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Zukunft der Vergangenheit – ein Tatsachenroman
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eBook655 Seiten9 Stunden

Zukunft der Vergangenheit – ein Tatsachenroman

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Über dieses E-Book

"Zukunft der Vergangenheit" ist ein zutiefst politischer Roman, der eine leidenschaftliche Beziehungsgeschichte zwischen der Malerin Katharina und dem Fotografen Eberhart erzählt, die sich mit ihren Erfahrungen aus den "Achtundsechzigern" jetzt mit den aktuellen Aufgaben von Kunst und Kultur in der sich radikal verändernden Gesellschaft auseinandersetzen. Da sind es immer wieder die Reibungen an Themen gegenwärtiger Zeit, in der Sorge um eine neue Weltordnung zwischen wachsendem Rechtsextremismus und islamischem Fundamentalismus, in der wieder erschreckender Antisemitismus entsteht. Dieser Konflikt scheint jede ihrer alten Ordnungen aufzubrechen. Da wird auch über die gesellschaftlichen Einflüsse der Kunst und der Kultur dikutiert - und immer wieder über Liebe gesprochen. Schließlich entstehen Fragen zum existentiellen Wandel zukünftigen Lebens durch eigene Befindlichkeiten, wobei sich auch Erfahrungen von Tod einstellen. Während eines dramatischen Krankenhausaufenthalts gerät Eberhart in eine innere Unruhe und beschließt, sein Leben zu verändern. Seine erfolgreichen Arbeiten als Werbefotograf erscheinen ihm plötzlich von fragwürdiger Wahrhaftigkeit. Da wächst sein Bedürfnis, seine eindringliche Bildsprache als Bildjournalist zu nutzen, um die Wahrheiten von Hunger, Krieg und Vertreibung dort zu dokumentieren, wo Menschen anderen Menschen furchtbares Leid zufügen: Diesem Ziel stellt sich ein tragisches Ereignis in den Weg.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Dez. 2020
ISBN9783347192850
Zukunft der Vergangenheit – ein Tatsachenroman
Autor

Gotthart A. Eichhorn

Gotthart A. Eichhorn, geb. in Görlitz, wächst in Hagen auf. Nach dem Gymnasium beginnt er mit einem Volontariat als Journalist und entdeckt dabei seine Leidenschaft für die Fotografie, die ihn alsbald zu einem gefragten Fotodesigner werden lässt. 1968 heiratet er die Malerin Johanna, geb. Philipp, beide ziehen nach Frankfurt, wo sie sich politisch mit den Ideen und Aktivitäten der Studentenbewegung solidarisieren. 1971 eröffnet Gotthart A. Eichhorn seine eigenen Studios in Frankfurt und Eschorn. Als erfolgreicher Werbefotograf arbeitet er bis heute für internationale Konzerne und Agenturen. Für seine Arbeiten erhält er im Laufe der Jahre eine Reihe von bedeutenden Auszeichnungen. Mit dem Rückzug 2007 aus der Großstadt in ländliche Gefilde wendet er sich auch wieder dem Schreiben zu, zunächst mit einer Reihe von Essays, 2012 erscheint seine autobiografische Erzählung "Reise in mein frühes Ich", 2013 eröffnet er seine Galerie für zeitgenössische Kunst, 2020 erscheint sein Roman "Zukunft der Vergangenheit"

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    Buchvorschau

    Zukunft der Vergangenheit – ein Tatsachenroman - Gotthart A. Eichhorn

    Eins

    Für Eberhart Neumann war es wirklich ein dramatischer Spätnachmittag in der Praxis seines Internisten gewesen, der nach mehrfach wiederholten Untersuchungen jetzt die Diagnose einer drohenden Bauchfellentzündung verifiziert. Wie der Arzt sehr nachdrücklich erklärt, ist wegen anstehender Akutgefahr die sofortige ärztliche Überwachung und Behandlung in einem Krankenhaus unumgänglich geworden, weshalb der Internist seinen Patienten noch für diese Nacht als Notfall in der Frankfurter Klinik am Alleenring anmeldet. Dieses Krankenhaus ist Neumann aus anderen problematischen Anlässen längstens vertraut. Aber die weitergehende medizinische Perspektive seines Arztes sieht möglicherweise auch chirurgische Eingriffe vor, was jetzt seine Krankheitsängste mit vielerlei ungebetenen Gedanken belastet.

    Eberhart Neumann bekommt eine Fallnummer, die man ihm am Counter in der nächtlichen Notaufnahme sofort als unzerstörbares Armband am Handgelenk befestigt. Dieser Plastikstreifen enthält außer dem unverwechselbaren Strichcode nur den Namen und sein Geburtsdatum. Sein wahres Alter hätte er in diesem Augenblick lieber unterdrückt: die diensthabende Ärztin, mit der er schon von unterwegs telefoniert hatte, um sich des zugesagten Einzelzimmers zu vergewissern, erscheint ihm jünger und hübscher, als er sie sich nach ihrer etwas ruppigen Stimmlage vorgestellt hatte. Aber ihre Begrüßung ist nur flüchtig, denn zeitgleich mit ihm ist noch ein anderer Notfall eingeliefert worden, dessen Akutbehandlung offensichtlich Vorrang verlangt, weshalb sie Neumann gleich wieder entschwindet.

    Wartend bis Mitternacht muss er mit seinen Schmerzen hier ausharren und angstvoll der weiteren Ereignisse harren, ein zweckdienlich sachlicher Raum und ungemütlich wie alle Behandlungszimmer an diesem langen Gang im Tiefgeschoss des Krankenhauses, heute Abend scheinbar unbenutzt, wie er im Vorbeigehen sehen kann: hochliegende Fenster in die Dunkelheit des nächtlichen Hofes, grünkalte Neonbeleuchtung an hoher Decke, bestückt mit Medizintechnik, die wahrscheinlich für die Erstversorgung aller Notfälle dient. Für solch großes Krankenhaus eine ungewöhnliche Stille um ihn herum, auch aus den benachbarten Behandlungsräumen dringt kein menschliches Geräusch. Nach einer ihm endlos vorkommenden Zeit seiner Geduld erscheint, fast unhörbar leise eine junge Schwester, die sich mit fremdem Vornamen und als medizintechnische Assistentin vorstellt. Mit ihrem Erscheinen bleibt die Türe zum Gang geöffnet, was nach Eile aussieht, das Eberhart Neumann aber erst später registriert. Beinahe erschrickt er, als sie ihn anspricht, denn inzwischen hat er sich auf der mit Papier bezogenen Untersuchungsbank ausgestreckt, wo ihn bereits ein oberflächlicher Schlaf übermannt hatte:

    – Guten Abend, fragt sie mit sanfter Stimme, wie geht es Ihnen?

    – Wahrscheinlich gibt es viele Orte, wo ich jetzt lieber wäre, antwortet Neumann, während er sich mühsam aus der Liegeposition erhebt, um die neue Situation besser erfassen zu können.

    – Es tut mir wirklich sehr leid, dass Sie hier so lange warten mussten, ich werde ihnen jetzt einen Venenzugang legen und Blut abnehmen. Die diensthabende Ärztin wird Sie gleich untersuchen und dann auf ihr Zimmer bringen.

    Neumann nimmt die Ankündigung schweigend zur Kenntnis und muss sich dabei zu weiterer Geduld zwingen. Tatsächlich ist es die dritte Blutentnahme an diesem Tag und die Menge der Blutröhrchen erscheint ihm inzwischen wie ein Aderlass. Der erste Versuch, die Vene in seiner rechten Armbeuge zu treffen, geht fehl, die Nadel trifft den Bizeps-Muskel, was der Schwester offensichtlich sehr peinlich ist, denn bei ihrem zweiten Versuch, diesmal am anderen Arm, spürt Eberhart Neumann jetzt ein leichtes Zittern in ihren Händen. Das ermuntert ihn zu einem Hinweis in die sonst so schweigsame Nacht:

    – Wissen Sie, in jede meiner Armbeugen wurde von Ärzten schon hunderte Mal gestochen, die Venen sind an dieser Stelle wahrscheinlich völlig vernarbt. Ich muss das immer anmerken, damit niemand auf falsche Ideen kommt.

