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Das 17. Instrument: Fünfzig Kurzgeschichten
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eBook360 Seiten4 Stunden

Das 17. Instrument: Fünfzig Kurzgeschichten

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Über dieses E-Book

Dr.med. Paul Wieland, der auch als Paul, Dr. W. und Herr von W. auftritt, ist Arzt wie der Autor, er ist aber nicht mit diesem identisch, wenn sich auch ihre Lebenswege immer wieder kreuzen oder auch für eine gewisse Zeit parallel verlaufen.
Insofern sind autobiografische Momente durchaus gegeben.
Eine Ausnahme macht "Kein guter Tag für Robert". Nur einmal begegnen wir dieser Figur - aus gutem Grund.

Die hier vorliegenden Kurzgeschichten spannen einen weiten Bogen von den frühen Kinderjahren Pauls bis zum Tod von Herrn Dr. Wieland infolge einer Corona-Infektion.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Feb. 2021
ISBN9783347194373
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    Buchvorschau

    Das 17. Instrument - Andreas O. Müller

    Im Warteraum

    Da saß er nun und wartete, wartete darauf, was als nächstes geschehen würde. Es war amüsant, einmal derjenige zu sein, der wartete, während sonst umgekehrt auf ihn gewartet wurde. Er blickte um sich, weil er die Umgebung kennenlernen wollte, in die er geraten war. Etwas anderes gab es im Augenblick nicht zu tun. Er stellte fest, daß der großzügig angelegte, längliche Raum eigentlich nur eine Querverbindung zwischen zwei endlos langen Fluren darstellte, die an ihren Längsseiten mit Glastüren abgetrennt worden war. Die linke war nach außen hin ganz aufgeklappt und an ihrer Klinke mit einem Stück Mullbinde fixiert. Auf der rechten Seite hingen die Flügel zweier Schiebetüren in Schienen, die an die hohe Decke angeschraubt waren. Es gab einen Bewegungsmelder, auf dessen Signal hin sich die beiden Flügel voneinander entfernten und den Durchgang freigaben. Kurz darauf liefen sie, wie von Geisterhand bewegt, wieder aufeinander zu und schlossen den Raum. Sie gaben dabei ein leises, schleifendes Schabegeräusch von sich.

    Eine eigene Beleuchtung hatte der Durchgang nicht. Dr. Wieland mußte sich mit den faden Lichtresten begnügen, die zu beiden Seiten aus den Fluren hereinfielen. Fünf Sitzgelegenheiten, mit einem orangefarbenen, groben Stoff bezogen, warteten auf Gäste. Sonst gab es hier keine Farbe. An den Wänden standen ringsum, bis auf einen kleinen, freigelassenen Zwischenraum gegenüber der Stuhlreihe, auf der er sich niedergelassen hatte, mannshohe Wandschränke mit weiß lackierten Außenflächen. An ihrem Oberrand lief eine Messingstange entlang. Er vermutete, daß sie als Halterung für eine Leiter diente, wenn man an die darüber liegenden Fächer gelangen wollte. Auch diese waren mit Schiebetüren versehen, aber es gab keine automatische Vorrichtung zum Öffnen und Schließen. In das Holz waren flache Metallschalen eingelassen, die der Hand einen Angriffspunkt boten. Auf der Sitzfläche neben ihm lag ein Stapel Zeitschriften. Ein hübsches, kleines Gesichtchen schaute mit leeren Augen zu ihm hoch und weckte flüchtig einen Gedanken, dessen er sich sogleich schämte.

    Durch die linke, offen stehende Tür bewegte sich jetzt eine gedrungene Gestalt, eine Person in dunkelblauer Arbeitskleidung. Sie schob einen Metallwagen vor sich her, auf dem mehrere große, aufeinander gestapelte Kartons lagen. Auf einer der aufgeklebten Etiketten konnte er einen Namen entziffern: GLOVES stand da. „Aha, Handschuhe," dachte er. Dann saß er wohl eigentlich in einem Vorratsraum der Klinik. Es spielte keine Rolle, solange man ihn hier nicht vergaß.

