr rief. Er saß am Fenster und starrte lustlos auf die belebte Straße der großen Stadt. »Ja, Gary?« Sigrid ließ die Zeitung sinken. Sie trug den gleichen knallroten Pullover wie ihr Sohn mit den gleichen schwarzen Einsätzen an der Schulter. Nur das Sportabzeichen auf dem Ärmel fehlte bei ihr. »Warum kaufst du mir keine Hockey-Schlager?« Die junge Frau seufzte. »Erstens heißt es der Hockey-Schläger, und zweitens hast du einen. Er ist bei dem Gepäck, das wir erst dann auspacken können, wenn wir eine Wohnung haben.« »Aber du könntest mir trotzdem eine Hockey-Schläger kaufen, Mami. Dann könnte ich ein wenig trainieren.« »Gary!« Sigrid sagte das so vorwurfsvoll, dass der Junge sich erstaunt zu ihr umdrehte.
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Gary, der Junge aus Amerika - Gert Rothberg
Sophienlust Extra
– 89 –
Gary, der Junge aus Amerika
Unveröffentlichter Roman
Gert Rothberg
In dem Hotelzimmer, das Sigrid Gordon für sich und ihren Sohn gemietet hatte, herrschte bedrückende Stille. Nur das Rascheln der Zeitung war manchmal zu hören.
Sigrid hatte sich mit einigen Tageszeitungen an den kleinen Couchtisch gesetzt und prüfte sehr sorgfältig die Inserate. Sie war eine immer noch sehr attraktive Frau Mitte der Dreißig. Ihr braunes Haar fiel von einem Seitenscheitel in einer großzügigen Welle bis zum Kinn, auf ihrer frechen Stupsnase saß eine moderne Brille.
»Mami?«
Das war Gary, Sigrids fast zwölfjähriger Sohn, der in diesem fragenden, langgezogenen Ton nach ihr rief. Er saß am Fenster und starrte lustlos auf die belebte Straße der großen Stadt.
»Ja, Gary?« Sigrid ließ die Zeitung sinken. Sie trug den gleichen knallroten Pullover wie ihr Sohn mit den gleichen schwarzen Einsätzen an der Schulter. Nur das Sportabzeichen auf dem Ärmel fehlte bei ihr.
»Warum kaufst du mir keine Hockey-Schlager?«
Die junge Frau seufzte. »Erstens heißt es der Hockey-Schläger, und zweitens hast du einen. Er ist bei dem Gepäck, das wir erst dann auspacken können, wenn wir eine Wohnung haben.«
»Aber du könntest mir trotzdem eine Hockey-Schläger kaufen, Mami. Dann könnte ich ein wenig trainieren.«
»Gary!« Sigrid sagte das so vorwurfsvoll, dass der Junge sich erstaunt zu ihr umdrehte. Sein Gesichtsschnitt war dem seiner Mutter so ähnlich, dass es fast komisch wirkte. Aber seine Haare waren kurz geschnitten, und seine Augen waren um einiges dunkler als die seiner Mutter.
»Bitte, bemühe dich, etwas besser Deutsch zu sprechen. Wir sind nun einmal nicht mehr in Amerika. Und das mit dem Hockey-Schläger kannst du vergessen. Hier in der Stadt gibt es doch gar keine Möglichkeit, Hockey zu spielen. Sobald ich Nachricht aus Sophienlust bekomme, werde ich anrufen und fragen, ob du dort spielen kannst. Dann nimmst du deinen Schläger dorthin mit.«
»Ph!«, machte Gary. »Ich will ja nicht in diese Lust, diese Sophien … Diese Sophienlust. Dort soll ich nur lernen, immer nur lernen.«
Während Gary sich mit tragischem Gesichtsausdruck über sein zukünftiges Schicksal ausließ, schlug er mit der Faust auf die Fensterbank.
Seine Mutter tat so, als bemerke sie es nicht. Sie wusste, es war alles schwer genug für ihn, und zuweilen kam sie sich richtig schlecht vor, weil sie mit ihren Plänen die Wünsche ihres Sohnes so durchkreuzt hätte. Aber sie hoffte, dass es zu seinem Besten sein würde. Sie hatte von Sophienlust gehört und sich sofort darum bemüht, Gary dort unterzubringen. Aber noch hatte sie keine Zusage bekommen.