    Offensichtlich versteht sie, was er damit erklären wollte:

    – Sie haben wohl noch nie den Arm eines Drogenabhängigen gesehen, meint sie, der sieht erschreckend anders aus als ihre Armbeuge. Aber ihre Vermutung ist richtig, Venen können durch häufiges Einstechen vernarben. Es kann schon Probleme geben, dort größere Kanülen zu platzieren, auch wenn diese heute aus flexiblem Kunststoff sind und jede Beugung ihres Armes mitmachen können.

    Dann bindet sie ihm den anderen Arm ab und bittet Neumann, hier eine Faust zu machen. Routiniert und schnell findet sie diesmal die Vene und befestigt dort die Kanüle, durch die in den nächsten Tagen zunächst die hochdosierten Antibiotika in seinen Körper tropfen sollen, ehe man ihm vielleicht den Bauch öffnen wird. So dicht beugt sie sich dabei über ihn, dass er ihren angenehm frischen Atem wahrnehmen kann. In diesem kurzen Moment der Nähe erhascht er mit ihrem Blick auch das Strahlen ihrer schönen Augen, was ihm in dieser Situation wie willkommenes Beutegut vorkommt und ihn innerlich sanft zu erwärmen vermag.

    Nachdem sie den Venenzugang mit Klebebändern befestigt hat, entfernt sich die junge Nachtschwester schnell mit vollen Blutröhrchen und Eberhart Neumann schafft es nicht mehr, noch ein nächtliches Gespräch mit ihr zu beginnen, sie vielleicht nach ihrem Heimatland zu befragen, was ihn jetzt interessiert hätte. Denn trotz ihrer grammatikalisch perfekten deutschen Sprache ist ein fremder Akzent nicht zu überhören. Dem Namensschild entsprechend an ihrem Kittel, den sie über beinengen Bluejeans trägt, könnte sie vielleicht aus einem der Balkanländer stammen. So schaut er ihr nach, bis sie hinter der Türe verschwindet.

    Dann wird es wieder ganz still um ihn, Neumann nimmt nur das gelegentliche Knacken der Heizungsrohre wahr und hört das leise Kühlgebläse des Computers, dessen angeschalteter Bildschirm auf dem Tisch diese Ecke des Raums mit einem Hauch von Blau überdeckt. Neumanns müde Blicke suchen immer wieder die kahlen Wände des Raumes nach einem Haltepunkt ab und ihm wird dabei mehr und mehr deutlich, dass es besser gewesen wäre, diese Nacht noch zu Hause und im eigenen Bett zu verbringen, denn als wirklicher Notfall scheint er hier noch gar nicht angekommen zu sein. Nur bedrückend langsam vergeht für ihn die sonst so rasende Zeit. Neumann hofft auf nötige Ablenkung, holt sein Mobiltelefon aus der Tasche, um noch vor der nahenden Nacht mit Kathi zu sprechen, wie er es ihr beim hektischen Abschied zu Hause versprochen hatte. Aber die späten Sätze des Handytelefonats überlagern sich im Äther und beide können nicht spüren, wann der andere wirklich ausgeredet hat. So verunglückt das nächtliche Ferngespräch und taugt nicht, Eberhart Neumann die bohrenden Krankenhausängste zu nehmen.

    Immer, wenn er sich Kathi besonders nah fühlte, nannte er sie zärtlich „ma Chéri, Worte, die ihm auf seiner Zunge vergingen, seine Frau für ihn ein Kleinod, noch immer begehrenswert, nicht nur für ihn. Vor fast 40 Jahren heiratete er sie als Katharina Beate Werner, ein Name mit einprägsamen Sprachrhythmus, den sie als Künstlerin nicht ins Neumann´sche verändern wollte. Im Freundeskreis wird sie seither nur „Kathi genannt, eine Kurzform ihres Namens, die ihr nie gefallen wollte und die sie dennoch akzeptierte. So kam es, dass auch Eberhart Neumann im Laufe vieler gemeinsamer Jahre diesen gekürzten Namen in seinen Sprachgebrauch übernahm. Früher erfand er noch andere zärtliche Kosenamen für sie.

    Warum sind diese eigentlich abhanden gekommen, fragt er sich jetzt. Ungeduldig geworden durch verordnete Wartezeit, steht Eberhart Neumann, dieser Notfallpatient, von seiner Untersuchungsbank wieder auf und geht erneut auf den langen, leeren Krankenhausflur hinaus, um nach der diensthabenden Ärztin zu suchen. Kann es denn sein, dass sie die nächtliche Notaufnahme heute allein zu versorgen hat, überlegt er, denn tatsächlich muss er noch sehr lange auf sie warten. Es ist fast Mitternacht, als sie endlich das Untersuchungszimmer betritt und am Tisch vor dem PC ihren Platz einnimmt. Nach Blutdruckmessung und anderen oberflächlichen Routineuntersuchungen gibt es eine Schnellbefragung über Vorerkrankungen, die dann in einer Flut von Formular-Papieren mündet, welche auf mehr als zwanzig Seiten seine Unterschrift verlangen, im Wesentlichen betreffen sie nur die Abrechnungsmodalitäten der behandelnden Ärzte und des Krankenhauses. Während die junge Ärztin alle notwendigen Daten eilig in den Computer schreibt, hat Eberhard Neumann Gelegenheit, ihre schönen und ebenmäßigen Hände zu bewundern, deren schlanke lange Finger jetzt so flink in die Tastatur greifen. Es erinnert ihn plötzlich und beinahe wehmütig an seine goldenen Achtziger Jahre, als er, damals schon bekannter Werbefotograf, für viele der ganz großen Computerhersteller fotografierte und für diese Shootings häufig Handmodels zu buchen hatte. Wie oft hatte er dabei solch ästhetische Hände gesucht, die, wie hier einer intuitiven Choreografie folgen. Aber diese junge Ärztin hat nicht nur schöne Hände. Ihre ganze Erscheinung entspricht Neumanns Vorstellungen von anziehender Weiblichkeit, was ihn in diesem Moment ein wenig vergessen lässt, warum er hier sitzt und so lange auf sie gewartet hat. Sein deutliches Gefühl täuscht ihn nicht, dass sie ihre weibliche Ausstrahlung auch als Ärztin einzusetzen weiß. Jedenfalls erscheint ihm bei dieser Erkenntnis das Krankenhaus nicht mehr ganz so bedrohlich, womit sich in ihm eine dieser Situation angemessene Gelassenheit entwickelt, die offensichtlich auch ihr nicht verborgen bleibt. Schließlich und dann resolut nimmt sie seinen Rollkoffer und meint, ich bringe sie jetzt auf ihre Station, damit Sie sich endlich ins Bett legen können.

    Jetzt erscheint ihm die hübsche Ärztin nicht nur für diesen Moment des Szenenwechsels als wahre Beruhigung in seiner misslichen Lage: er ein Notfallpatient, dem die Kontrolle über Teile seines Körpers entgleitet und der noch nicht weiß, was mit ihm in den nächsten Stunden geschehen wird.

    Mit schnellen Schritten führt ihn die Ärztin lange und winklige Gänge des Krankenhauses entlang und bringt Eberhart Neumann auf eine weit entfernte Station jenseits des Zentralgebäudes, eine Station des Krankenhauses, die er noch nicht kennt und die ganz offensichtlich nicht die Internistische Abteilung zu sein scheint, welche sein Arzt für seine Antibiose-Therapie vorgesehen hatte. Diese plötzliche Erkenntnis verunsichert ihn erneut, aber er hat keine Zeit mehr zu fragen, denn auch die junge Ärztin verabschiedet sich eilig und übergibt Neumann der dortigen Nachtschwester, die ihn endlich in sein „Einzelzimmer" führt. Neumann denkt in diesem Augenblick an Staffellauf, aber er hat noch keine Vorstellung davon, wer hier gewinnen wird.

    Natürlich erkennt Eberhart Neumann sofort, dass es sich hier um ein Krankenzimmer für Intensivpatienten handelt und alle von ihm erwarteten Annehmlichkeiten eines Einzelzimmers im Krankenhaus vermissen lässt. Tatsächlich steht heute nur ein Bett hier, aber ein Bett der Geräte, denn hinter diesem ist die Wand bestückt mit vielfachen Überwachungsmaschinen, die seine Krankenhausphobie sofort wieder verstärken und er beschließt augenblicklich, hier nicht zu verbleiben. Im Moment seines Schwesternrufs erscheint dieselbe Nachtschwester, die eigentlich nur kommt, um ihm sofort seinen Tropf anzuhängen, damit die Antibiotika endlich den vernichtenden Kampf gegen alle seine schmerzauslösenden Darmbakterien beginnen können.