    Obwohl der Wagen auf schwarzen Gummirollen lief, und der mißfarbene, linoleumbedeckte Boden ohne Unebenheiten war, gab es ein schepperndes Geräusch. Vor einem der Schränke blieb die Gestalt mit dem Wagen stehen. Jetzt konnte er sehen, daß es sich um eine korpulente Frau handelte, die sich bückte, um in einem der Schränke unten Platz zu schaffen. Sie hatte schwarze, dichte Haare, die über dem breiten, fleischigen Rücken mit einem Gummiband zu einem struppigen Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Ohne daß er es wollte, fiel sein Blick auf ihr breites, flaches Hinterteil. Peinlich berührt wandte er sofort seine Augen ab. Der tiefere Grund hierfür war, daß solche amorphen Körperformen sein ästhetisches Empfinden verletzten. Das Abladen und Verstauen der Pakete dauerte einige Minuten, in denen sich seine Augen vergeblich gegen den unerwarteten und wenig angenehmen Anblick zu wehren versuchten. Er konnte schließlich nicht ständig zur Seite sehen. Die Frau vermied es während der gesamten Zeit ihrer tätigen Anwesenheit, sich umzudrehen, so als sei ihre Vorderansicht noch deprimierender als das, was er bereits widerstrebend zur Kenntnis hatte nehmen müssen. Mit einem Knall schlossen sich die Schranktüren, und das Schauspiel nahm sein ersehntes Ende. Die Blaugekleidete kehrte mit ihrem Wagen auf den Flur zurück, von wo sie gekommen war. Das Klappern verebbte, dann eroberte die Stille den Raum zurück.

    Die Schiebetür rauschte, zwei Schwestern, auch in Blau, aber heller getönt, huschten nach links durch den Raum. Er verstand ihre fröhlich zwitschernde Sprache nicht, aber ihre Worte klangen angenehm jung und lebendig.

    Die automatisch bewegten Flügel trafen sich wieder. Kurz darauf noch einmal das Rauschen auf der rechten Seite. Ein Patient wurde hereingeschoben, zwei Krankenpfleger manövrierten das ungelenke Bettgestell geschickt an seinen Beinen vorbei. Ihm gelang ein kurzer Blick durch die Türe. Jenseits des Flures las er über einer Tür die Aufschrift „Behandlungsraum - Sonografie". In dem Bett lag ein Mann, die Decke wölbte sich über seinem Bauch. Er lag auf dem Rücken, seitlich hing ein Plastikschlauch, der in einem Beutel mit grüner Flüssigkeit mündete. Der Mann hatte seinen Kopf nach links zu ihm hin gedreht. Seine Augen schienen um Hilfe zu bitten. Aber Dr. Wieland konnte nichts für ihn tun. Im Augenblick war er selbst im Begriff, Patient zu werden, und überhaupt, er wußte nichts von dem Mann. Wie hätte er helfen sollen. Die beiden Pfleger verschwanden mit dem Bett. Die Schiebetüren schlossen sich, wieder wurde es still.

    Er saß da und erinnerte sich nicht mehr, was er bei seiner Ankunft in dieser eher trostlosen Örtlichkeit amüsant gefunden hatte. Seine Anwesenheit war jedenfalls kein Spaß. Er überlegte, ob es wirklich notwendig gewesen war, seine Fahrt in die benachbarte Großstadt abzubrechen. Er hatte ein Konzert besuchen wollen, nach längerer Zeit hatte er sich aufgerafft und ein Ticket im Internet reserviert. Es war heute einfach, einen Konzertbesuch zu organisieren. Man buchte online, bezahlte online und konnte sogar die Eintrittskarte selbst ausdrucken, sofern man einen Drucker angeschlossen hatte.

    Die zwitschernden Mädchen kehrten zurück und verschwanden hinter der Schiebetüre. Bedauerliche Stille diesmal. Mit knarrenden Schritten kam jemand heran. Eine schlanke, große Gestalt, weiß gekleidet, ein Stethoskop in der Kitteltasche. Ein Arzt also. „Guten Abend. - „Guten Abend, Doktor. Das Wort „Kollege" hätte er für zu anzüglich gehalten, in dieser Situation. Wieder das Schabegeräusch, dann Ruhe, etwas bedrückend.