Sigrid sah, dass Gary sich mit einem bockigen Gesicht wieder auf das Geschehen auf der Straße konzentrierte und musste lächeln. Gary hatte noch nie eine Großstadt kennengelernt. Er war auf der unendlich weiten Farm seines Vaters aufgewachsen und dort sehr glücklich gewesen. Genauso glücklich wie sie. Für den Jungen war jedoch die Umstellung nach dem Tod seines Vaters doppelt schwer. Er hatte seine Umgebung und seine Freunde verloren und würde sich hier nun auf eine ganz andere Art bewähren müssen.
»O Mami«, begann er nun wieder zu jammern, »warum sind wir hierhergeflogen? Es ist ganz scheußlich, entsetzlich …«
Sigrid legte die Zeitung beiseite, erhob sich und trat zu ihrem Sohn. Mit einer tröstenden Geste legte sie den Arm auf seine Schulter.
»Wenn du das Leben hier erst einmal kennengelernt hast, Gary, wirst du es bestimmt sehr schön finden. Auch hier gibt es viele Jungen in deinem Alter. Einige von ihnen quälen sich ebenfalls mit der Schule herum. Und sie spielen Fußball statt Hockey. Aber sonstige Unterschiede zwischen dir und ihnen gibt es kaum.«
»Doch, Mami«, widersprach Gary leise. »Die haben bestimmt einen Vater. Und ich nicht.«
Seine Worte taten ihr weh. Behutsam strich ihre Hand über seinen Kopf. Sagen konnte sie nichts.
»Manchmal denke ich«, begann Gary wieder mit seinem ulkigen Akzent, »manchmal denke ich, du hast Daddy nicht richtig lieb gehabt. Warum sonst hast du die Farm verkauft?« Er drehte sich jetzt um. Unerbittlich blickten seine Augen sie jetzt an.
»Doch, Gary«, antwortete sie bewegt. »Ich habe Daddy sehr, sehr lieb gehabt. Sonst wäre ich ihm doch damals nicht nach Amerika gefolgt. Aber ein richtiger Landmensch war ich nie. Und nun …« Sie machte eine Pause und holte tief Luft, als habe sie in diesem Moment den schweren Entschluss noch einmal gefasst. »Und nun ist Daddy schon achtzehn Monate tot. Du darfst nicht vergessen, dass wir ganz allein dastehen. Drüben haben mich die Freunde deines Vaters nie so richtig akzeptiert. Wäre ich allein mit der großen Farm geblieben, wäre sie unweigerlich in die roten Zahlen gerutscht. Dein Daddy hat mir, als er noch lebte, selbst den Rat gegeben, alles zu verkaufen, wenn ich nicht den Mut hätte, die Farm weiterzuführen.«
»Ich hätte es ja tun können«, murrte Gary. »Ich ganz allein. Ich hätte dann nicht mehr jeden Tag so weit zur Schule fahren müssen und hätte den ganzen Tag auf dem Traktor gesessen. Du hättest keinen Finger, keinen Finger …«
»Keinen Finger krümmen müssen, Gary«, half Sigrid aus. Dann neigte sie sich zu ihm und legte ihr Gesicht an seine glühenden Wangen. »Trotzdem, lieber Junge, wir hätten es nicht geschafft. Ich habe einen anderen Beruf erlernt, den ich sehr liebe. Und ich liebe auch meine Heimat. Verstehst du das nicht?«
»No«, antwortete Gary trocken und ehrlich. »No. Das verstehe ich wirklich nicht.«
Sigrid musste lächeln. Es war ein trüber Frühlingstag.
Dunkle Wolken verdüsterten den Himmel. Sie jagten über die Stadt hinweg, sodass alle Passanten es sehr eilig hatten, nach Hause zu kommen. Wirklich, Deutschland zeigte sich nicht in seinem besten Licht.
