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Hockstrecksprung: Roman. "Persönlichkeitsstörungen gibt es nicht...
Hockstrecksprung: Roman. "Persönlichkeitsstörungen gibt es nicht...
Hockstrecksprung: Roman. "Persönlichkeitsstörungen gibt es nicht...
eBook466 Seiten5 Stunden

Hockstrecksprung: Roman. "Persönlichkeitsstörungen gibt es nicht...

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Über dieses E-Book

"PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN GIBT ES NICHT…",

Das behauptet - entgegen der gültigen Lehrmeinung - zumindest Hella, nachdem sie gerade zwei Stunden vor Friedemarie nackt und regungslos Modell gestanden hat. Als "Friede" einige Tage später unerwartet vor der Psychologin auftaucht, ahnt diese nichts von dem beinah tödlichen Desaster, in das sich beide immer tiefer hineinmanövrieren. Ein Voll-Karacho-Roman über die Verstrickung zweier Nervensysteme und eine Liebeserklärung an die Diversität
menschlicher Psyche.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Dez. 2021
ISBN9783347499713
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    Buchvorschau

    Hockstrecksprung - Josephine Händel

    1 Bastteppich, Kerala

    »Schuld und Scham sind der Siegeszug menschlicher Empfindungen gegenüber dem Tierreich!«, deklamierte Friedemarie und stellte sich energisch auf den kleinen Bastteppich ihres Privatzimmers im Mango-Hostel. Es herrschten subtropische Temperaturen in subtropischen Breitengraden mit der dazugehörigen Luftfeuchtigkeit. Bis auf die Fußkettchen war sie nackt. Ihre kinnlangen, nussbraunen Haare wippten auf und ab und ihre Augen leuchteten wie vor dem Aufbruch in ein Abenteuer. Fieberhaft hantierte sie mit Papierschnipseln unterschiedlichen Materials herum. Da waren abgerissene Ecken eines Reisemagazins, ein Einkaufszettel, zwei Bahnen Klopapier, Notizklebezettelchen und ein Flyer für den nahen Wildlife Sanctuary Park, eine der unzähligen Attraktionen Südindiens. Sie ließ einen weiteren Schnipsel zu Boden kreiseln und hielt sich den nächsten mal dichter, mal ferner vor die Augen, um ihre eigene Schrift zu entziffern.

    »Oder der hier: Scham ist der Detektor auf dem Minenfeld menschlicher Interaktionen, doch meiner hat einen zu empfindlichen Sensor?«

    »Zu militant«, wiegelte ihr so betitelter Lebensabschnittsstabilisator Pindu ab, der sich, ebenso unbekleidet, verkehrt herum auf einen Stuhl gesetzt hatte, um seine Arme auf der Lehne abzustützen. Hinter ihm flimmerte die Anleitung zu einer Tantraübung über einen Monitor. Klangschalenklänge drangen leise aus knackenden, schlecht verlöteten Boxen. Es war einer dieser Momente gewesen, die sich seit einigen Wochen schon häuften und immer stärker eskalierten. Wenige Minuten zuvor war Friede ausgerastet, hatte Pindus Hände von sich geschlagen und ihn angeschrien – weil er ihr gesagt hatte, wie viel sie ihm bedeutete und dass er sie nie wieder loslasse.

    Friede strich sich eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. Der nächste Schnipsel segelte zu Boden.

    »Oder der hier: Scham ist der Sprengstoffspürhund im Fußballstadion sozialer Konventionen, meiner arbeitet in einem Dynamitwerk?«

    Pindu verzog schmerzlich das Gesicht und machte eine Weiter-weiter-Bewegung. Er fragte sich, wie lange Friede diese gewaltintellektuellen Aphorismen wohl bereits unter ihrem Kissen sammelte, ohne dass er es mitbekommen hatte – und ob es noch den Hauch einer Chance gab, dort anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatten, bevor Friede ihn einen hirnverbrannten Vollpimmel genannt hatte.

    »Okay, der hier ist es: Scham ist der Feuermelder im Schwelbrand menschlichen Miteinanders, aber meine Gesichtsröte wird das Löschwasser sein. Was hältst du davon?«

    Pindu lachte sarkastisch auf und klatschte sich die Hand gegen die Stirn. »Auweia Friede! Was hältst du von: Entschuldige Hella, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber ich habe mich einfach nicht getraut und das ist mir furchtbar peinlich? Ich weiß, das mit dem Entschuldigen ist immer noch nicht deine Stärke, aber ich glaube ganz fest daran, dass du es ohne dieses gestelzte Blabla schaffst! Und ganz ehrlich: Warum ist das nach all den Jahren immer noch so kompliziert mit euch? Vielleicht solltest du dich zuerst sortieren! Mach dir erst mal ein paar Stichpunkte, was du deiner Freundin wirklich zu sagen hast!«

