Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

AGENT MIT ZWEI GESICHTERN: Basisroman   Peacebirds.de
AGENT MIT ZWEI GESICHTERN: Basisroman   Peacebirds.de
AGENT MIT ZWEI GESICHTERN: Basisroman   Peacebirds.de
eBook642 Seiten8 Stunden

AGENT MIT ZWEI GESICHTERN: Basisroman Peacebirds.de

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Geheimdienstinteressierte Leser/innen erwartet in diesem gesellschaftskritischen Agentenroman ein Mix aus kleinen Geschichten um große Geschichte, aus praktizierter Geheimdienstarbeit, Intrigen, Nervenkitzel und Erotik. Eine frei erfundene und nicht ganz gewöhnliche Geschichte rund um den Kundschafter Jörg Wiesener, der 1989 kurz nach seiner Entsendung durch die politische Wende in der DDR plötzlich ohne Auftraggeber dasteht.
Unternehmen Sie mit unserem Hauptakteur eine Zeitreise in die letzten Jahre der DDR, erleben Sie mit ihm hautnah einen Tag Grenzdienst an der Berliner Mauer. Begleiten Sie ihn ein Stück seines Weges durch Kanada, legen Sie mit ihm einen "Toten Briefkasten" an und teilen Sie mit ihm die Gefühle in seinen Liebesaffären. Hinterfragen Sie das traurige Schicksal einer jüdischen Familie und seien Sie offen für die Einbindung geschichtlicher Ereignisse.
Vielleicht werden Sie auch auf die Fortsetzung der teilweise sehr nahegehenden Geschichten neugierig?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Okt. 2020
ISBN9783347147768
AGENT MIT ZWEI GESICHTERN: Basisroman   Peacebirds.de

Ähnlich wie AGENT MIT ZWEI GESICHTERN

Titel in dieser Serie (1)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für AGENT MIT ZWEI GESICHTERN

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    AGENT MIT ZWEI GESICHTERN - Lothar Sommer

    Kapitel I

    Die Rückkehr nach Deutschland – 1991

    Vorbereitung auf den Treff in Luzern

    Berlin-Grünau, Freitag, 17. April 1992 – Post von Dietmar

    Mit dem Mittagessen war ich heute etwas spät dran, Zeit nach der Post zu schauen. Ich nehme die Kette aus der Türsicherung, drehe den Schlüssel zweimal nach rechts und wie schön, die Sonne strahlt mir voll ins Gesicht und zwingt mich, eine Hand schützend vor die Augen zu halten. Hoch oberhalb der anmutigen Zeder strahlend, steht sie gerade im Mittagszenit. Auf der anderen Seite des Vorgartens hingegen, über der Blautanne, ist in klaren Nächten das Sternbild des großen Wagens zu erkennen, dessen Achse um das Fünffache verlängert, auf den Polarstern weist, der vergleichsweise wohl eher ein kleiner Geselle am Sternenhimmel ist. Welch ein Segen für meine gebeutelte Seele, die wärmende Sonne erhellt mein Gemüt, nachdem mich in der Nacht wieder einmal einer meiner schlimmsten Alpträume heimsuchte:

    Eine dicke, schwarze Spinne kommt blitzartig aus ihrem Versteck, um eine bunte Fliege, die sich in ihrem Netz verfangen hat, mit perfektionierten Bewegungen einzuspinnen. Die achtbeinige Künstlerin hat ihr elastisches und doch äußerst stabiles Netz zwischen der Bretterwand des Bootshauses und einem alten Ruder, welches schräg an die Wand gelehnt ist, gespannt.

    Starkregen prasselt auf das Aluminiumdach des Bootshauses nieder. Das interessante und grausame Spiel beobachtend, bekomme ich nicht mit, dass sich mir jemand lautlos von der Seite nähert. Ich will zur Waffe greifen, doch der vollkommen schwarz gekleidete, durchnässte Maskierte ist schneller. Er entnimmt seiner rechten Beintasche einen Revolver, zieht den Verschluss zurück und fordert in lautem Ton, mich auf die Erde zu legen.