    Warum war er hier? Auf der Fahrt über die Autobahn waren plötzlich krampfartige Schmerzen in der linken Wade aufgetreten, die nicht nachlassen wollten. Als Arzt kamen ihm sofort Bedenken, weil er sich zwei Wochen zuvor eine Nagelbettinfektion an der linken Großzehe zugezogen hatte. Die Penicillintherapie, die er durchgeführt hatte, war zwar umgehend erfolgreich gewesen, was ein Hinweis darauf sein konnte, daß es sich um einen Streptokokkenangriff gehandelt hatte. Aber er wußte auch, daß sekundäre, bakterielle Venenentzündungen auftreten konnten. Wenn diese eine Thrombose nach sich zogen, war das nicht nur eine unangenehme, sondern unter Umständen auch gefährliche Sache, die besonders nach Operationen gefürchtet war. Durch einen chemischen Einfluß der Krankheitserreger bildeten sich Gerinnsel in den Venen. Lösten sich davon Teile ab, so wurden diese in den Gefäßen weitergetragen und landeten schlimmstenfalls wie Geschosse in der Lunge. Dort unterbrachen sie die Durchblutung, was zu einer Funktionsminderung des Organs mit fatalen Folgen führen konnte.

    Dr. Wieland war mehrfach mit dieser häßlichen Komplikation konfrontiert worden. Nicht alle Patienten hatten überlebt, obwohl sie sich in stationärer Behandlung befunden hatten. So tragisch endete auch der Fall eines Freundes, den er erfolgreich an einem Bandscheibenvorfall operiert hatte. Alles war gut gegangen. Am Tage der ersten Mobilisation war es dann geschehen. Er war am Nebenbett mit der Visite beschäftigt, als sein Freund ganz unvermittelt einen Seufzer ausstieß. Als Dr. Wieland sich zu ihm umdrehte, war dieser bereits dunkelblau im Gesicht und rang nach Luft. Mit einer Hand griff er an seinen Hals, sein Blick war glasig in die Ferne gerichtet. Sekunden später wurde er bewußtlos, ehe auch nur die Sauerstoffleitung am Kopfende seines Bettes aufgedreht war. Das von der Stationsschwester umgehend gerufene Notfallteam konnte nichts mehr für ihn tun. Der Freund war bereits verstorben, als die Kollegen eintrafen. Diese Gedanken hatten es ihm heute unmöglich gemacht, einfach weiterzufahren. Er hatte sich von der Vorfreude auf einen musikalischen Abend verabschiedet und die Autobahn bei der nächsten Ausfahrt verlassen.

    So saß er nun im Wartezimmer der Klinik und tat, was in einem solchen Zimmer zu tun war: er tat nichts. Er wartete. Und das bereits seit einer halben Stunde. Es kam ihm in den Sinn, daß er diese Schattenseite des Lebens nicht kannte, obwohl er selbst viele Jahre lang Tag für Tag an dem Warteraum seiner Ambulanz vorbeigekommen war.

    Dennoch hatte er die Menschen darin vor den persönlichen Gesprächen bei der Untersuchung kaum wahrgenommen. Selbst die Räumlichkeit hätte er nicht genauer beschreiben können. So war es ihm auch nicht möglich gewesen - er hatte gar keinen Anlass gesehen - sich mit der Situation eines Patienten zu befassen, solange dieser nicht in seinem Konsultationsraum vor ihm saß. Konnte es sein, daß er da etwas übersehen, etwas außer Acht gelassen hatte, das er sich vorwerfen mußte?

    Wieder näherten sich Schritte. Zwei Blaugekleidete durchquerten den Raum, die Schiebetüre verrichtete ihre Aufgabe, dann blieben wieder nur die nüchternen, öden Schrankwände mit ihren nichtssagenden, matt glänzenden Flächen.