    Friede setzte sich aufs Bett und zog sich ein Laken um den Körper. Freundin. War Hella nach über drei Jahren Funkstille noch eine Freundin? War sie es überhaupt jemals gewesen? Eines war Fakt: Hella war auf jeden Fall die Einzige, die Friede helfen konnte, ihre völlig unplausiblen Hassattacken gegen Pindu in den Griff zu bekommen, bevor er ein für alle Mal das Handtuch schmiss. Wahrscheinlich waren sie auch nur ihr selbst so unplausibel und Hella würde sofort das System darin erkennen. Darin war sie spitze. Vielleicht sogar besser als ein Tresorknacker oder Philosoph. Das mit dem Sortieren hatte Friede im Übrigen schon einmal gehört: Schreib ein paar Dinge auf, während ich weg bin. So Tagebuch, weißt du? Das hilft, sich zu sortieren! Die letzten Worte, die sie von Hella gehört hatte, bevor alles für beide in einem Desaster geendet hatte. Vielleicht hatte Pindu recht, so kompliziert konnte es nicht sein, zu sagen: Sorry, ich habe mir ins Hemd gemacht, dass du mich vielleicht verurteilst. Dann wurden die Hemmungen immer größer, aber ich brauche dringend deine Hilfe, um meine letzten Dämonen zu exorzieren. Buff, aus, fertig! Oder?

    »Ich bin mir nicht sicher, ob sie von mir nicht etwas anderes erwartet, weißt du?«, gab Friede kleinlaut zu bedenken. Pindu stand mit einem schmatzenden Geräusch vom Stuhl auf und begann seine im Raum verteilten Klamotten zusammenzusammeln.

    »Was meinst du? Dass sie dich nicht wiedererkennt, wenn du dich nicht mehr wie eine schmerzbefreite Vollidiotin ohne Verstand und Reue verhältst?«

    »Ey, das war nicht ich, sondern der Film, den ich geschoben habe!«, protestierte Friede. Sie schmiss die restlichen Schnipsel auf den Boden. Das Klopapier landete auf einer kleinen Pfütze neben einer Teetasse und sog sich voll.

    »Und genau das wird deine Hella verstehen. Das ist nämlich ihr Job. Ich wette mit dir, dass sie inzwischen als selbstbewusste Freiberuflerin in einer lichtdurchfluteten Privatpraxis sitzt, Geld wie Heu verdient und mit einem nachsichtigen Lächeln auf eure Geschichte blickt. Die wird sich einen Ast freuen, von dir zu hören! Ganz sicher, sogar!«

    2 Fleischtheke, Sachsen-Anhalt

    Nichts auf der Welt rechtfertigt es, an Orte zurückzukehren, an denen man noch mit Fräulein angesprochen wird, dachte Hella, während sie hinter der Hofladentheke ihres Vaters alle zehn Finger in frischem Hackepeter versenkte. Seit einigen Wochen kämpfte sie jeden Tag aufs Neue gegen die Übelkeit an, wenn die schmierige, homogene Masse kalt durch ihre gespreizten Finger quoll. Lediglich eine dünne Schicht knisternder Plastikhandschuhe trennte ihre schweißfeuchten Hände von dem toten Tier, das durch einen Fleischwolf gedreht worden war. Den Geruch hatte sie dauerhaft in der Nase, sodass sie ihn nur noch wahrnahm, wenn sie an ihn dachte.

    Frau Wilkings, Stammkundin und seit einem halben Jahrhundert wohnhaft am Friedhof, vornehmlich mit den Hühnern redend, überhäufte sie seit einer Viertelstunde mit Informationen bezüglich ihres Enkelsohnes, den Hella schon in der Grundschule verabscheut hatte und der jetzt Karriere beim Bund machte. Vom Fenster her zog es und sie hatte Angst vor einem steifen Hals. Suse hätte längst den Fensterkitt erneuert, schoss es ihr in den Sinn. Der Gedanke schmerzte sie. Suse, die jetzt mit irgendwem anderes am einst gemeinsamen Küchentisch saß, mit Blick auf die psychiatrische Klinik, in der Hella der Personalanpassung zum Opfer gefallen war. Suse, mit der es nach der Kündigung zum Streit gekommen war, die die Schnauze davon voll hatte, dass Hella in den letzten Jahren mehr Zeit mit ihren Büchern als mit ihr verbracht hatte. Job weg, Wohnung weg, Frau weg. Nein, Suse war natürlich immer noch da, wo Hella zuletzt die Tür hatte ins Schloss fallen lassen, einen Wanderrucksack auf dem Rücken. Sie war nur nicht mehr mit ihr dort. Hella war so orientierungs- und mittellos wie nie zuvor. Und ihre Kraft reichte nicht einmal mehr, sich gegen Frau Wilkings zu wehren.