    Da hat er seinen Koffer noch nicht ausgeräumt und will zuerst und drängend wissen, warum er nicht das Zimmer bekommen hat, das man ihm bei der Anmeldung durch seinen Arzt zugesagt hatte.

    – Leider müssen Sie sich mindestens bis morgen gedulden, denn auf der Inneren ist das Einzelzimmer für Sie noch nicht frei, antwortet ganz sachlich die Nachtschwester und bittet Eberhart Neumann jetzt nachdrücklicher, sich in dieses, für ihn eher martialische Bett zu legen, damit sie mit der dringenden medizinischen Versorgung beginnen kann. In diesem Moment erschlafft sein Geist und er ergibt sich ihren Worten. Die weiteren Aussichten machen ihn zuerst sprach- und dann schlaflos. In der Nacht nur ein oberflächliches Hinüberdämmern in einen unguten Zustand, die ersten Morgenstunden sind längst schon angebraucht, während es nur langsam und in völliger Stille in seine Vene tropft.

    Immer wieder drängen sich da hektisch die Bilder der vergangenen Stunden in seine nachtwache Gegenwart, so auch das Bild seines Internisten am späten Nachmittag, als dieser letztmöglich nur die ärztliche Behandlung im Krankenhaus sah, Eberhart Neumann aber in keinster Weise darauf vorbereitet war. Natürlich hatte er Katharina in Eile diesen erschreckenden Beschluss per Telefon mitgeteilt und darum gebeten, für ihn ein paar nötige Sachen in den Koffer zu packen, ehe er sich von Frankfurt auf eine rasende Heimfahrt in den nachtdunklen Spessart machte, um das Krankenhausgepäck dort abzuholen. Weitere szenische Bilder, auch die eines ungewöhnlich kurzen Abschieds von Kathi, bedrängen ihn, ein nur oberflächlich dahin geküsster Kuss, so wie er diesen empfand, ehe Eberhart Neumann voll aufgeregter Anspannung und in angstvoller Eile auf demselben weiten Weg mit seinem Auto wieder zurück in die Stadt und in dieses nächtliche Krankenhaus fuhr. Dann auch das Bild von seinem Koffer, als er ihn hier öffnete, dieser wirklich gedankenvoll gepackt, ganz anders als die abendlich unerwartete Trennung- für wie lang auch immer, und es fehlte in den ausgepackten Sachen nichts, was man an solch unwirtlichem Ort tatsächlich benötigt. Katharina hatte sogar an die Bücher gedacht, die Eberhart momentan liest.

    Unterbrochen wird seine Gedankenwelt immer wieder durch das Wechseln des Tropfs, sowieso ist die Nacht schon am frühen Morgen vorbei, wenn die Frühschicht der Schwestern beginnt, mit Messen des Blutdrucks, mit Einführen des Fieberthermometers, Medikamentenausgabe und der Aufforderung für einen Gang ins Bad zu einer Zeit, in der er sonst im Tiefschlaf liegt. Sein innerer Wecker wird umprogrammiert und es kann lange dauern mit der Zurückstellung auf seine Normalzeit. Neumann erinnert sich dabei an viele Jetlags, die ihn bei seiner Arbeit während und nach den weiten Fotoreisen immer gestört haben. Wird er längere Zeit brauchen, sich an den Krankenhaustag zu gewöhnen? Acht bis zehn Tage hat man ihm für die Behandlung in Aussicht gestellt, aber vielleicht sinken durch die geplante Therapie die CRP-Werte doch schneller, dabei denkt er über Antibiose nach- eine Therapie gegen das Leben? Für ihn klingt das schon sehr merkwürdig, auch wenn nur auf das in Unordnung geratene Leben in seinem Darm gezielt wird.

    Vielleicht muss eine Operation nicht sein, hofft Neumann in diesem Moment, wahrscheinlich kann er doch schneller zurückkehren in das von ihm geliebte Landhaus, das Kathi und er vor Jahrzehnten als historische, baufällige Kate erwarben, in einer Zeit, als man sich mit dem Dependance-Schlüssel in der Hosentasche und mit seinen „Achtundsechziger"-Freunden bereits auf deren schön gelegenen Liegenschaften im Toskanischen oder auf Ibiza traf, trotz erhobener Zeigefinger gleichgesinnter Altrevolutionäre, bei denen längst eine grüne Rechtsgläubigkeit erwacht war. Ihre vielen Frankfurter Jahre im schönen Westend, für dessen Erhalt Eberhart Neumann und seine Frau Katharina lang und mutig kämpften, Jahrzehnte wesentlicher Lebensjahre, die sie in diesem Stadtteil wohnten, diese Zeit ist jetzt Geschichte.

    Damals wurde dieser eigene Spessarthof vielbesungener Treffpunkt zum Country-Weekend für gemeinsame Freunde, mit denen man, über Jahre des Umgestaltens alter Gemäuer die einfachste Bettstatt teilen konnte. Diese wechselnden und häufigen Freundesbesuche, die immer aus der großen Stadt kamen, diese gewerkschaftlich engagierten Lehrerinnen mit ihren antiimperialistischen Ideen und antiautoritär erzogenen Kindern im Schlepptau, junge Professoren, die vor Ozonloch und Klimakatastrophe warnten, Artdirektoren mit neuem Lebensstil und ihren hübsch anhängenden Freundinnen aus der benachbarten Werbeagentur, Kameraleute und Journalistinnen, die von Gletscherschmelze und Jahrhundertsommer berichteten, Verleger mit linker und jüdischer Literatur und viele der Freunde, mit denen man, lange vorher, auch gegen den Vietnamkrieg und für eine neue solidarische Gesellschaft demonstriert hatte. Für fast alle versprach das stundenweise Landleben willkommenes Abenteuer und schöpferische Tätigkeit, die auch Freiheit vom alltäglichen Ballast bedeutete.

    Man begann, manchmal gemeinsam, noch auf offenem Feuer, aber ländlich ambitioniert zu köcheln. Da bestand eine ziemlich kongruente Lebenseinstellung, nicht nur zu den Gaumenfreuden, die schon damals und oft über das bloße Sattwerden hinausgingen. Denn man hatte inzwischen gelernt, dass auch bescheiden kulinarische Welten in Frankfurt jenseits der Tiefkühlbox existierten, weshalb man sich in der Woche gelegentlich im gängigen Szene-Lokal des Nordends traf. Da konnte es passieren, dass man mit diesen Freunden schon nach dem ersten Glas guten Rotweins hochkomplexe Stegreif-Vorträge hielt über die Zusammenhänge von Weltwirtschaftskrise und Atomausstieg, Elendslagern im Gaza gegen europäische Butterberge und Gurkenschwemme. Manchen der mit am Tisch sitzenden alten Kämpen erschien es als beginnender Verschleißprozess einer politischen Wahrnehmungsfähigkeit und manchmal erschrak man, wieweit man sich vom Glaubensbekenntnis alter Spontizeit bereits entfernt hatte, obwohl diese so lange noch gar nicht zurücklag. Neumann blättert weiter gedankenvoll in seinen Bildern der Vergangenheit, wobei ihm einfällt, dass da auch mancher auf ihrem Hof weilte, der damals kaum vernünftige Spiegeleier in die Pfanne brachte, heute aber über eine computergesteuerte Küche und natürlich den mehrstöckigen Weinkühlschrank verfügt. Er gesteht sich, wieder einmal, dass im immer schnelleren Wandel der Zeit und mit den Erkenntnissen seines Alters sich vieles von dem, was ihm selbst über Jahre wichtig war, in neuer Perspektive und mit veränderter Wahrnehmung in ein ganz anderes Licht rücken lässt. Jetzt schaut er genauer auf die unabänderlichen Rätselhaftigkeiten des eigenen Daseins, auf diese tektonischen Schichtungen vergangener Jahre und fragt sich, was sich von all seinen Erfahrungen besonders beeindruckend fixiert hat. In Ausschnitten gesehen sind es friedliche Bilder, aber es erscheinen ihm mehr und mehr auch kurvenreiche und recht holprige Wegstrecken, wobei Eberhart Neumann erzwungene Umwege inzwischen als sinnlos verschwendete Zeit erkennt. Möglichst keine Panik in der Anpassungsphase seines Alterns, denkt er, richtig ernst wird es sicher erst, wenn sein eigenes Zeitempfinden mit der veränderten Realität zu kollidieren droht und dieser Alptraum nach dem Erwachen möglicherweise weitergeht!