    Geistesgegenwärtig kann ich im selben Augenblick das neben mir stehende Ruder greifen und ihm, ohne auch nur einen Moment zu zögern, mit einem kräftigen Hieb auf beide Unterarme die Waffe aus der Hand schlagen. In einem Zug verlängere ich den Schlag auf seine Knie, worauf er mit schmerzerfülltem Schrei auf die Seite fällt.

    Ich nutze meinen Schwung, erhöhe blitzartig meine Körperspannung und springe auf ihn, kann seinen linken Arm zwischen meine Beine bekommen, schiebe meinen Körper hoch und breche ihm das Ellenbogengelenk. Mit etwas Mühe gelingt es mir, mein Nahkampfmesser in die Hände zu bekommen und ihm mit einem kräftigen Hieb einen Stich in die rechte Niere zu versetzen.

    So ein Stich ist normalerweise tödlich, ohne auch nur einen Laut vom Opfer zu vernehmen. Der Maskierte schreit jedoch höllisch auf. Ich hatte wohl einen Teil seines Gürtels getroffen, den ich unter seiner langen Jacke nicht wahrnahm. Ich ziehe die Drahtschlinge aus dem Schaft, lege sie um seinen Hals. Er röchelt, atmet äußerst kurz, wehrt sich kräftig und kann sich in letzter Sekunde mit einem geschickten Manöver aus meinem Griff befreien. Warmes Blut läuft aus seinem Rücken auf meinen Körper.

    Ein günstiger Moment kommt mir zugute und ich kann ihn mit einem kräftigen Schlag auf seinen Kehlkopf außer Gefecht setzen.

    Mich gerade aufrichtend, höre ich zwei Schüsse in Folge und spüre dumpfe Einschläge auf meinem Rücken, Blut läuft aus meinem rechten Unterarm. Ich fühle keinen Schmerz, falle zu Boden und verliere das Bewusstsein.

    Jetzt erlebe ich vermutlich etwas, worüber man schon gelegentlich hören konnte – wenn du stirbst, zieht im Unterbewusstsein dein ganzes Leben an dir vorbei …

    Gott sei Dank habe ich diesen Alptraum überlebt und hier auf diesem schönen Grundstück in Grünau, im Süden Berlins, am schönen Fluss Dame, ein neues zu Hause gefunden, unter Mithilfe von Dietmar, meinem ehemaligen Führungsoffizier.

    Auf der Grünen Aue hieß die Ansiedlung von Kolonisten Mitte des 18. Jahrhunderts ursprünglich. Als dann, so 100 Jahre später, also Mitte des 19. Jahrhunderts, die Bahnanbindung kam, zog es viele Berliner hinaus ins Grüne, später auch zur über Berlin hinaus bekannten Regattastrecke und zum beliebten Strandbad. So blieb es dann auch nicht aus, dass immer mehr wohlhabende Bürger in dieser beliebten Gegend ihre Häuser errichteten, nicht selten schöne Villen.

    Ein wohl eher bescheidenes Exemplar - im Vergleich mit benachbarten Villen - ist jetzt mein Domizil, ungefähr 140 m² Wohnfläche und rund 2300 m² Grundstücksfläche. Für mich alleine mit Sicherheit zu groß.

    Die ehemaligen Eigentümer, das Ehepaar Wetzel, verkauften die schon recht verwahrloste Villa im Jahr 1967 an den jungen Bulgaren Gregor Ranew, der aus beruflichen Gründen nach Berlin zog. Bereits im hohen Rentenalter, konnten die Wetzels die notwendigen Instandsetzungen nicht mehr finanzieren.