    Hella roch an der Petersilie und drapierte sie gewissenhaft auf dem Rinderhack. Frau Wilkings hievte unterdessen einen mit Kaffeeflecken übersäten Dederonbeutel samt Inhalt auf die Theke und verhedderte sich dabei im Plastik-Weihnachtsbäumchen. Die bunte LED-Lichterkette wechselte unbeirrt ihre Farben. Wilkings setzte den altbekannten Monolog fort. Die Kaffeeflecken auf dem Beutel waren neu und höchst unüblich, bemerkte Hella. Sie vermutete, dass entweder Wilkings’ Sehkraft nachließ oder sie langsam tüdelig wurde.

    »Und, Fräulein Schmott, Sie werden auch nicht glauben, wie diese ekelhafte Geschichte mit meiner Tochter und ihrem Mann weiterging«, plauderte die Alte und nagelte Hella mit Blicken aus blutunterlaufenen Augen fest.

    Doch. Hella glaubte! Hella glaubte, dass sie ihrer Bestimmung niemals entkommen würde. Sie glaubte, dass sich an ihrem Schicksal gar nichts geändert hatte, seit sie nach der Niederlage in der Klinik die Flucht in den elterlichen Betrieb für die einzige Möglichkeit gehalten hatte. Sie glaubte, dass sie sich in Zeiten der Krise zwar auf die Rolle zurückbesann, die sie am längsten und am besten kannte, doch dass diese Sicherheit einen Preis hatte, der an Selbstverletzung grenzte. Hella glaubte an vieles: an die eingeschränkte Freiheit des Verstandes, an das Scheitern des Menschseins an der vermeintlichen Zivilisation und an das Dosenpfand. Und daran, dass ihr Vater vermutlich noch immer zu viel Majoran in die Hauswurst tat.

    Glauben tat Hella viel. Nur all ihr Selbstvertrauen war ihr abhandengekommen, ausgelöscht von dem neu aufgekeimten, penetranten Zweifel.

    »Meine Tochter und ihr Mann wohnen jetzt wirklich in Gemeinschaft, wie sie sagen. Als erwachsene Leute! Das kann doch nur eine Art Zwingerklub sein, oder? Ich meine, das müssen Se sich mal auf der Zunge zergehen lassen, Fräulein Schmott! Ein Haushalt mit zwanzig Leuten und alle benutzen dieselbe Küche und dasselbe Bad! Widerlich!«

    Nichts wollte sich Hella weniger gern auf der Zunge zergehen lassen, als Frau Wilkings Tochter in Netzstrümpfen, von der Hellas Mutter immer behauptete, sie habe ein Gesicht wie eine Dörrpflaume, die sie, wie bereits ihre Mutter und deren Mutter, Hotzeln nannte. Hella wollte Frau Wilkings Tirade unterbrechen. Fantasien, wie sie ihr mit dem Hackmesser den Schädel spaltete, drängten sich nur kurz auf, schienen ihr aber so inadäquat, dass sie überlegte, mit etwas sozial Kompetentem gegenzusteuern. Stopp!, könnte sie sagen. Es tut mir leid, aber mich interessieren Ihre Familiendramen wirklich nicht, Frau Wilkings. Weder was Ihre Tochter und deren Mann tun, noch was Ihr Enkelsohn macht, jetzt, da er nicht mehr seine fettigen Haarsträhnen mit Tinte anmalt!

    Oder sie könnte ihr zuvorkommend wie eh und je noch eine Flasche Eierlikör extra einpacken. Reaktionsbildung hätte der Oberarzt das genannt.

    Doch Hella tat nichts dergleichen, verharrte stattdessen weiter regungslos hinter der Waage, neben der Kasse, die Schürze ein Mü zu eng gebunden, den Zopf etwas zu streng geflochten. Frau Wilkings schmierte mit dem Finger auf der Tresenscheibe herum.

    »Na ja, ich muss mich entschuldigen, ich habe heute kaum Zeit für Sie, muss noch zum Friseur, wissen Se. Geben Se mir doch bitte zweihundert Gramm von der Lende, ja?«, sagte sie und schnalzte fordernd mit der Zunge. Konkrete Arbeitsanweisungen. Etwas reagierte da in Hella. Im Autopilot trennte sie mit einem enthusiastischen Hieb einen Teil Lende vom Fleischbatzen, maß ihn ab, wickelte ihn in beschichtetes Papier und reichte alles mit einem vollstandardisierten Lächeln hinüber, den Preis flötend, einer Beglückwünschung gleich. Wilkings hinkte totternd davon.

    In der Ferne hörte Hella ihren Vater jemandem auf dem Hof Kommandos zurufen. Ihr Nackenhaar stellte sich auf. Seit Hella sich für eine akademische Laufbahn entschieden hatte, war ihre Beziehung vollends in die Brüche gegangen. Schon immer hatte er ihren Hang, alles bis ins Letzte zu untersuchen und zu durchdenken, sehr überflüssig und auch ein wenig gruselig gefunden. Als sie sich dann auch noch für ein Studienfach entschieden hatte, das er als persönlichen Vorwurf interpretierte, war es ganz vorbei zwischen ihnen.