    Aus seinen rückläufigen Gedanken weckt ihn heftiges Klopfen an die Zimmertür, die sich auftut, ehe er seine Augen richtig geöffnet hat: die Morgenvisite strömt massenhaft herein und ganz plötzlich ist der Raum angefüllt mit medizinischer Kompetenz: vertretender Chefarzt, Stationsarzt, Assistentsarzt, leitende Stationsschwester, Hilfsschwestern, Lernschwestern und ein bisschen im Hintergrund, noch einmal die hübsche Ärztin aus der Notaufnahme, die ihn vor Stunden hierher brachte. Neumann, selbst noch nicht im Morgen angekommen, ist erstaunt, dass man ihr die durcharbeitete Nacht in keinster Weise ansieht, was er heimlich bewundert. Es mangelt ihr offensichtlich auch nicht an Fähigkeiten, höchste Aufmerksamkeit der anwesenden Ärzte auf sich zu vereinen, während sie das Protokoll seiner ersten Krankenhausnacht referiert. Jetzt bemerkt er, dass er bereits medizinisch befundet wird. Ein Gemurmel unter den Ärzten, das er nicht genau versteht, die Medizinersprache für ihn mehr wie eine Fremdsprache. Schließlich erklärt der stellvertretende Chefarzt, dass ihm später mindestens zwei Liter eines wenig schmackhaften Getränks verabreicht werden:

    – Das soll ihren Darm reinigen, damit wir in den nächsten Tagen eine eindeutig sonografische Kontrolle über den Verlauf ihrer Entzündung haben können. Neumann nickt nur, weil er das schon von anderen Untersuchungen her kennt.

    – Außer gelegentlicher Gabe von flüssiger Astronautenkost, die nur ihren Dünndarm erreicht, werden Sie mehrere Tage keine andere Nahrung zu sich nehmen dürfen. Leider wird deshalb schon heute das Frühstück ausfallen müssen. Aber wir werden Sie über ihren Venenkatheter mit ausreichend nahrhafter Flüssigkeit versorgen, ich bin sicher, sie werden in den folgenden Tagen wenig Hungergefühl verspüren.

    Und dann reicht ihm der stellvertretende Chefarzt zum Abschied die Hand, was Eberhart als sehr aufmerksam, aber auch befremdlich für seine Hygienevorstellungen eines Krankenhauses empfindet. Erst später entdeckt er den am Eingang befestigten Desinfektionssprüher, den aber nicht alle benutzen, die sein Krankenzimmer betreten oder verlassen. Mit der Verabschiedung verschwindet die medizinische Korona schneller aus dem Raum als sie eingedrungen war. Für Sekunden sieht Eberhart Neumann allein die weiß bekittelten Rücken, dann hört er nur noch das Geräusch der zufallenden Tür, ehe um sein beängstigendes Gerätebett wieder die Unheimlichkeit der Stille einkehrt. In diesem Moment überfällt ihn ein schrecklich bohrender Hunger, was ihn augenblicklich an der Glaubwürdigkeit des stellvertretenden Chefarztes zweifeln lässt. Seine letzte Mahlzeit liegt schon beinahe vierundzwanzig Stunden zurück, wobei ihm einfällt, dass Katharina einen Apfel als Nachtessen eingepackt hatte, der noch auf seinem Beistelltisch liegt. Der aber muss jetzt unverzehrt in den Abfallkorb wandern, denn in diesem Augenblick betritt eine andere Schwester den Raum, um die Flaschen an seinem Infusionsständer zu wechseln. Sie heißt gewiss nicht Eva, könnte aber verführerisch sein, doch leider erlaubt sie ihm keinen einzigen Apfelbiss. Da Eberhart Neumann nichts Paradiesisches in diesem Raum entdecken kann, will er auch die Apfelsünde nicht riskieren und fügt sich der schmerzenden Erkenntnis, dass der leibhaftige Hunger wohl seiner Heilung dienen muss.

    Wieder allein, möchte sich Neumann weiter einhüllen in das ihn ablenkende Wolkengebilde aus Erinnerungen vergangener Jahre, die ihm wie ein Puzzle erscheinen, und immer wieder sieht es so aus, als würden ihm dazu noch einige Teile fehlen. Beim Sortieren der Schnittstellen übermannt ihn plötzlich der Schlaf.

    Zwei Schwesternschülerinnen begleiten ihn am frühen Nachmittag auf die Station für Innere Medizin, wo er von der Stationsschwester Goriza vor der Tür zu seinem erwarteten Einzelzimmer mit einem herzlichen und ihn überraschenden „ Hallo" begrüßt wird:

    – Da kommt ja der Künstler, ruft sie!

    Eberhart Neumann muss trotz seiner Schmerzen schmunzeln und fragt, wie sie auf „Künstler" kommt?

    – Naja, sind Sie nicht der Maler, der vor einiger Zeit schon einmal auf unserer Station lag?

    Natürlich erinnert sich Eberhart genau an Schwester Goriza und ihre wärmende Herzlichkeit, als er Katharina nach einer schweren Operation hier jeden Tag besuchte. Es erstaunt ihn aber, dass sie sich nach so langer Zeit an ihn erinnern kann:

    – Es war meine Frau, die hier viele Tage als Patientin auf ihrer Station zubrachte, wahrscheinlich lag sie sogar im selben Zimmer wie ich jetzt. Sie ist die Malerin, ich habe einen ganz anderen Beruf.

    – Ja, natürlich…!Jetzt fällt es mir wieder ein, diese schöne Frau mit den auffallend aparten Ohrhängern, meint Goriza und tippt sich dabei an ihre Stirn. Einen Moment nachdenkend fragt sie dann:

    – Aber irgendetwas Künstlerisches machen Sie doch auch, ich erinnere mich.

    – Ich arbeite seit vielen Jahren als Fotograf in der Werbung, antwortet Eberhart Neumann und betritt mit diesen Worten, noch immer in Begleitung der beiden Schwesterschülerinnen und weiterhin angehalftert an seinen rollenden Infusionsständer das Zimmer, auf das er seit gestern wartet. Auch wenn hier merkwürdigerweise keine Gardinen hängen, wirkt das neue Krankenzimmer im Unterschied zum letzten Nachtquartier wie ein Nobelhotel. Beinahe gemütlich eingerichtet, denkt Neumann und lässt seinen vergleichenden Blick schweifen, großzügige Wandschränke in hellem Holzfurnier, eine Schreib-und Essecke am Fenster, ein angenehmer Sessel für Besucher, großer Flachbildschirm hoch an der Wand, und in einem Bücherregal eingebaut eine kleine Radio/Stereo-Anlage, für Eberhart von besonderer Wichtigkeit, daneben noch ein Paul Klee-Bild als ordentlich gerahmter Druck an der Wand und dann das großzügige Duschbad, nur mit drei kurzen Schritten vom Bett aus zu erreichen. Nur dieses Bett, unverkennbar das für Kranke und für alle Möglichkeiten verstellbar, beweist ihm, warum er hier ist. Noch angezogen legt er sich rücklings darauf und schaut zur Decke und entdeckt, dass sie aussieht wie ein Sternenhimmel!

    – Warum hängen hier eigentlich keine Gardinen am Fenster, fragt er die beiden jungen Damen, die routiniert seine mitgebrachten Sachen in Schrank und Bad einsortieren. Da kann mir doch jeder aus gegenüberliegenden Zimmern bis auf meinen Leib schauen. Etwas verlegen lächelnd, wie Neumann entdecken will, versuchen die beiden eine Erklärung:

    – Dies Zimmer wurde desinfiziert, dafür mussten die Vorhänge abgenommen werden, damit die Stoffe nicht den Geruch annehmen. Ganz frisch werden die Gardinen morgen wieder aufgehängt sein, das ist hier aber kein ungewöhnlicher Vorgang.