    Seinem Platz gegenüber hing ein länglicher, rahmenloser Spiegel. Darin sah er einen älteren Mann, nach vorne gebeugt, er wirkte krank, leidend. Seine Körperhaltung erweckte den Eindruck einer depressiven Stimmung. Befremdet erkannte Dr. Wieland, dass es sich um sein eigenes Spiegelbild handelte. So also sah er aus? Er fühlte sich nicht krank, nicht alt, schon garnicht verzweifelt. Was hatte das zu bedeuten? Schätzte er sich falsch ein? Ging es ihm vielleicht doch nicht so gut, wie er dachte?

    Hinter den Flügeln der Schiebetüre auf der rechten Seite huschten murmelnde Schatten vorbei und lenkten ihn von seinen trüben Gedanken ab. Ein kurzes Öffnen und Schließen, der Bewegungsmelder hatte angeschlagen. Doch niemand kam herein.

    Deutlich wurde ihm bewußt, was alles sich in Wartezimmern abspielte, wieviele Schicksale dort ihren Lauf nahmen, meist in negativer Weise. Wie oft war er eilig vorübergegangen, ohne eine Vorstellung davon, wie quälend es sein mußte, einer gnadenlosen Ungewissheit ausgeliefert zu sein. Wo waren seine Augen, seine Gedanken gewesen, da er doch unmittelbar Zugang gehabt hatte zu Leid und Krankheit und Angst, die sich in den Körpern und Sinnen der Wartenden aufstauten und heraus wollten, wenigstens im Gespräch mit einem, dem sie vertrauten, von dem sie Hilfe erwarten durften.

    Ein zweites mal rollte ein Bett an ihm vorbei. Diesmal lag darin eine schmale, kleine Frau mit spitzer Nase und fahlgelber Haut. Eine Decke lag in Falten über ihrem Körper. Die Männer, die an beiden Enden des Bettes anfaßten, waren guter Laune. Einer lachte verhalten auf. Verschiedenes konnte man daraus folgern. Entweder war die Frau nur alt, aber nicht ernstlich erkrankt, oder aber sie war bereits tot. Paul wollte nicht genauer hinsehen. Besonders im zweiten Fall wäre es pietätlos gewesen, sie anzustarren, besonders, da ihr Gesicht frei lag.

    Für einen Freitagabend, stellte er fest, war hier ganz schön viel los, auch wenn es noch nicht sehr spät war.

    Seine Rechtfertigung, er habe sich mit allen seinen Fähigkeiten und Kräften für kranke Menschen eingesetzt, fand in seinem Inneren keinen rechten Widerhall, das Echo klang falsch, hölzern, und er ahnte, daß da etwas schief gelaufen sein mußte. Wo lag die Grenze, bis zu der sich ein Arzt einzusetzen hatte? Gab es eine solche Grenze? Mußte auch sie überschritten werden bis in die Unendlichkeit der Selbstaufgabe? Genug oder nicht genug, wirkliche Antworten würde es darauf nicht geben, nicht geben können. Dazu waren die Wege und Befindlichkeiten der Menschen zu vielfältig, die Belastbarkeit des Einzelnen zu variabel. Das galt für den Arzt genau so wie für seine Patienten. Und das an jedem Tag neu.

    An der Unterkante des Spiegels ihm gegenüber bemerkte Dr. Wieland eine Bewegung. Er beugte seinen Oberkörper nach vorne, um besser sehen zu können. Etwas Rostbraunes, flach Abgerundetes schob sich hinter dem Glas hervor. Lange, an den Spitzen haarfein auslaufende Antennen sondierten die Luft. Eine Kakerlake zeigte sich, gemächlich wanderte sie bis an den linken Rand des Spiegels. Dort angekommen, öffnete sie kurz ihre Deckflügel. Reflexartig machte Dr. Wieland eine Abwehrgeste mit seinem Arm. Er fürchtete, das Insekt könne ihn angreifen. Aber der Käfer glättete seinen Rücken wieder. „Reingefallen, Angsthase! wisperte er. „Du, das habe ich gehört! antwortete Dr. Wieland verblüfft. Das freche Tier warf nur einen verächtlichen und zugleich hinterhältigen Blick auf seinen Beobachter, der die Bewegungen der langen Fühler vorsichtshalber im Auge behielt.