    Die Hintertür wurde aufgerissen und Pauline stürzte herein, schmiss ihren Rucksack mit den unzähligen Aufnähern, die sie stolz Patches nannte, in die Ecke und grinste.

    »Die Wilkings war gerade hier, oder? Hab sie noch auf der Straße gesehen und bin andersherum um das Haus gegangen, damit sie mir kein Ohr abkaut. Gott sei Dank sind ihre Augen schon so schlecht. Mann, ich versteh immer noch nicht, was du hier eigentlich tust, warum du wieder da bist! Ey, ich kann es kaum abwarten, nach dem Abi abzuhauen und diesem Kaff für immer Lebewohl zu sagen, das glaubst du gar nicht!«

    Doch. Hella glaubte. Hella glaubte mehr denn je.

    »Mutti sagt, du sollst mal rüber in die Küche kommen. Ich halte kurz die Stellung, für dich ist Post angekommen.«

    Ohne irgendetwas zu erwidern, starrte Hella ihre zehn Jahre jüngere Schwester an, die eine Schürze vom Haken nahm und nach hinten ging, um sich die Hände hygienisch zu reinigen. Dann schlurfte Hella ins Nebengebäude, in die Küche. Am meisten nervte sie an dieser ganzen Situation, dass ihr Vater unterm Strich recht behielt. Hätte sie einfach ihre Sportkarriere weiterverfolgt, statt sich jahrelang mit schwer verdaulichen Theorien zu befassen, um am Ende überqualifiziert und verschuldet in der Klapsmühle abgesägt zu werden, würde sie jetzt in der ersten Bundesliga spielen. Da war sie sicher.

    Ihre Mutter saß am Tisch und rauchte, das Fenster leicht geöffnet.

    »Ich dachte, niemand weiß, dass du hier bist?«, fragte sie mit schmalen Augen und blickte zwischen Hella und einem stoffüberzogenen Quader in der Größe eines Schuhkartons hin und her. Ein ebenso vertrauter wie altmodischer Anblick: Mutter, wie sie in Kittelschürze mit übergeschlagenen Beinen auf dem abgewetzten Holzstuhl saß, den Rauch andächtig in die Luft ausstoßend und Clogs, die auf dem in der Luft hängenden Fuß wippten. Pflegeleichte Kurzhaarfrisur, wie Hella sie als Jugendliche auch getragen hatte. Die Falten im mütterlichen Gesicht waren tiefer geworden und die Schürze noch stärker ausgeblichen. Ansonsten war es das immer gleiche Bild von Resignation über das eigene, vermeintlich nicht zu ändernde Schicksal. Das Schicksal, dem Hella mit aller Macht hatte entkommen wollen.

    Seit sie als Kleinkind während ihres ersten Ausflugs nach Göttingen die fröhliche Floristin in ihrem hübschen Backsteinhäuschen bewundert hatte, war ihr klar, niemals wie ihre Eltern enden zu wollen: ununterbrochen malochend für viel zu wenig Geld bei gleichzeitig komplettem Mangel an Zeit für ihr Kind. Also sie.

    Und nun war sie wieder hier.

    »Eigentlich nicht«, sagte sie und beäugte skeptisch das eigenwillige Paket. Es war in Jute eingenäht und sah ziemlich mitgenommen aus. Ein großer Stempel prangte neben der mit Filzstift geschriebenen Adresse. Der Stempel sagte: Bombay. Was für eine absurd weite Reise! Sie schüttelte das Paket leicht, aber es offenbarte keinerlei Hinweis über seinen Inhalt.

    »In der Schublade links ist eine Schere«, sagte ihre Mutter und nickte zur Einbauküche, in der das Besteck immer stärker anlief. Ich weiß, wollte Hella sagen. Seit zwanzig Jahren liegt die Schere da, roter Griff, rostige Klingen. Doch sie nickte nur. Irgendetwas hinderte sie daran, das Paket direkt hier aufzumachen, vor den Augen ihrer Mutter. Sie empfand eine Angst darüber, dass jemand ihr etwas an die elterliche Adresse zugesandt hatte, beinahe eine Scham. Es gab wenige Menschen, die wussten, dass sie hier war. Und ihre Oma schickte sicherlich keine Pakete aus dem Nachbardorf mit Umweg über Bombay – das ihrer Meinung nach doch Mumbai hieß? Hella runzelte die Stirn, klemmte sich das Paket unter den Arm und ging ohne ein weiteres Wort nach oben.

    Ihr altes Kinderzimmer war renoviert worden – immerhin. Moderne Einrichtungsgegenstände von Großkonzernen hatten Einzug gehalten und gaben dem Raum die sterile Atmosphäre eines Musterzimmers. Niemand hatte aus Nostalgie Hellas mit Postern beklebte Schränke behalten wollen, was sie sehr begrüßte. Alles dünstete den Geruch von Fabrik und Pressspan aus. Sie fühlte sich wie ein Gast – und das war ihr sehr lieb, schließlich sollte dies hier keine Dauerlösung sein. Es sollte ihr lediglich ein wenig Zeit verschaffen, damit sie sich orientieren konnte.