    Eine schöne Dreizimmerwohnung in neu erbauten Wohnblöcken am Baumschulenweg war damals sehr begehrt und schwer zu bekommen. Die Wetzels erhielten das Angebot von der Stadtverwaltung und so ging der Verkauf an Gregor recht unkompliziert über die Bühne. Die Wetzels vermuteten zwar, dass da irgendeine „staatliche Instanz Einfluss genommen hatte, unterließen es aber vorsichtshalber, das Ganze weiter zu hinterfragen. Sogar ihren Telefonanschluss konnten sie ohne irgendwelche Bedingungen „mitnehmen, was für damalige Verhältnisse schon ein wenig ungewöhnlich war. Nur wenige Mieter im neuen Wohnblock verfügten über den Luxus, ein Telefon zu haben … ganz anders als im Westberliner Bezirk Neukölln, nur 200 m Luftlinie über die Mauer hinweg, den die Wetzels nun von ihrem Balkon aus vor den Augen haben.

    Gregor Ranew erhielt eine Delegierung zu einem Auslandsstudium in die DDR, nachdem er in Sofia eine Militärschule besuchte und mit dem Dienstgrad Leutnant abschloss. Seine Eltern waren über viele Jahre im diplomatischen Dienst tätig, wodurch Gregor fast seine gesamte Kindheit im Ausland verbrachte, vorrangig in englischsprachigen Staaten.

    Das Auslandsstudium begann er 1963 an der weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten Kunsthochschule Burg Giebichenstein, in Halle an der Saale, wo er Kunst und Innenarchitektur studierte. Für den 21jährigen Gregor sollte das der Beginn einer einzigartigen und gleichermaßen sonderbaren Berufsentwicklung werden.

    Am 1. Oktober 1966 wurde beim Ministerium für Außen- und Innerdeutschen Handel der DDR der Bereich Kommerzielle Koordinierung -KoKo - erschaffen, mit dem vorrangigen Ziel, auf vielfältige Art und Weise zusätzlich Devisen/Valuta zu beschaffen. Im MfS Ministerium für Staatssicherheit gab es eine gleichnamige und zuständige Arbeitsgruppe. In allen relevanten Bereichen wurde nach geeigneten Mitarbeitern gesucht, so auch auf dem Gebiet der Kunst, Architektur und angrenzender Gebiete.

    Bei Gregor könnte es damals wie folgt abgelaufen sein:

    Ein Mitarbeiter der Arbeitsgruppe KoKo lässt eine Anfrage an die zuständige Bezirksverwaltung BV des MfS ergehen, diese leitet an die zuständige Kreisdienststelle KD des MfS weiter. Der für die Universitäten zuständige Mitarbeiter setzt sich mit seiner Kontaktperson, oftmals der Kaderleiter oder/und Parteisekretär in Verbindung. Über diese Linie kommen schon erste Hinweise. Der MfS-Mitarbeiter hat uneingeschränkten Zugang zu allen Kaderunterlagen und Akten, beginnt mit dem Studium dieser und trifft eine Vorauswahl.

    Dann folgt ein umfangreicher Prozess von Überprüfungen, Erfassungen und Ermittlungen, vor allem hinsichtlich der politischen Zuverlässigkeit und Eignung. Bei Bedarf werden Inoffizielle Mitarbeiter IM der KD eingeschaltet. Irgendwann ist es dann so weit. Gregor kommt in die engere Auswahl und wird zur Kaderaussprache geladen, in deren Ergebnis ihm nach Abschluss des Studiums eine Stelle in einem Referat des Außenhandelsministeriums angeboten wird, wo Fachleute mit Kunstverständnis gebraucht werden.

    Der Mitarbeiter der KD war überzeugt, mit dem gut aussehenden, sprachbegabten und vom Sozialismus überzeugten Gregor einen Volltreffer gelandet zu haben …. gut für die weitere Laufbahn.

    Gregor vermochte im Laufe der Jahre aus der heruntergekommen Villa ein wahres Schmuckstück zu machen, obwohl er viel unterwegs war, oft in der Bundesrepublik, in Österreich, der Schweiz aber auch in den USA, GB, Frankreich und anderen Ländern. Zu seinem Aufgabenbereich gehörte die so genannte „Beutekunst der Nazis" – also ein ganz heißes Eisen.