    In die öde, trockene Stille drang ein Lärm, der sich schnell zu einem Dröhnen aufschwang, und direkt über Pauls Kopf zu entstehen schien. Die Scheiben der Schiebetüren vibrierten kurz, dann ebbte das Geräusch ab und verwandelte sich in ein flatterndes Rauschen, das leiser und leiser wurde und schließlich die Stille wieder freigab. Ein Rettungshubschrauber war auf dem Dach der Klinik gelandet. Die Kakerlake hatte sich in eine schmale Ritze zwischen Spiegel und Wandschrank hineingezwängt. Als das kleine Ungeheuer verschwunden war, lehnte sich Paul erleichtert auf seinem Stuhl zurück und war doch voll von Dank für das makabere Schauspiel, denn eine zunehmend ermüdende Langeweile hatte ihn befallen. Er griff nach seiner Wade und betastete die Muskulatur. Die Spannung im Gewebe war noch da, aber eine schmerzende Stelle konnte er nicht finden.

    Auch der Sekundenzeiger seiner Uhr kämpfte mit dem Schlaf. Die Minuten stapelten sich gleichgültig im Raum. Pauls Gedanken drifteten weiter und weiter in die Vergangenheit auf der Suche nach dem Ursprung seines vermeintlichen Fehlverhaltens. Er ertappte sich dabei, einzelne Versäumnisse gegen besonders selbstlose Aktionen aufzurechnen, als könne eine Art von Ablasshandel das Gewissensproblem lösen. Mehr und mehr verdunkelten sich seine Sinne, zu grundlegend waren die Selbstvorwürfe, die er nun gegen sich erhob. Es konnte doch nicht alles falsch gewesen sein! Er wußte keinen Ausweg.

    Jemand berührte ihn an der Schulter. Dr. Wieland öffnete die Augen. Ein freundliches Gesicht beobachtete ihn aufmerksam und nachsichtig. „Na, Herr Kollege, wieder wach? Alles in Ordnung? Paul sah auf, der Mann im weißen Kittel lächelte gewinnend. „Ich bin Doktor Schröder, der Ambulanzarzt, bitte kommen Sie. Es tut mir leid, daß Sie warten mußten. Dr. Wieland stand auf und folgte ihm. Nur langsam gelang es, zur Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zurückzufinden und sie wieder in Richtung Diesseits zu überschreiten. Aber er fühlte sich gut, die beklemmenden Gedanken waren wie ausgelöscht. Was hatte dieser Warteraum nur mit ihm gemacht! Was mochte in den vielen Leidensgenossen vorgegangen sein, die unter ähnlichen Umständen hatten ausharren müssen. Er nahm sich vor, diesen Erkenntniszuwachs künftig in seine Tätigkeit mit einzubeziehen. Es schien ihm, als sei dies der eigentliche Gewinn des Tages.

    Auf einem Bauernhof

    „He Paulchen, fahr´ du doch eben die Kartoffeln zur Genossenschaft rüber. Du weißt ja, wo das ist, warst doch schon mal dabei. Der Knecht ist mit den Pferden beschäftigt. Paul wußte vor Schreck nicht, was er antworten sollte, aber Bauer Ernst hatte sich schon abgewendet. So stieg er auf den Traktor und murmelte: „Kupplung, Bremse, Gas. So viel wusste er immerhin schon. Schweiß rann ihm kalt in den Nacken. Aber er durfte sich keine Blöße geben. Stadtkinder wie er waren schließlich auch nicht blöd. Irgendwie brachte er das Gefährt in Bewegung und fuhr ruckelnd aus der Hofeinfahrt hinaus, auf die Landstraße, über den Bahnübergang, an dem die beiden Anhänger bedrohlich schwankten, und dann hinüber zu dem langen Gebäude und der Anfahrt neben der Rampe, wo schon andere Fahrzeuge warteten, um ihre Lasten abzukippen. Paul bemühte sich, gelangweilte Lässigkeit zu zeigen. Aber in seinem Inneren kämpften Stolz und Furcht miteinander um die Vorherrschaft. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte man ihm eine solche verantwortungsvolle Aufgabe zugetraut und übertragen. Zum ersten mal überkam ihn eine vage Ahnung, was das Leben bedeutete, was seine eigene Existenz damit zu tun hatte, die sich aus der Ungewissheit seines Kind-seins zu lösen begann.