    Hella hatte Hemmungen, den Paketüberzug zu zerschneiden. Es war unklar, was unter diesem Stoff auf sie wartete. Aus ihrem Nageletui zog sie eine Feile und trennte die Naht säuberlich auf. Zum Vorschein kam ein nichtssagender Karton, den sie ohne zu zögern entlang des Klebebands aufschlitzte. Ein Geruch schlug ihr entgegen, den sie nicht sofort zuzuordnen wusste. Er erinnerte sie an Milchreis. Die Pappseiten des Kartons klappte sie beiseite und blickte auf Zeitungspapier mit einem Buchstabengewirr aus Kringelchen. Obenauf lag ein alter, zerschraddelter MP3-Player mit einer zerfaserten Wollkordel. Klebestreifen hielten das Batteriefach zu. Hellas Herz setzte für einen kurzen Moment aus.

    Sie starrte auf das Gerät - nach all der Zeit ein Artefakt. Ein Anachronismus. Ein Schuldbringer? Eine Art Tatwaffe? Zumindest der Zeuge des größten Scheiterns, das sie jemals zu verwinden haben würde: ihr MP3-Player.

    Hella hielt die Luft an, blickte sich um. Natürlich konnte niemand sie sehen. Sie war allein. Mit spitzen Fingern nahm sie den Player aus dem Paket und betastete ihn vorsichtig. Er war so unangenehm vertraut, dass ihr komisch wurde. Sie überlegte, auf Power zu drücken, doch die Angst vor den Konsequenzen war zu groß.

    Dann entschied sie sich, ihn erst einmal sicher auf der Mitte des Schreibtisches zu platzieren, wo er keinen Schaden anrichten konnte.

    Erneut griff sie in das Paket, ließ den Player aber nicht aus den Augen. Sie förderte eine Ansichtskarte zutage: eine blaue Tür, über der Mango Hostel stand. Hella drehte die Karte um. Keine Begrüßung, keine Anrede. Lediglich ein paar Zeilen: »Hello Hella (again), kannst du den Textstapel innerhalb der nächsten Woche lesen? Danke! Ich weiß, dass seit unserer letzten Begegnung vor drei Jahren die ein oder andere Frage offen geblieben ist. Ich habe inzwischen herausgefunden, wer es war. Gruß F.«

    Fassungslos starrte Hella auf die Zeilen. Sie las sie einmal, zweimal, dreimal. Ich habe inzwischen herausgefunden, wer es war? Ihr Puls schoss in die Höhe. Der Karton enthielt: Text. Und zwar jede Menge davon. Hella hielt die Luft an, traute sich kaum, ihn anzufassen. Eine Ahnung stieg in ihr auf. Sie war sich nicht sicher, ob sie hierfür bereit war. Bilder überfluteten ihren Kopf und setzten sie sofort unter Strom. Sie brauchte einige Minuten, um ihre Anspannung in Nacken, Schultern und Rücken durch gezielte, hochkonzentrierte Atemübungen zu regulieren. Sie waren die Konsequenz aus ihrem Scheitern gewesen: Der Versuch, die Dinge mit ihrem analytischen Verstand unter Kontrolle zu bringen, war beinah tödlich geendet. Also hatte sie sich von ihrem Rückzug auf das Intellektuelle verabschieden und neu mit ihren Empfindungen anfreunden müssen. Bis heute suchte sie den Weg zurück zu einer Intuition, die es als Kind gegeben haben musste. Studien hatten schließlich gezeigt, dass viele intuitive Entscheidungen die langfristig besseren waren und dass die Anzahl der Nervenverknüpfungen menschlicher Innereien mit dem Gehirn beinah der eines Katzengehirns entsprachen. Sie durfte ihr Bauchgefühl also nicht länger von der Ratio dominieren lassen und bis sie den Weg zurück zur Intuition fand, trainierte sie Achtsamkeit und Atem.

    Der Textstapel war noch anklagender als der Player. Damit konnte sie sich heute auf gar keinen Fall befassen, nicht nachdem sie gerade Frau Wilkings ertragen hatte. Andererseits wusste sie, dass es der einzige Weg war, ihn zu besiegen, den Zweifel.

    Zwischen die ersten Seiten waren große Blätter von Bäumen gepresst. Sie nahm den Stiel eines Blattes in die Hand und drehte ihn zwischen den Fingern, sodass eine Bewegung entstand, der ihre Augen nicht schnell genug folgen konnten. Ein Geruch von Zimt traf sie.