    – Ist gestern in diesem Zimmer der Patient gestorben, fragt Neumann und erschauert bei diesem Gedanken und dabei beschleicht ihn ein äußerst bedrohliches Gefühl, was seine momentane Situation betrifft. Aber die jungen Schwesternschülerinnen dürfen auf derartige Fragen offensichtlich keine Auskunft geben und zucken, sichtlich synchron, aber vielsagend mit ihren Schultern und verlassen eilig das Zimmer. Von deutlicher Unruhe getrieben machen sich seine Gedanken auf weite Spaziergänge durch die unterschiedlichen Landschaften seines rückwärtigen Lebens, das Leben, das manche aus seinem weiten Freundeskreis viel zu früh verlassen mussten. Plötzlich ein Aufruhr in seinen Gedanken, der mögliche Tod, normalerweise in seinem Kopf ein tägliches Tabu, ist jetzt gegenwärtige Frage, was kommt danach? Eigentlich ist Neumann davon überzeugt, dass es kein danach geben kann, alles Körperliche zerfällt, das ist sicher. Aber er weiß auch, der Natur geht nichts verloren, alle Moleküle seines Seins bleiben für immer erhalten. Dass seine Asche in den Wurzeln der großen Kastanie in seinem Garten vergraben werden könnte und der Baum damit neue Nahrung erhält, er sozusagen in die Blätter aufsteigt, um dort neue Kraft zu entwickeln, ist ihm eine tröstliche Vorstellung. Und dann erinnert er sich auch an seine immer wiederkehrenden Träume, in denen er als Vogel durch die Lüfte fliegt und das Gefühl von Freiheit und Schwerelosigkeit genießt, sich vom Erdboden durch einfachen Flügelschlag abzuheben. Woher nur kann sein Unterbewusstsein diese Empfindung kennen, wenn diese Erinnerung nicht doch auf Seelenwanderung beruht, den Tod überdauernd?

    Aus diesem Konvolut seiner Gedanken reißt ihn Sandra, die mit dem Anklopfen gleichzeitig die Türe öffnet und mit flottem Schritt an sein Bett kommt:

    – Wünschen Sie Tee oder Kaffee, Herr Neumann, ich bringe ihnen etwas zu trinken, das können sie gleich zusammen mit ihrem Cocktail zum Abführen genießen, Zucker und Milch sind dabei allerdings nicht möglich und leider darf ich Ihnen auch keinen Keks dazulegen. Ihre Dreiliter-Lösung sollten sie bis heute Abend getrunken haben, auf dass ihr Darm leer und gut gereinigt wird, lässt Ihnen Schwester Goriza sagen, aber sie wird ihnen das noch selbst erklären.

    Eberhart Neumann würde Sandra allein an ihrer Stimme erkennen, mit ihrem auffallend dunklen Timbre. Sie ist die sehr adrette Service-Assistentin dieser Station, die er schon von seinen früheren Besuchen hier kennt, eine Mittdreißigerin, nach der sich nicht nur Männer unwillkürlich umdrehen, würde man ihr irgendwo, auch hier im Krankenhaus begegnen. Eine gepflegte Erscheinung und auch in ihrer Service-Uniform von sichtbarem Geschmack, ihr Gang betont durchsetzungsfähig und in gewisser Hinsicht auch erotisch, so wie sie ihren gut gestalteten Körper mit ihren langen Beinen bewegt.

    – Herr Neumann, ich habe gehört, dass sie Fotograf sind, meint Sandra und weiß sich dabei sehr geschickt an das Fußende seines Bettes zu stellen, es ist eine durchaus lüsterne Strahlung, die von ihr ausgeht, wie Neumann für sich feststellt. Ihr aparter Haarschnitt betont ihr hübsches, nicht mehr ganz jugendliche Gesicht. Naja, eine Frau mit Erfahrung, die offensichtlich weiß, wo es lang geht, denkt Neumann.

    – Was fotografieren sie eigentlich, will sie jetzt von ihm wissen und er ahnt schon, welche Frage sich anschließen wird. Dass sie dabei das Präsens und nicht die Vergangenheitsform benutzt, dankt er ihr innerlich. Auf Grund seines wirklichen Alters hätte die Frage natürlich auch anders lauten können. Immerhin ist Neumann schon in vorgeschrittenen Sechzigern, eine Tatsache, der sie, das bemerkt er, ebenso wenig Glauben schenken würde wie er selbst.

    – Leider ist das so einfach nicht zu beschreiben, antwortet er, aber kurz gesagt, arbeite ich als Werbefotograf und fotografiere Produkte, Szenen und Menschen und vieles mehr, aber warum interessiert sie das?

    Sandra zieht aus ihrer Jacke ein Foto, das sie Neumann zeigt, ein Bild mit einem gewöhnlichen Amateurporträt, auf dem man sie gut erkennt.

    – Leider gibt es kein einzig vernünftiges Foto von mir, weil ich so wenig fotogen bin, behauptet sie, aber Eberhart Neumann will das nicht bestätigen, während er gleichzeitig überlegt, ob er seinen oder mehr ihren Gefühlen trauen sollte.

    – Es gibt eigentlich keine unfotogenen Menschen, versucht er ihr zu erklären, manche Menschen gefallen sich auf Fotos nicht, weil sie oft anderes erwarten oder ungeduldig sind, aber gerade bei Ihnen bin ich überzeugt, dass mit Ihnen sehr schöne Fotos zu machen sind, aber das dürfte nie eine nur -fünf-Minuten- Sitzung sein. Der Fotograf sollte Sie gut kennen und sie sollten den Fotograf oder die Fotografin gut kennen, damit Sie alle Hemmungen verlieren, die in Gegenwart einer Kamera entstehen. Neumann hofft, mit diesem Satz an ihrer wahrscheinlichen Kernfrage vorbeizukommen, trotzdem retuschiert er Sandra in Gedanken nackt und überlegt, dass es sich lohnen würde. In diesem Moment klingelt ihr Handy und sie muss sich schnell verabschieden, weil sie in ein anders Zimmer gerufen wird.

    – Darüber müssen wir noch weiter reden, sie sind ja noch ein paar Tage hier, sagt sie im Weggehen, Neumann schaut ihr tatsächlich nach:

    – Diese drei Liter, das schaffe ich nicht, ruft er ihr hinterher und dann fängt er sofort mit Trinken an, mit dem ersten Glas dieser extrem süßen, nach Kunstfrucht schmeckenden Lösung, schon beim ersten Schlucken würgt es ihn, aber er weiß, dass er da durch muss.

    Später erscheint auch der Chefarzt, Professor Dr. Stern, ein bekannter Gastroenterologe, der ihn früher schon mehrfach behandelt hat, ein Mensch von besonderem Einfühlungsvermögen und ohne jede Allüren dieser Halbgötter in Weiß. Neumann ist aus diesen Gründen seit Jahren in ambulanter Behandlung von Stern, die beiden kennen sich deshalb schon lang. Aber jetzt ist er zum ersten Mal sein stationärer Patient und ist froh, dass er von Stern noch einmal gründlich untersucht wird, denn dieser von ihm geschätzte Chefarzt ist nicht mehr jeden Tag im Krankenhaus. Eigentlich ist Stern seit ein paar Wochen bereits im Ruhestand, was ihm, vom Äußeren her gesehen, niemand glauben möchte. Anlässlich einer turnusmäßigen Vorsorge-Koloskopie vor ein paar Monaten hatte Neumann mit Stern schon einmal, weit jenseits der medizinischen Diagnostik, ein Gespräch über Probleme des eigenen Alters.

    – Von weitem könnte man es eher für eine Institution halten, sagte damals Stern, aber wie wir sehen, gibt es auch Jüngere, die plötzlich alt geworden sind.

    – Ja natürlich, meint Neumann, zum Beispiel hatte ich mir vor Jahren gesagt: bald bin ich Sechzig - nachdem ich mich von diesem Schrecken erholt habe, bin ich beinahe Siebzig. Diese Betroffenheit, die mich dabei überfiel, hat sich bis heute leider nicht gegeben. Aber ich bemühe mich meist um eine profunde Gelassenheit, eine möglichst angenehme Verlangsamung meines ewig hektischen Lebensgefühls, das nicht nur mein Beruf mitbrachte. Aber niemals möchte ich sagen müssen, dass ich dafür zu alt bin, sich täglich neu fordern, sollte doch mein Rezept sein gegen die altersmäßig übliche Erschlaffung, also doch mit siebzig noch auf dem Surfbrett, meine Leidenschaft, die mir leider auch Leiden schafft, wie ich weiß, denn nicht alles will mehr so funktionieren, wie ich es Jahrzehnte gewohnt war. Da muss ich schon aufpassen, dass die Wirbeldegenerationen nicht die Kontrolle des eigenen Lebens übernehmen. Stern lächelte seinerzeit, aber er widersprach nicht. Diesmal macht er ein ernsteres Gesicht:

    – Ihre Divertikulitis ist eine schwere Erkrankung, man spürt bei Tastbefund im Kolon deutlich die Verhärtungen, diese Entzündung eines oder mehrerer Divertikel, und sie sollten sich mit anstrengenden Betätigungen bis zur Abheilung zurückhalten, die Gefahr eines Darmdurchbruchs ist sonst ihr ständiger Begleiter und in einem solchen Fall müsste man ihnen wirklich sofort den Bauch öffnen, aber derartige Eingriffe könnten auch lebensgefährlich sein. Wir werden den Rückgang der Entzündung einerseits durch ständig neue Laborwerte, andererseits auch durch sorgfältige Sonografie verfolgen. Die Medikation, die Sie erhalten, wird Sie in wenigen Tagen gesunden lassen, davon bin ich überzeugt.