    Beim Mittagessen erzählte Ernst der Bauer in der Runde, was Paul heute geleistet habe. Dieser blickte auf seinen Teller, aber aus dem Augenwinkel sah er doch, wie die Tochter, die von ihrer Mutter nicht nur den Vornamen, sondern auch ihren rustikalen Liebreiz geerbt hatte, ihm einen Blick zuwarf, der ihn verwirrte und etwas in ihm auslöste, das er bisher nicht gekannt hatte. Alles hätte er Gott oder auch dem Teufel versprochen, damit seine heißen Ohren niemandem auffallen sollten. Das war der Augenblick, in dem Paul einen unbekannten Schmerz in sich spürte, der von dem Mädchen herrührte.

    Am Nachmittag sah er sie wie zufällig hinter dem Wohnhaus an der großen Scheune stehen, angelehnt an einen der alten, verblichenen Torbalken. Sie war barfuß, ein Bein hatte sie angewinkelt, der Fuß stützte sich auf dem Holz ab. Ihr einfacher Baumwollrock mit schmalem Spitzensaum reichte gerade bis unterhalb der knochigen Knie. Das weisse Hemdchen zeigte schon ein wenig ihre kommende Weiblichkeit. Sie hatte ihr Netz ausgeworfen und überlegte, ob der junge Fisch, den sie fangen wollte, für die Maschen womöglich noch zu klein sein könnte. Einen Versuch war es jedenfalls wert mit dem hübschen Kerl aus der Stadt. Sie würde ihm schon den rechten Weg zeigen. Diese Charaktereigenschaft hatte sie ebenfalls von ihrer Mutter mitbekommen.

    Paul kam heran, er trat nah zu ihr, kam ihr, eigentlich nur aus Versehen, zu nah, als daß er sich einfach wieder hätte entfernen können. Er sah ihr Gesicht, sah den roten Mund, wie er sich öffnete und schloß, sah den lebendigen Bogen ihrer Unterlippe, die aufregende Linie der Oberlippe, die an den Mundwinkeln in feinen Wulsten endete, und wie am Mittag war da wieder dieses unbekannte, brennende, unbezwingbare Gefühl. Sie hatte in seinem Gesicht gelesen, was kommen würde, und ihre verführerisch funkelnden, dunklen Augen sagten kapriziös: „Wage es ja nicht! Aber es war nicht ernst gemeint, und es war auch schon zu spät. Überraschend, für ihn mehr als für sie, beugte er sich vor und küßte ihre Wange. Er empfand sie als unendlich weich und warm, und sie verströmte einen betörenden Duft, der den ländlichen Geruch von fauligem Kraut, dampfendem Tierdung und ätzender Gülle für einen kurzen, seligen Augenblick überdeckte, wenn er ihn auch nicht ganz auszulöschen vermochte. Pragmatisch, wie Landmenschen auch in jugendlichem Alter schon sind, fragte sie gerade heraus: „mußt du denn unbedingt Arzt werden? Sie sprach mit ganz ruhiger Stimme und sah ihn direkt an. Ihre Angriffstaktik , die sie für eben so raffiniert wie unwiderstehlich hielt, scheiterte an seiner jugendlichen Einfalt. Spontan sagte er: „ja, muß ich, das wollte ich doch schon immer." Er war stolz auf diese Lebensentscheidung, die sich, solange er denken konnte, unverändert erhalten hatte. Das Leuchten in den Augen des Mädchens ließ nach, Paul bemerkte es nicht. Unwissend hatte er für seinen Traumberuf ein erstes Opfer gebracht, das doch niemand von ihm verlangte. Seine Schroffheit war ihm nicht bewußt, er hatte die Besonderheit dieses Augenblicks nicht verstanden, und für eine egoistische, Vorteil bringende Lüge war er noch zu unverdorben. So gingen sie nebeneinander zurück zum Wohnhaus, und niemals mehr kamen sie sich so nah wie an diesem Tag.