    Am Abendbrottisch war Hella schweigsam. Auf die Frage, was das Paket enthalten habe, antwortete sie nur: Urlaubsgruß einer Freundin. Sie erschrak selbst über ihre Wortwahl. War Friede jemals eine Freundin gewesen? Zaghaft stocherte sie in ihrer Kartoffelsuppe herum, während alle anderen Rindergulasch aßen. Hella lebte, wenn auch inkonsequent, vegetarisch, seit ihr Schwein Schnuppi vor ihren Augen geschlachtet worden war. Da war Hella acht gewesen und ihr Vater fand es wichtig, dass Hella verstand, wie die Dinge liefen.

    »Schmeckt’s dir nicht?«, fragte ihr Vater ohne aufzusehen, und es hatte in Hellas Ohren den Unterton von: Was ist denn daran nun schon wieder nicht richtig? Machen wir eigentlich alles falsch? Herrgott, dein permanent ausgestrahlter Vorwurf ist eine Belastung! Warum bist du eigentlich zurückgekehrt?

    »Doch, super!«, sagte Hella der Wahrheit halber, doch mit zugeschnürter Kehle aß es sich nicht besonders lustvoll.

    Löffel schabten unerträglich laut auf fast leeren Tellern. Hellas Vater erzählte von der enttäuschenden Sitzung seines Volleyballvereins. Bernd Schumann habe sich wieder einmal bei den Ausgaben für die Jahresendfeier verkalkuliert, das sei nun schon mehrmals passiert und man sei sich nicht ganz sicher, ob sich nicht langsam eine Demenz anbahne, und wie man ihn überzeuge, seinen Posten als Schatzmeister und Finanzplaner nach zwanzig Jahren abzugeben. Hella fand, er hätte sie fragen können, woran man eine Demenz erkenne und wie er vorgehen könne, aber natürlich tat er das nicht. In drei Jahren hatte er sie nicht einmal gefragt, worüber sie eigentlich promovierte. Gleichzeitig ärgerte sie sich, dass ihr sein Desinteresse immer noch nicht egal war. Es war das identische Gefühl wie damals, wenn sie mit ihren Urkunden von Mathe-Olympiaden heimkam und ihr Vater nur die Stirn runzelte, um dann wieder im Kälberstall zu verschwinden und über Schulden zu klagen.

    Hella beobachtete ihre Schwester, die unter dem Tisch auf ihrem Smartphone herumwischte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie dafür von der Mutter ermahnt werden würde. Es sei denn, diese hatte schon vollends ihre Erziehungsmaximen aufgegeben, da war Hella sich nicht sicher. »Darf ich aufstehen?«, fragte sie nichtsdestotrotz und blickte in verdutzte Gesichter. Niemand rechnete offensichtlich noch damit, dass sie die Regeln ihrer Kinderstube befolgte.

    Hella stieg die steilen Stufen in ihr Gästezimmer nach oben, klackte die Tür langsam und leise hinter sich zu, als hätte sie etwas Verbotenes im Sinn. In den Fabrikzimmergeruch hatte sich eine leichte Zimtnote gemischt. Sie untersuchte erneut die auf dem Tisch ausgebreiteten Paketinhalte: MP3-Player, Text, gepresste Blätter. Wie in Zeitlupe griff sie schließlich nach dem Player und drehte ihn in der Hand. Ein paar Kratzer waren dazugekommen. Sie nahm ihren Mut zusammen und drückte auf Power. Nichts passierte. Sie drückte noch einmal. Dann öffnete sie das Batteriefach und entfernte zwei Batterien mit unlesbaren Zeichen. In einer Mischung aus Wut und Erleichterung schmiss sie sich aufs Bett und stierte an die Decke. Zehn Minuten später klopfte es. Ohne ein Herein abzuwarten, riss Pauline die Tür auf. Eine Unart, die Hella früher schon zur Weißglut getrieben hatte, ihr jetzt aber nur ein müdes Kopfdrehen entlockte. Sie war zu beschäftigt mit ihren Gedanken, um sich aufzuregen. Ihre Schwester stürzte direkt bis zum Tisch und grapschte nach dem Player. Hella fuhr hoch, als handelte es sich um eine Bombe.

    »Wow, was für ein Uraltteil«, sagte Pauline und drückte mehrmals auf dem Power-Knopf herum. »Batterie tot, was? Vielleicht gibt’s ja noch welche.«

    Hella musste tief durchatmen. Jetzt wandte Pauline sich ihr zu und trat nervös von einem Fuß auf den anderen, wohl wissend, dass sie weder hereinplatzen noch nerven sollte.

    »Du warst komisch beim Abendbrot«, sagte sie und es klang wie: Ich mache mir Sorgen, weil du sonst nie so wenig redest und vielleicht besteht ja die unwahrscheinliche Möglichkeit, dass du mich an deinem Leben teilhaben lässt, auch wenn ich nur die nervige, zehn Jahre jüngere Schwester bin?