    Seine Jugendliebe und spätere Ehefrau – Dozentin an der Universität in Varna – besuchte ihn mit den beiden Jungen meistens in den Ferien in Berlin. Gregor seinerseits versuchte so oft wie möglich bei seiner Familie in Varna zu sein, wo er eine neue Strandvilla sein Eigen nennt. Nach der Wende verließ er Berlin. Ich lernte ihn „erneut kennen, als wir den Kaufvertrag unterschrieben. Es war eine Schenkung, was mich schon ein wenig in Erstaunen versetzte und so konnte ich es auch kaum glauben, wäre da nicht der amtliche notarielle Vorgang. Ich vermied es, näher zu hinterfragen, war ja schließlich durch die Genossen des MfS so organisiert. Gregor freute sich, dass die Villa in „gute Hände kam und Neuaussiedler beziehungsweise Umsiedler aus dem Westen brauchten sich nicht um das Objekt streiten, um möglicherweise eine Anwaltskanzlei oder ein Steuerbüro einzurichten.

    Jetzt erinnere ich mich auch wieder an meine erste Begegnung mit Gregor als wäre es letzte Woche. Es war am Scharnhorst-Denkmal an der Grenze, im August 1986. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich wiedererkannte? Hatte ich doch mein Äußeres doch mittlerweile ungewollt ein wenig verändern müssen.

    Gregor hinterließ mir eine geschmackvoll hergerichtete Immobilie, mit Kamin, Sauna und einem komplett eingerichteten Fotostudio. Ich staunte nicht schlecht, als ich an einer Leinwand im Labor mit Sticker befestigte Fotos von unserer Begegnung am Denkmal entdecke. Eines, wie ich eine rote Rose pflücke und eine andere Aufnahme zusammen mit der hübschen Studentin Sophie, als ich ihr diese Rose in ihre Bluse stecke.

    Seine Stafette ließ Gregor zurück und ich hatte Wohlgefallen daran, sie als Designerstück einzuordnen und somit nicht anzutasten. Malen ist überhaupt nicht mein Ding, Bilder betrachten schon eher. Mein Interesse gilt mehr den Alten Meistern, zur modernen Kunst finde ich kaum Zugang, warum auch immer? Die Stafette würde sich gut eignen, um ausgewählte Vogelaufnahmen zu platzieren.

    Im vorderen Bereich des Grundstückes ist ein hübsch angelegter Vorgarten mit einigen Laub- und Nadelbäumen und verschiedenen Gehölzen. Ein großer Süßkirschenbaum und ein Birnbaum, aus vermutlich den 30ziger Jahren, mit vier verschiedenen Birnensorten gehören ebenso dazu wie vier Pflaumen- und drei Apfelbäume. Das gesamte Grundstück wird vorder- und längsseitig von einer fast drei Meter hohen Ligusterhecke umsäumt, in der der Maschendrahtzaun mittig fest eingewachsen ist.

    Über zwei Stufen gelangt man durch das von Säulen getragene Eingangsportal in den Flur. Linker Hand befinden sich ein Schlafzimmer und ein weiteres, etwas kleineres Zimmer und rechter Hand ein Bad mit Toilette. Daneben ein schmaler Raum, die ehemalige Speisekammer – jetzt Abstellraum für Reinigungsgeräte nebst einem kleinen Werkzeugregal. Von hier aus führt eine Treppe in den schön gewölbten, nicht allzu großen Keller, der vollkommen leer und sauber ist. Hinter dem Abstellraum befindet sich die Küche, modern eingerichtet, mit einer Durchreiche zum Salon.

    Dieser erstreckt sich über die gesamte Hausbreite, links und rechtsseitig zwei halbrunde Ausbuchtungen und geradezu der doppeltürige Ausgang zur nach Süden ausgerichteten Terrasse. Von dieser führen genau sieben Stufen hinunter in den hinteren Teil des Grundstückes, das, etwas abfällig, ungefähr 40 Meter bis zum Wasser verläuft. Hier befindet sich ein kleiner Bootssteg samt Ruderkahn. Erinnerungen an das elterliche Grundstück in Friedrichshagen bleiben da nicht aus.