    Die letzte Woche seines Aufenthaltes arbeitete Paul auf den Feldern mit. Er arbeitete hart, um seine Dummheit zu vergessen, aber es gelang ihm nicht. Er war damals gerade fünfzehn Jahre alt, aber im Gegensatz zu dem Mädchen war er noch ein Kind. Alt genug, um sich zu verlieben, vielleicht, aber zu jung für eine erste, tiefere Liebe.

    Am Ufer entlang

    Wenn du einen Weg zurück gehst, denkst du, er sei dir schon bekannt. Jedoch ergeben sich viele neue Perspektiven, alleine schon durch den Blick in die Gegenrichtung, aber auch durch das wandernde Licht der Sonne und die Veränderung der Schatten. Nimmst du den selben Weg erneut, diesmal in der Anwesenheit eines dir nahestehenden Menschen, der, wie eine Komplementärfarbe auf die andere, unwillkürlich auf dich einwirkt, so wirst du wiederum in deinen Ansichten und in deinem Erleben verändert.

    Die Mittagszeit war lange vorbei, als Paul den Weg hinunter zum See wollte, an der Apfelplantage vorbei, deren kurze, gedrungene Stämme aus knolligen Veredelungen herauswuchsen, die ihnen eine besondere Winterhärte verliehen. So oft war Paul mit seiner Frau auf diesem Weg entlanggegangen, daß es ihm nicht schwer fiel, sie sich an seiner Seite leibhaftig vorzustellen, auch wenn er alleine war. Manchmal redete er sogar mit ihr.

    Er lenkte seine Schritte hügelabwärts. Sein Fuß stolperte über ein bleich aus der Erde ragendes, weiss leuchtendes Schädeldach, dicht am Boden.Nein, gottlob, es war ein großer Siliziumstein, der ihn für einen erschreckenden Augenblick irregeführt hatte. „Pass´ doch auf, Schatz!", hörte er seine Frau neben sich erschrocken sagen. Der schmale Pfad schlängelte sich am Bachufer entlang durch die Wiese hinter dem Haus und führte dann parallel zur Straße auf eine kleine Anhöhe. Hier ging es nach links ab, und der Blick auf die Flußniederung wurde frei, die von Wiesen, Feldern und einem Bauernhof geprägt wurde. Dahinter, jenseits des silbrigen Flusses, standen Pappeln in Reihen. Den Hintergrund bildeten die sanft geschwungenen Hügel der heute bewaldeten Moränen, die durch Gletscherablagerungen während der letzten Eiszeit entstanden waren. Sie lagen bereits auf der anderen Seite der Grenze, die durch die Flußmitte verlief. Das Blau des Himmels, über den Wolken nach Osten zogen, wölbte sich auf das Land und begann unmerklich, aber unaufhaltsam, dem Abenddämmern zu weichen.

    Am Rande eines frisch gepflügten Ackers lag etwas, das von einem Erntewagen herabgefallen sein mochte. Es war eine bleiche Zuckerrübe, aus deren plumpem Körper Wurzelarme und eine zerzauste Blätterfrisur herausragten. Sie weckte Pauls lebhafte Fantasie. Er blieb stehen, um das Rübenmännchen näher zu betrachten. Spaziergänger kamen entgegen, und er machte sie auf das seltsame Naturprodukt aufmerksam. Die Frau sah mit einer höflichen, ratlosen Kopfbewegung zu Boden, um dann Paul einen verlegenen Blick zuzuwerfen. Sie lachte nervös und folgte ihren beiden Begleitern, die bereits uninteressiert weitergegangen waren. Wer spinnt da jetzt, die oder ich?, fragte Paul. „Na DU natürlich, antwortete seine Liebste und lachte ihr helles Lachen. Dabei lehnte sie ihren Kopf leicht an seine Schulter. Das bedeutete in der Geheimsprache der Frauen: „du bist der Größte für mich.