    Hella seufzte und ließ sich zurück in ihre Kissen sinken wie eine Bettlägerige. Sie starrte ihre Schwester an, die sich noch mit einer viel größeren Selbstverständlichkeit im Haus bewegte als Hella selbst und die bis jetzt nichts anderes kannte als dieses Nest, dieses ambivalente Zuhause in diesem Zweitausend-Seelen-Ort, von dem man über Land fast eine Stunde bis Halle brauchte. Hella überlegte, Pauline direkt wieder rauszuschmeißen. Dann rückte sie auf ihrem Bett beiseite und bedeutete ihr, die Tür zu schließen und sich zu setzen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie ja auch niemand anderen zum Reden.

    Sie erzählte von dem Paket, von ihrem Gedankenkreiseln.

    »Und wer ist diese Friede, woher kennt ihr euch?«

    Hella musste lachen. Eine naive, kleingeschwisterliche Frage, die einen Kosmos an Erinnerungen wachrief. Wo hatte diese ganze chaotische Odyssee mit Friede eigentlich angefangen? Unterm Dach in dem alten Büro von Ramona? In der Uni-Kantine? Jedenfalls vor vier Jahren, als Hella in den Endzügen ihres Studiums war. Sie blickte in Paulines unsichere und neugierige Augen, seufzte und begann zu erzählen.

    3 Diskus und Diskurs

    Hella konnte nicht mehr stehen und sie fragte sich, warum sie ausgerechnet diese Haltung für die Dreißig-Minuten-Pose eingenommen hatte. Klar, sie hatte ihnen etwas bieten, ihre Aufgabe herausragend gut machen wollen, so wie immer eben. Aber falls es jemals noch einmal dazu kommen sollte, dass sie nackt und regungslos vor fünfzehn stumm auf Papier strichelnden und wischenden Kunststudenten saß, dann nicht als Diskuswerferin. Der Schweiß troff an ihr herunter und ihr Gesichtsausdruck wurde verkniffen. Seit anderthalb Stunden stand sie nun hier oben und spürte nur noch hin und wieder in Wellen ihren Puls ansteigen.

    Das war jedoch nicht mehr mit dem Anfangsmoment zu vergleichen, als sie unter Erstickungsgefühlen ihren Bademantel abstreifte und dachte, sie beginne jeden Moment zu weinen. Seit dem Seminar zur Sozialen Phobie hatte sie begriffen, wie groß ihre eigene Angst vor der Bewertung anderer war. Ganz oben auf der Liste stand, keine Fehler machen zu dürfen, keine Angriffsfläche zu bieten. Sie listete auch ihr Sicherheitsverhalten auf, das sie vor Demütigung und Schmach schützen sollte: Klamotten zwei Nummern zu groß tragen, damit niemand sah, wie viel sie seit dem Ende ihrer Fußballkarriere zugenommen hatte; kontinuierliches Lügen, warum sie nicht zu Partys ging, weil ihr die Angst, am nächsten Tag nicht genug leisten zu können, zu peinlich war. Ständig kontrollierte sie ihre Kleidung auf Faltenfreiheit um ein tadelloses Bild abzugeben. Nun hatte sie beschlossen, ihre fundamentalen Befürchtungen gemäß der verhaltenstherapeutischen Therapievorgaben systematisch einem Realitätscheck zu unterziehen, schließlich war das ihre Pflicht, so als angehende Expertin. Schon am Vorabend bezifferte sie feinsäuberlich alle zentralen Befürchtungen mit der Stärke ihrer Ausprägungen. Der Theorie nach konnten Angst und Anspannung nicht ins Unermessliche steigen, wenn man sie zuließ, sondern sanken irgendwann ganz von allein ab, wenn man nur lange genug in der Situation verharrte, ohne sich gedanklich abzulenken oder zu beruhigen. Das hieß Exposition und funktionierte mit Spinnen genauso wie mit Blankziehen vor Gruppen, so lautete zumindest die gegenwärtige Lehrmeinung, dachte sie.

    In der Ecke des Raumes kicherte jemand. Erst war sie sich nicht sicher, ob ihr Verstand ihr einen Streich spielte, doch dann hörte sie es ganz deutlich. Sie verfiel in Schockstarre. Wurde sie ausgelacht? Wegen ihres Bauchspecks? Die Zeiten des Sixpacks waren lange vorbei, das wusste sie selbst. Die von Bänderrissen, Hotpants sprengenden Oberschenkeln und gebrochenen Nasen aber Gott sei Dank auch. Oder lag es an der Pose? Oder an den blauen Flecken auf dem Schienbein? Stopp Hella, ermahnte sie sich. Realitätsprüfung! Deswegen war sie schließlich hier! Vorsichtig versuchte sie ihren Kopf ein paar Zentimeter zu drehen, ohne die Pose zu versauen. Da saß eine Studentin in der Ecke, die Hella zu Beginn schon durch ihr Zuspätkommen negativ aufgefallen war. Weil alle Stühle besetzt gewesen waren, hatte sie laut und umständlich einen Stuhl vom Rand des Raumes über den Boden geschleift. Die, ging es Hella durch den Kopf, zerbrach sich auf jeden Fall keinen Kopf darüber, was der Rest des Seminars gerade dachte. Ein Funken Neid keimte in ihr auf. So gut es ging versuchte Hella, ein Bild von der Störenden zu bekommen. Busenlange, wellige Haare in Nussbraun umrahmten ein auffällig hübsches Gesicht. Nur mit ihren Augen stimmte etwas nicht. Die Sonnenbrille, mit der sie in den Raum gekommen war, hatte sie sich nur kurz in die Haare geschoben und Hella hatte deutlich gesehen wie gerötet sie waren. Sie kicherte schon wieder, fixierte Hella. Über irgendetwas an ihr machte sie sich definitiv lustig. Hella spürte Hitze in ihr Gesicht steigen und die Angst, rot wie eine Hagebutte zu werden, stieg mit. Nun sahen vermutlich alle, dass sie nervös wurde. Sie konzentrierte sich darauf, sich zu beruhigen, spürte die Trockenheit in ihrer Kehle und musste schlucken. Die Hitze in ihrem Kopf wurde schlimmer. Schmerzhaft zog es nun auch in ihrem lädierten Knie und sie versuchte, das Gewicht unauffällig zu verlagern, was ihr mäßig gelang. Das Kichern wurde lauter.