    Bei diesen Worten fällt Sterns Blick auf die Frankfurter Zeitungen, die aufgeschlagen auf Neumanns Bett liegen und die Titelzeilen sind in ihrem Fettdruck nicht zu übersehen:

    – „Der große Knall und „Zu Staub, „die Welt wird zusehen, wie in Frankfurt der AfE Turm, Sinnbild des architektonischen Brutalismus in die Grube fährt", liest Stern, indem er die Zeitungsseiten hochnimmt.

    – Naja, redet er weiter, zu Staub soll diese Hässlichkeit werden, aber ich denke, dass es eine gewaltige Herausforderung für den Sprengmeister sein wird, denn noch nie wurde ein ähnlich hohes Gebäude in Deutschland auf diese Weise niedergelegt. Die unmittelbare Umgebung des Turms verlangt unglaubliche technische Präzision, ganz sicher vergleichbar mit der einer komplizierten Operation, es steckt auch ein Wagnis dahinter, diese architektonische Krankheit zu beseitigen. Ich werde mit meinen Kollegen, soweit wir am Sonntagmorgen abkömmlich sind, das Spektakel von der Dachterrasse aus beobachten, wollen Sie sich die Sprengung auch ansehen?

    – Mein Interesse liegt nicht allein in dem Phänomen dieser gewaltigen Hochhaussprengung, Herr Professor, antwortet Neumann, es ist auch ein Stück meiner Frankfurter Geschichte, die hier beerdigt werden soll. Da geht es mir vielleicht anders als Iring Fetscher, der in einem Interview gesagt hat, er trauere dem Turm nicht nach, er wünsche sich nur, dass er „schön" zusammenfällt. Ich vermute sowieso, dass Tausende von Schaulustigen hier jene merkwürdige Ästhetik erwarten, die weltweit medial auch beim Zusammensturz der Twintowers in New York empfunden wurde. Der AfE Turm ist eines der letzten, jetzt noch erhabenen Bauwerke aus den siebziger Jahren, deren Entstehung und Höhenwachstum ich als Bewohner des Westends habe erleben können. Es erfüllt mich ein wenig mit Wehmut, wenn ich heute sehe, dass viele dieser Gebäude schon wieder abgetragen wurden, auch wenn die nachrückenden Neubauten eine deutlich anspruchsvollere Gestaltung erfahren haben. Der Abriss dokumentiert die erschreckend kurze Halbwertszeit zeitgenössischer Baukunst und damit auch sehr deutlich die eigene Vergänglichkeit. Dieser hässliche Betonturm, ein aus dem alten Uni-Campus herausragendes Symbol des politischen Aufbruchs entwickelt auch Beziehungen zu meiner eigenen Frankfurter Vergangenheit jener Jahre, die ich immer als meine poltische Sturm- und Drangzeit bezeichnen möchte: es waren doch Jahre meines kritischen Aufbruchs, die mich wachrüttelten und die mich mental formten, es waren die Jahre studentischen Widerstands, der sich gegen die Generation der Täter, auch gegen eine verkrustete Nachkriegsgesellschaft und ihre autoritäre Strukturen, gegen den Vietnamkrieg und, das sollte man bei diesen Erinnerungen nicht vergessen, auch gegen eine rigide Sexualmoral, gegen die gesellschaftliche Benachteiligung der Frauen richtete. Obwohl ich mich an vielen Teach-ins, auch im legendären Hörsaal VI und an vielen Demonstrationen beteiligte, war ich kein Student, sondern junger Arbeitgeber in einer dort verrufenen Kreativ-Branche, die mit ihren wirtschaftlichen Zielen im krassen Widerspruch zu politischen Forderungen stand, für die ich damals selber eintrat. Da gab es schon erhebliche innere Widersprüche, die ich zu verarbeiten hatte.

    – Aber es waren zum Teil auch pseudowissenschaftliche Vorstellungen, die die linke Studentenschaft der achtundsechziger Generation vertrat, gibt Stern zu bedenken, ich erinnere mich auch an heftige Diskussionen verschiedener Fraktionen untereinander, die den Prozess nötiger Veränderungen durch totalitäres Verhalten ins Stocken brachten. Es ist ja die große Frage, was von diesen Veränderungen bis heute Bestand hat, erst recht, wenn man daran denkt, wie sich, so möchte ich das doch nennen, die damalige Kulturrevolution in einen terroristischen Untergrund verzog.

    – Ja, ich weiß, erwidert Neumann, viele schwierige Entwicklungen von heute wie Kinderarmut und ein verändertes Wertesystem schiebt man absurderweise jetzt den Altachtundsechzigern in die Schuhe, zu dieser Generation gehören wir ja beide und sehen uns wahrscheinlich nicht verantwortlich dafür. Der Historiker Götz Aly, auch ein Mitstreiter von damals, schreibt in seinem Buch „Unser Kampf von Utopismus, Revolutionsseligkeit und behauptet, dass die „Achtundsechziger ihren Vätern der 33er Generation näher waren als vielen heute lieb sein kann. Ich selbst halte das für eine provokante Behauptung und glaube, dass sich in den siebziger und achtziger Jahren doch vieles in unserer Gesellschaft sehr positiv veränderte, was ganz sicher auf die von Ihnen gemeinte Kulturrevolution zurückzuführen ist. Also: es wurde doch einiges erreicht! Vielleicht werden meine Enkel das Jahr 68 einmal so lernen wie wir das Jahr 1848. Wie heute in den Medien über die 68er Bewegung diskutiert wird, erscheint mir als ein rückwärts gerichteter, aber völlig überflüssiger Deutungsstreit. Mir fällt da immer der Satz aus Dürrenmatts „Physiker ein: „Was einmal gesagt wurde, kann nicht mehr zurück genommen werden.

    Neumann hätte dieses Gespräch gerne fortgesetzt, aber die hereinkommende Schwester muss das medizinische Abendprogramm für ihre Patienten erledigen, eine Erinnerung für Professor Stern, dass er noch weitere Visiten in den Nachbarzimmern seiner Station auf seinem Plan hat.

    – Sie können ja mit auf die Dachterrasse kommen, um die Sprengung des Uni-Turms zu beobachten, erwähnt er noch beim Verlassen des Raumes, bis dahin können wir Sie sicherlich auch mal trennen von ihren Infusionsleitungen, ohnehin sollten Sie sich für ihren Kreislauf in diesem Haus ein bisschen bewegen.

    Er kommt am Vormittag des folgenden Tages mit einer höflichen Begrüßung und einer Entschuldigung für die entstehende Unruhe ins Krankenzimmer. Offensichtlich ist er hier Haustechniker und will jetzt neue Gardinen aufhängen. Ein auffallend attraktiver Mann in mittleren Jahren, dessen fernes Herkunftsland für Neumann unschwer zu erkennen ist, obwohl in seinem perfekten Deutsch keinerlei Färbung einer anderen Sprache mitschwingt. Als er im Zimmer seine Leiter aufbaut, um die frisch duftenden Vorhänge in die Schienen einzufädeln, will Neumann, der eigentlich lesend und angezogen auf seinem Bett liegt, von ihm wissen, ob sein Heimatland vielleicht Äthiopien wäre, was dieser erstaunt bejaht:

    Woher wissen Sie das, fragt er und beginnt sofort zu erzählen:

    – Seit über zwanzig Jahren wohne ich schon hier - und Deutschland wurde mein neues Zuhause. Leider musste ich mein Heimatland damals wegen des Bürgerkriegs verlassen und kam als Flüchtling hierher.

    – Waren Sie seitdem nie mehr in Äthiopien, will Neumann wissen.