    Auf der rechten Seite reckten sich violett-rote Rhabarberstängel mit ihren immer noch goßen, dunkelgrünen Lappenblättern, die im Gegenlicht transparent aufleuchteten. Links gab es einen dickpfähligen Drahtzaun, der die bereits vergilbenden Nussbäume bis zum Ufer des Flusses hinab begleitete. Zu Füßen ihrer Stämme standen einige Kubikmeter Brennholz aufgeschichtet, die mit grauen Plastikplanen abdeckt waren, auf denen braun getrocknete Herbstblätter lagen. Auf den beiden parallel laufenden Spuren des Feldweges knackten Walnüsse unter den Schritten. Sie lagen hier so zahlreich, daß es unmöglich war, ihnen auszuweichen. Als Paul weiter ging, stürzten sich hungrige Krähen auf die unerwartet präsentierte Mahlzeit herab.

    Schwere Felsbrocken, an deren groben, unbehauenen Flächen Feldspatkristalle blitzten, hinderten das breite Gewässer daran, die Ränder des angrenzenden Weidelandes aufzuweichen und wegzuspülen. Unten angekommen, überquerte Paul auf schmalem Pfad den Grenzbach. Bogenförmig liefen Holzplanken hinüber, seitlich von Geländern geschützt, an deren gedrehten Stahlseilen Liebesschlösser hingen. Sieh nur, wie schön!, sagte sie. „Ja", sagte er leise vor sich hin. Es gab ein surrendes Geräusch, als Paul eines über die Drähte zog. Er nahm ihre Hand, die sich wie ein kleines, weiches Tier anfühlte. Jetzt betraten sie das benachbarte Land. Die Dachfirste der wenigen Gebäude mit den breiter überhängenden Dächern waren anders, als sie es von ihrem Dorf her kannten. Bäume und Gräser dagegen hatten sich nicht verändert, auch nicht die würzige Luft oder der Fluß mit seinem Algengeruch. Hier standen einzelne Apfelbäume, deren reife, rote Früchte hinter dornigen Zweigen einer Akazie vor Spaziergängern sicher waren. Jetzt folgte Paul dem Flussbett weiter nach Westen. Mächtige Pappeln traten mit breit gefächerten Stützwurzeln aus dem Boden, die grün mit Moos bedeckt waren. Aus den Polstern ragten einzelne bleiche, winzige Pilze mit hauchdünnen, zerbrechlichen Stielen. Aufwärts strebend verloren sich die Wurzelstreben in zahlreichen Astgabeln. Hoch oben hatte sich in ihrer gefurchten Rinde ein orangefarbener Baumpilze festgesaugt, ein Schwefelporling, dessen mehrfach gelappte Konsolen den Kleidern von Flamenco-Tänzerinnen glichen. Zwischen den Stämmen der Bäume wucherten Wildrosenhecken, Bündel von Haselsträuchern und breit ausladender, schwarzer Holunder. Vereinzelt säumten schmale Kieselstrände das Ufer, deren bunte Steine im Frühjahr durch das grüne, kalte Schmelzwasser schimmerten, das aus dem Gebirge kam. Dunkel-feuchte Randstreifen auf den Kiesbänken verrieten den nächtlichen Rückgang des Wasserstandes. Unter Ästen mit dichten Kastanienblättern krümmten sich von einem böigen Nachtwind verfrüht aus ihren Blütenkerzen herausgewehte Stachelkugeln. Mit ihren gebogenen Stielen wirkten sie wie hilflose, kleine Embryos. Weidenbäume, bis über das Wasser des Flusses ragend, hingen mit fadenförmigen Zweigen bis über die Wasseroberfläche. Berührten sie diese, so sprangen Wellenringe auf und trieben mit der Strömung davon. Zahllose

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