    »Noch fünf Minuten«, sagte Professor Grothe, der den Kurs leitete und an der langen Seite des Saales mit einer Tasse Kaffee gelangweilt über Unterlagen brütete. Die ersten Studenten rafften ihre Papiere zusammen und flüsterten ihm zu, sie müssten los, nächste Veranstaltung. Türen klappten. Aus der Ecke, aus der Hella eben noch Gekicher vernommen hatte, hörte sie nun Geflüster. Sprach die Nusshaarige in ihr Handy? Ein Schmerz schoss Hella so stark ins Kniegelenk, dass sie aufstöhnte und zusammensackte. Sie fing sich mit dem anderen Bein ab und blickte in dreizehn mit den Augen rollende Gesichter, die ihrerseits aufstöhnten. Alle. Bis auf die Nusshaarige. Die lachte diebisch und klatschte laut ihren Kohlestift aufs Papier.

    »Okay, ich bin auch raus«, sagte einer aus der ersten Reihe mit Karohemd.

    »Gut für heute«, stimmte sein Nachbar zu und ließ sein digitales Zeichenpad im Rucksack verschwinden.

    »Gut, beenden wir’s für heute, das war vielleicht auch eine etwas zu ambitionierte Pose für die letzte Episode, nicht wahr, Frau Schmott?«, sagte Grothe lachend und stand auf. »Besten Dank Ihnen auf jeden Fall. Füllen Sie das Rechnungsformular aus und schicken es an unsere Sekretärin Frau Strich, ja? Und für alle, die Samstag beim fulminanten Jubiläum dabei sein werden«, er hob die Stimme, »seien Sie bitte ausnahmsweise pünktlich! Die Performance beginnt um acht und es wäre ein Skandal, wenn Sie mitten in die Darstellung platzten!«

    Weg war er. Hella fühlte sich wie eine Idiotin. Griff nach ihrem Bademantel. Sie überlegte angestrengt, wie sie sich möglichst unbemerkt aus dem Raum stehlen konnte, bremste dann aber ihre eigenen Gedanken. Sie hielt dieses unangenehme Gefühl jetzt aus, deswegen war sie hier. Verdünnisieren gab’s heute nicht!

    »Darf ich mal sehen?«, fragte sie deswegen tapfer drei Studentinnen in der ersten Reihe, die ihre Sachen gerade zusammensammelten.

    »Sorry, ist nicht so gut geworden«, sagte die Erste.

    »Ich bin leider nicht fertig geworden«, sagte die Zweite.

    »Ist mir immer zu peinlich«, sagte die Dritte.

    Leute!, dachte Hella. Ich tanze fast zwei Stunden splitterfasernackt vor euren Köpfen herum, lasse euch jede Delle analysieren und skizzieren, schinde meine Gelenke – und ihr macht euch Sorgen, weil ich einen Blick auf das Ergebnis werfen möchte? Das hätte sie gerne gesagt. Tat sie aber nicht, sondern nickte nur verständnisvoll.

    »Hier«, rief die Nusshaarige von hinten auf ihrem Klappstuhl und drehte ihre Zeichenunterlage um, als präsentierte sie eine Gemüseauslage oder Ähnliches.

    Zögerlich machte Hella einen Schritt auf sie zu. Das Bild war mit Kohle gezeichnet, zeigte sie in der letzten Figur, der Diskuswerferin. Sie erschrak, wie detailliert ihrem Gesicht trotz der verwischten Kohle Angst und Nervosität anzusehen waren. Wieder bemerkte sie Hitze aufsteigen. Ihr Mund wurde trocken.

    »Zum ersten Mal heute?«, fragte die Zeichnerin.

    Hella nickte.

    »Mit Sportvergangenheit, was? Sieht man, sieht man. Wie heißt du?«

    Sah man?

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