    – Doch, doch, antwortet er, nach Kriegsende war ich noch einmal in Adis Abeba, um meine Eltern und Geschwister zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit lernte ich dort auch meine Ehefrau kennen. Jetzt wohnen wir mit unseren drei Kindern, die hier geboren sind, in Frankfurt und fühlen uns in dieser Stadt sehr wohl. Stolz zieht er dabei aus seinem Portemonnaie ein Foto mit seiner Familie.

    – Ihre Kinder gehen offensichtlich alle schon zur Schule, wie Neumann auf diesem Bild feststellen kann, seine junge äthiopische Frau, wirklich eine besondere Schönheit wie auch die Kinder.

    – Ihre Frau sieht aus wie die Königin von Saba, Äthiopien scheint das Land der schönsten Menschen zu sein, komplimentiert Neumann und ist überzeugt, dass diese Feststellung auch stimmt. Fast etwas verlegen bedankt sich der Haustechniker für diese Laudatio. Neumann will aber weiter wissen:

    – Wo haben Sie eigentlich so gut Deutsch zu sprechen gelernt?

    – Zuerst im Goethe-Institut, später durch meine Berufsausbildung, die ich in Deutschland abschließen konnte, erklärt er und fragt Neumann, woher denn sein Interesse für Äthiopien kommt.

    – Das ist eine lange Geschichte, antwortet Eberhart Neumann, als Kind und Heranwachsender benutzte ich, jetzt werden Sie sicherlich lachen, den Namen „Haile Selassie, Kaiser von Äthiopien" als Stoßseufzer, in Erinnerung meiner Kindheitstage interessierte er mich auch als eine Märchenfigur, denn ich hatte gelernt, dass er wirklich der letzte Kaiser auf dieser Erde war. Geschichtlich war er wahrscheinlich eine bedeutende politische Gestalt des zwanzigsten Jahrhunderts, denn als Reformer forderte er als erster die Einheit Afrikas und war damit ein Zukunftsdenker. Später wurde er ja als Autokrat und verantwortlich für furchtbare Hungersnöte in ihrem Land ermordet, angeblich von kommunistischen Putschisten.

    – Ich erinnere mich nicht gern an diese und die jüngere Vergangenheit meines Landes, meint zurückhaltend der äthiopische Haustechniker, dessen Name Eberhart Neumann bei der Begrüßung leider nicht verstand, er hoffe aber sehr, dass auch sein Heimatland in Zukunft zu Demokratie und Wohlstand kommen wird.

    – Waren Sie schon einmal in Äthiopien? fragt er.

    – Leider noch nicht, antwortet Neumann, aber vor einigen Jahren war ich eingeladen zu einer Ausstellung mit unglaublich beeindruckenden Fotos aus ihrem Land, die ein ehemaliger Mitarbeiter meines Studios im Auftrag der humanitären Stiftung „Menschen für Menschen" des Schauspielers Karl Heinz Böhm machte, den ich bei dieser Gelegenheit kennen lernen durfte und ihn seit dieser Zeit besonders schätze. Die Bilder haben mir Äthiopien und seine Menschen unvergesslich nah gebracht, so nah, dass ich jetzt das Gefühl haben könnte, ich sei wirklich dort gewesen. Aber wer weiß es, vielleicht schenkt mir die Zukunft noch Möglichkeiten, auch in ihr Land zu reisen. Bei meiner letzten Reise ans Rote Meer war ich ihrem Land doch schon sehr nah gekommen.

    Plötzlich erscheint es Neumann sehr leichtfertig, jetzt seine Zukunft vorwegzunehmen wie eine schimmernde Verheißung, die wie durch ein winziges Loch in sein gegenwärtiges Dunkel zu leuchten scheint, aber er kann für sich feststellen, dass auch der kleinste Lichtstrahl Mut machen kann. Der Gedanke an ferne Reisen könnte da anmuten wie ein Rettungsring im richtigen Augenblick.

    Der kommunikationsfreudige Haustechniker hängt die Vorhänge und die rotgeblümten Übergardinen in einer beeindruckenden Geschwindigkeit und einer Perfektion auf, als hätte er Dekorateur und nicht das Facility-Management erlernt. Neumann ist beeindruckt, aber im Wesentlichen von einer diesmal wirklich gelungenen Integration eines ehemaligen Kriegsflüchtlings aus Afrika. Er spürt aber auch, dass der Äthiopier über Gründe seiner Flucht nicht reden möchte und will nicht weiter auf ihn eindringen. Der Haustechniker verabschiedet sich bei Neumann mit den Worten:

    – Ich hoffe sehr, dass sie noch Gelegenheit haben, mein Land persönlich kennen zu lernen - und natürlich würde ich mich sehr freuen, wenn wir uns dann wieder für ein Gespräch verabreden können.

    Später wird Neumann zur Sonografie gerufen, wozu er viele Stockwerke des großen Hauses durchqueren muss, bis er diese Abteilung gefunden hat. In den Gängen und Fluren ein Laufen und Rennen wie ein vergrößerter Ameisenhaufen, vor dem Untersuchungsraum großer und multikultureller Andrang, auch Neumann muss warten. Der Stellvertretende Chefarzt, dem Patienten Eberhart Neumann seit dem ersten Krankenhausmorgen bekannt, bleibt auch heute eher wortkarg, untersucht ihn gründlich, aber ohne genauere Erklärungen. Dann kommt er zu dem Ergebnis, dass im Sigmakolon noch keine wesentliche Besserung der Entzündung festzustellen ist. Seine fast beiläufige Erwähnung, dass die Gefahr einer Darmperforation mit der möglichen Bauchfellentzündung noch nicht gebannt ist, klingt da für Neumann wie eine Hiobsbotschaft. Also noch weitere Tage eines angstvollen Ausharrens in diesem Haus und weit weg von dem, wonach Neumanns Sehnsucht jetzt sucht, ohne Stillstand in den fliegenden Bildern seiner Gedanken: Katharina, jetzt fehlt sie ihm, was er nicht immer so fühlt. Sie fehlt ihm jetzt wie die ihn sonst umgebende Landschaft, in der er sich glücklich fühlen kann, anders als manchmal seine Frau.

    Die Kommunikation mit ihr, von hier aus funktioniert sie nur über sein Mobiltelefon, doch ist es ein eher bescheidenes Bedürfnis nach Trost bei diesen Worten, die sich dabei häufiger Luft machen. Denn Katharina Beate fährt schon seit Jahren kein Auto mehr und alle Anstrengungen von Neumann, seine schöne Frau wieder ans Steuer zu bringen, verlaufen sich in dortigen Feldwegen. Nur Neumann als Fahrer, das hat beide in eine sich steigernde Abhängigkeit gebracht, die immer öfter Unmut schafft, seit sie sich den Landsitz zum ständigen Wohnort gemacht haben. Irgendwo hatte er doch gelesen, dass Abhängigkeit die Ursache aller Krankheiten ist, das macht ihm jetzt Sorgen. Dabei war es doch Kathis Idee gewesen, der Eberhart Neumann sogleich zustimmte, dem Life-Style, den drängenden Normen städtischen Lebens zu fliehen, einzutauchen in diesen neorousseauistischen Lebenswandel, der beiden seit Jahren als unangefochtenes Reservat eines besänftigenden und beschaulichen Alters galt. Da fühlten sie sich noch einig im Wissen (und vielleicht auch im Nichtwissen) der notwendigen Zwänge und ihrer Folgen, auf einer Bruchlinie zwischen beider „Vita Aktiva und dieser „Vita Contemplativa balancieren zu müssen. Am Anfang des Landlebens fiel es Neumann noch schwer, in der bislang gelebten Kultur dieses Unruhestands einen neuen Pilgerpfad zu finden und zu gehen. Doch jetzt ist er sich sicher, dass sein eigener Körper, dieses wilde Tier, das ihn seit langem bewegt, sich immer häufiger und warnend meldet. Da weicht die maßlose Kraftverschwendung jüngerer Jahre schon mal dem Regime gehöriger Selbstkontrolle. Diese veränderte Lage schreit schon nach strategischer Optimierung, also nach Lebensqualität. Eberhard Neumann war sich sicher, dass mit dem Umzug aufs Land und ins eigene Gemäuer wenigstens die äußeren Bedingungen der erstrebten Lebensqualität erreicht waren. Ihrem denkmalgeschützten Wohnhaus mit seinen vielen kleinen Fenstern im historischen Fachwerk hatten sie kurz zuvor mit Hilfe eines Frankfurter Architekten einen modernen Anbau gegönnt, der durch großzügige Glasflächen viel Licht ins Haus lässt und damit auch sein Innenleben transparent machen soll.