    Der seeseitige Teil des Anwesens ist großflächig mit Rasen angelegt, auf dem einzelne Rosen- und Rhododendronsträucher einen bezaubernden farblichen Kontrast erzeugen. Mehrere Pfirsich- und Aprikosenbäume erfreuen im Frühling durch die zartrosa Blüten und im Sommer gibt es reichlich süßes Obst, es sei denn, die Frühjahrsfröste haben keinen nachhaltigen Schaden hinterlassen. Links- und rechtseitig begrenzt eine hohe Ligusterhecke das Grundstück, davor einige Johannes- und Stachelbeersträucher sowie verschiedene Himbeeren und Brombeeren.

    Vom Salon aus führt eine Treppe in den zweiten Stock. Hier gibt es mehrere Zimmer. Bis auf die Sauna, den Duschraum mit Toilette, das Büro mit Seeblick und das Fotolabor, sind alle anderen Zimmer noch nicht saniert, heruntergerissene Elektroleitungen, von Holzwürmern durchlöcherte, durchgetretene Holzdielen. Zum Glück sind die Fenster alle erneuert.

    Post von Dietmar

    Ohne Hast und wieder frei von allen möglichen erdrückenden Gedanken und Gefühlen, gehe ich zum Briefkasten, welcher innenseitig am Gartentor angebracht ist. Für den Einwurf ist nur ein schmaler Schlitz eingesägt. Ein Zaunkönig hüpft mit hochgestelltem Schwanz aufgeregt in der Ligusterhecke auf und ab. Ich entnehme dem Briefkasten mehrere Umschläge verschiedenen Formats, setze mich auf die Gartenbank, die so in etwa auf halber Höhe der Zufahrt direkt vor der Tanne steht. Kaum hingesetzt, gesellen sich meine Gartengefährten hinzu, einige Blau- und Kohlmeisen, logisch, das Futterhäuschen ist gleich neben der Gartenbank, vor dem offenen Brunnen, auf dessen, mit Feldsteinen hochgemauertem Rand jetzt eine Amsel aufgeregt und neugierig hin und her hüpft.

    Mir fällt sofort der Umschlag mit dem aufgeklebten Bild eines Falken auf, kein Absender, ohne Adresse. Das ist Post von Dietmar. In den nahezu wolkenlosen Himmel schauend, versuche ich erst einmal abzuschalten und zu entspannen, atme tief durch. Es ist Mitte April und seit zwei Tagen meint es die Sonne ausgesprochen gut, als müsse sie sich für die letzten kühlen und regenreichen Wochen entschuldigen. Seit langem gab es mal wieder einen richtig kalten Winter und sogar noch Mitte März etwas Schnee.

    Die gesamte Vegetation, um mindestens drei Wochen zurück, hat viel aufzuholen. Die Knospen des Kastanienbaumes und der Buche zeigen, gerade erst aufgeplatzt, ihr zartes Grün. Der Forsythien-Strauch steht hingegen in voller Blüte und da bleibt es nicht aus, dass er von einigen Bienen angeflogen wird, sehr verlockend, das knallige Gelb. Sie kehren jedoch schnell wieder um, diese Sorte steht nicht auf ihrem Speiseplan! Dann schon eher die Blüten des Löwenmauls, die sich zahlreich auf dem gesamten Rasen verteilen. Auch der schmackhafte Nektar einiger, jetzt in voller Blüte stehender Obstbäume, wird nicht verschmäht. Den brauchen die Bienen unbedingt zur Fütterung ihrer jungen Larven. Es ist schon interessant, wie emsig die Bienen bei der Futtersuche sind. Aber nicht nur Futtersuche ist angesagt. Irgendeine von den vielen durcheinander schwirrenden Gesellen ist die Königin, die sich jetzt, in der in ihrem Leben nur einmaligen Brunftzeit befindet und von den Drohnen befruchten lässt. Deren unausweichliches Schicksal ist es wiederum, unmittelbar nach dem Befruchtungsvorgang zu sterben, während die Königin den Spermienvorrat für ihr ganzes Leben – bis zu fünf Jahre – in ihrer Samenblase bevorratet. Was für eine Faszination!