»Morgen Früh gehen wir einkaufen, Gary. Wenn das Wetter besser ist, zeige ich dir auch die Stadt.«
»Kaufst du mir doch eine Hockey-Schlager?«
»Nein, Gary. Das ist eine dumme, unnötige Ausgabe, weil du schon einen hast. Wir brauchen ganz andere Sachen. Wenigstens ich. Mit meinem knallroten Pullover und den blauen Hosen finde ich bestimmt keine Stellung.«
Sigrid biss sich auf die Lippen. Sie hatte ganz vergessen, dass man sich in Europa viele Gedanken über Kleidung machte, und hatte sich in diesem Aufzug in einem Ingenieurbüro vorgestellt. Die verwunderten Blicke der technischen Zeichnerinnen würde sie nicht so schnell vergessen.
»Ich will Farmer werden, Mami«, brachte Gary nun wieder seine Wünsche zum Ausdruck. »Ich brauche nichts.«
Sigrid lachte. »Doch, Gary. Du brauchst eine Menge Bildung. Farmer werden kannst du immer noch. Dein Vater war auch auf dem College.«
»College ja, aber Gym … Wie heißt das?«
»Gymnasium, Gary.«
»So eine blöde Wort«, schimpfte er. »So eine blöde Wort in so eine blöde Land!«
Er stand auf, holte sich eines der Micky-Maus-Hefte, die er noch aus Amerika mitgebracht hatte, und lümmelte sich damit aufs Bett.
Sigrid sah ihm schweigend zu. Sie wusste, sie hatte vieles falsch gemacht und ihn sehr enttäuscht. Aber eins stand fest: Gary musste ein wenig geformt werden, sonst würde er es hier unnötig schwer haben. Und das wollte sie nicht. Denn er war ein lieber, herzensguter Junge. Mit jeder Faser ihres Herzens hing sie an ihm. Trotzdem musste sie sich von ihm trennen, wenn sie das Geld, das sie durch den Verkauf der Farm erhalten hatte, für Gary unangetastet lassen wollte.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Gary warf seiner Mutter einen lauernden Blick zu. Er fürchtete den Anruf aus Sophienlust, diesem schrecklichen Internat mit dem unaussprechlichen Namen. Am liebsten hätte er sich unter die Bettdecke verkrochen.
Sigrid ließ sich verbinden und begann zu strahlen. »Sie wollen es wirklich mit mir versuchen, Herr Dr. Pauli?«, fragte sie, wobei eine zarte Röte in ihre Wangen stieg.
Gary atmete auf. Das war nicht das Internat. Das war der Ingenieur, bei dem seine Mutter sich vorgestellt hatte.
»Ja«, hörte er sie sagen, »Englisch spreche ich perfekt. Und auch Französisch. Aber am liebsten arbeite ich am Zeichenbrett.«
Der Junge rümpfte seine Stupsnase und verdrehte die Augen in komischer Verzweiflung. Das war es doch, was alles so schlimm machte. Seine Mutter arbeitete so gern. Damit hatte alles Unglück begonnen. Dabei würde er viel lieber auf dem Traktor über die Weizenfelder fahren. In Amerika, versteht sich.
*
Der nächste Tag war noch immer stürmisch. Auch in Sophienlust. Nur hatten die grauen Wolken inzwischen das Weite gesucht und weißen Platz gemacht. Aber es war kühl. Der andauernde Sturm hatte kalte Luft herbeigetragen.
Denise von Schoenecker parkte ihren Wagen. Aber bevor sie das Herrenhaus von Sophienlust betrat, ging sie noch schnell in den Park. Dort tobten die Kleinen an den Spielgeräten herum. Erleichtert stellte sie fest, dass Heidi Holsten eine Strickjacke und ein wollenes Mützchen trug. Sie hatte gerade eine Mittelohrentzündung überstanden und musste noch vorsichtig sein.
Denise wollte sich wieder zurückziehen, denn sie hatte viel im Büro zu erledigen. Vor allem aber war sie gekommen, um mit Wolfgang Rennert zu sprechen, dem Sohn der Heimleiterin. Er war ein guter Pädagoge und Kunsterzieher und half den Sophienluster Kindern bei den Hausaufgaben sowie bei allen schulischen Schwierigkeiten.
»Tante Isi!«, rief da eine Kinderstimme.
Denise