    Neumann empfindet das neue Ensemble als eine gelungene Synthese aus Vergangenheit und Zukunft, die durch Gäste und Besucher immer wieder Bewunderung erfährt, wenn er sie durchs Haus führt, für ihn immer eine Gelegenheit zu erklärendem Vortrag, den Katharina schon auswendig kennt. Vieles sieht sie häufig ganz anders und es gibt auch hitzige Diskussionen über den „Verlust städtischen Lebens. Da ist es zwar richtig, dass diese Erlebnisräume jetzt in Kilometern erfahren werden müssen, aber sie sind erreichbar und stehen dem Mehr an Zeit potenziert zur Verfügung. Doch dazu ist Mobilität erforderlich und da erinnert sich Neumann wehmütig an solch vergangene Zeiten, als Kathi noch in ihrem kleinen roten Sportwagen, zusammen mit dem noch kleinen Sohn Arwed, fast immer gepaart mit Lust und guter Laune ihm nachgefahren war aufs Land, wenn Neumann hier schon längst sein bauhandwerkliches Wochenende begonnen hatte. Tatsächlich liegt das schon etliche Jahre zurück. Die Momente des Weigerns kamen mehr schleichend. Zuerst waren es nur Autobahnfahrten, bei denen Neumann das Steuer übernehmen musste, später fehlte Katharina auch für Kurzstrecken in der Stadt der Mut zum eigenen Auto. Diese Reihenfolge, auch die Ursachen zu ihrer wachsenden fahrerischen Unselbständigkeit wollte Neumann niemals so recht verstehen. Doch wurde er so und ganz unfreiwillig zum Familienkutscher gemacht, eine neuer Zustand, der frühere Unabhängigkeiten zu bedrohen scheint. Da klingt bei ihr schon mal die Klage durch: „Ach wären wir doch besser in der Stadt geblieben..!

    So will es Eberhart Neumann auch gehört haben, als Katharina Beate in diesem Augenblick anruft, als er gerade die letzte Seite in Urs Widmers „ Buch des Vaters" gelesen hat, ein Roman, der ihn zutiefst bewegt hat und den sie ihm mitgab ins Krankenhaus:

    – Mein Lieber, stürmt sie in sein Ohr, so ist das leider mit dieser ländlichen Einsamkeit, auch in den nächsten Tagen werde ich Dich nicht besuchen können, wir hatten das ja beide erwartet: ich habe niemanden gefunden, der mich mitnimmt nach Frankfurt und auch wieder zurückbringt.

    Neumann denkt da einen kurzen Moment an die Bahn, die doch im Stundentakt verkehrt und auch keine Ewigkeiten für diese Strecke benötigt, verwirft diese Idee für sich aber sofort und meint :

    – Mach dir keine Gedanken, ich bin doch bald wieder zu Hause. Außerdem bin ich sehr froh, wenn wir drei-oder viermal am Tag miteinander reden können, länger und genauer, wie wir es an manchen gemeinsamen Tagen in unserem Haus nicht schaffen.

    – Glaubst Du, dass wir zu wenig miteinander reden, fragt Katharina etwas angespitzt zurück.

    – Ja, das denke ich manchmal, aber es fällt mir in dem Moment besonders auf, wenn wir getrennt sind und derweil dem Anderen lange und lebendige Geschichten des Tages über den Äther erzählen können, gewissermaßen dann aus zwei verschiedenen Erlebnisräumen, antwortet Neumann.

    – Du meinst über Satellit, verbessert sie ihn wie so oft.

    – Von mir aus auch Satellit oder Glasfaser, Hauptsache, wir hören und verstehen uns, denn ich muss Dir jetzt eine kleine, mich beeindruckende Geschichte aus dem Buch von Urs Widmer erzählen, der hier über den Tod seines Großvaters schreibt. Nach altem Brauch musste der Sohn des Verstorbenen - also sein Vater, von dem Urs Widmer erzählt - den in seinem abseits gelegenen Heimat-Bergdorf lange Zeit bewahrten leeren Sarg des Großvaters abholen und allein auf seinen Schultern in einem riskanten Tagesfußmarsch durch das Gebirge ins Tal schleppen, um ihn in diesem, vor Jahrzehnten gezimmerten Gehäuse ins Grab legen zu können. Für uns heute, die wir nur zwei Generationen später leben, doch kaum noch vorstellbar - oder? Bleibt es ein Zeichen besonderer Ehrerbietung gegenüber dem Vater, den Eltern, das vielleicht über unser Verständnis zum vierten Gebot hinausgeht? Es könnte mir damit eine gewisse Achtung abverlangen. Findest du mich da emotional zu rückständig, zu sentimental, weil mich diese literarisch erzählte Vergangenheit berührt?

    Nicht bemüht, ihm weiter zuzuhören, zögert Kathi mit der Antwort, obwohl ihr diese sicher ganz leicht gefallen wäre, fragt aber barsch zurück:

    – Kann das sein, dass Du im Augenblick zu viel an Tod denkst? Du bist dort in den besten Händen und alle kümmern sich um dich. In wenigen Tagen wirst Du, völlig gesund, nach Hause geschickt, mach dir mal andere Gedanken!

    Neumann fühlt sich in diesem Moment gründlich missverstanden, will aber nicht mehr auf seine Frage zurückkommen. Schon öfter in der letzten Zeit hatte er das Gefühl, dass sie sich ihm entzog, je mehr er sich mit seiner Gedankenwelt ihr zu nähern versuchte. Dabei wird ihm immer deutlicher bewusst, dass sich seine gegenwärtigen Probleme aus Ablagerungen der Erfahrungen speisen, die jetzt in vielen Momenten der eigenen Vergangenheit zu wühlen scheinen, wobei er gleichzeitig und entschuldigend denkt: Wahrscheinlich ist es nur meine Müdigkeit, die sich heute zwischen uns stellt.

    Vielleicht sollte man seine innere Welt radikaler verändern, um unbeschwert die wenige noch nicht verbrauchte Zeit abfeiern zu können, bevor man von Trümmern gegenseitigen Nichtverstehens verschüttet wird, blättert Neumann wild durch seine Gedanken, während er das Gespräch mit Katharina Beate beendet. Er weiß, dass ihr beider Leben auch aus dem besteht, was sie in den vielen und wechselvollen Jahren gemeinsamer Vergangenheit versäumt haben. Und dann muss er feststellen: Ja, wo ist sie geblieben, diese lange Wegstrecke ihres Lebens, das meiste bereits hinter ihnen, aber auch ein wichtiges und sehr steiles Stück, das er da noch vor sich sieht. Es war ja irgendwann, ohne dass er es bemerkt hatte: nicht nur die Jahre allein, auch die Jahreszeiten sind im Handumdrehen vorbei, ein Monat, was bedeutet der schon, früher erschien ihm das als gefüllte Zeit und jetzt, von einer Woche zur nächsten bedarf es fast nur noch eines kurzen Wimpernschlags, diese unglaubliche Beschleunigung des Lebensgefühls, die sich in ihrer eigenen Steigerung verrät: der Schnellzug verschwand wie der Eilbrief, beides war nicht mehr schnell genug, und eilen klingt allein schon nach Müßiggang, ist nicht mehr zeitgemäß. Die meisten scheinen doch auf der Überholspur zu leben und beschleunigen jetzt alles, benutzen Taschentücher von „Tempo, rennen zur „Fünf-Minuten Terrine, putzen mit „Pronto" und vielen ergeht es noch schneller in diesem Schnellverfahren und in ihrer Schnellreinigung. Zuweilen macht sich Eberhart Neumann klar, dass auch sein Leben reißend fließt, die Jahre, die Lebensalter, sie rasen vorbei wie im Flug. Wie ein High-Speed-Film läuft plötzlich diese Lebenszeit vor seinen Augen ab, während so viele vergangene Bilder dabei auftauchen, die er anhalten möchte, die eigene Lebensreise, serpentinenreiche Wegstrecken, stellenweise ziemlich rau und mitunter auch steinig, was manchmal tiefe Erschütterung bedeutet.

    Plötzlich großes Theater vor seiner Tür, wahrscheinlich ein Patient aus

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