    Bevor ich den Briefumschlag öffne, schaue ich ihn mir etwas genauer an. Gibt es irgendetwas Verdächtiges, wurde er vielleicht schon einmal geöffnet? Eigentlich kaum möglich, denn es ist ein Direkteinwurf und soweit ich mich erinnere, ist auch vereinbart, dass Dietmar keine weiteren Personen einschaltet:

    „Unser Wanderclub plant die nächste Tour nach Luzern. Wir treffen uns am Freitag, den 01. Mai, gegen elf Uhr, am Kiosk Kapellbrücke, Luzern, Schweiz. Ich übernehme die Routenplanung. Frisch auf Dietmar.

    P.S. Bestätigung Wanderfalke."

    Dietmar hatte mir unmittelbar nach meiner Rückkehr ein Treffen mit Rolf vorgeschlagen, um uns einander bekannt zu machen. Dietmar und Rolf kennen sich schon seit dem gemeinsamen Besuch der Offiziershochschule OHS der Landstreitkräfte in Löbau, Anfang der Siebziger, gingen danach jedoch unterschiedliche Wege. Dietmar landete bei den Aufklärern des MfS und Rolf bei denen der NVA Nationale Volksarmee. Dietmar möchte, nach den Umbrüchen der letzten Zeit, seine Vergangenheit hinter sich lassen, zumal er es noch mit einem Ermittlungsverfahren des Staates BRD zu tun hat, wie übrigens alle Aufklärer des MfS und auch der NVA-Verwaltung Aufklärung.

    Diese Ermittlungsverfahren wurden automatisch eingeleitet, gingen teilweise bis in die Mitte der 90ziger und wurden in vielen Fällen ohne Schuldsprüche eingestellt. Die bekanntesten Verfahren betrafen die Führung der HVA des MfS Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit.

    In die Freude über ein baldiges Widersehen mit Dietmar und ein mögliches Kennenlernen von Rolf, mischen sich auch Gefühle des Unbehagens und in mir kommen nicht unbegründete Zweifel auf, eventuell mit genau dem weiterzumachen, womit ich vor einigen Jahren begann. Die Frage, lange vor mir hergeschoben, stellt sich jetzt von neuem - für Wen und Wofür?

    Habe ich nach den vorwiegend friedlichen politischen Umbrüchen in Europa und dem Zerfall des sozialistischen Weltsystems anfänglich an die Vernunft der Menschheit geglaubt, diese einmalige geschichtliche Chance zu nutzen, um eine weltweit unumkehrbare friedliche Entwicklung einzuleiten, wurde ich umgehend eines Besseren belehrt, wie es viele aktuelle Ereignisse belegen.

    Zwischen Israel und den Palästinensern gibt es keinen nachhaltigen Frieden und an einer Entflechtung dieses gordischen Knotens scheint, außer den Palästinensern, wohl niemand auf dieser Welt wirklich ernsthaft interessiert zu sein. Der im Nahen Osten tobende Krieg droht sich in einen Flächenbrand zu verwandeln und die gesamte Golfregion zu erfassen.

    Ja, selbst mitten in Europa, in Jugoslawien, führen die Interessen der international agierenden Rüstungs-, Öl- und Pharmakonzerne, in Verflechtung mit dem internationalen Finanzkapital, zu nicht absehbaren Spannungen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die ungewollt in kriegerischen Auseinandersetzungen enden könnten. Wobei „ungewollt, durchaus auch „gewollt bedeuten könnte.

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatten und haben die aggressivsten Kräfte dieser Welt keinen wirklichen Gegenspieler. Soll das immer so bleiben? „…Völker hört die Signale…."

    Die Völker scheinen taub zu sein und haben ihre Stimmen verloren, es gibt keinen Aufschrei, keinen wirklichen Protest.

    Noch immer auf der Bank sitzend, sehe ich den Vögeln noch eine Weile in ihrem quirligen Gehabe zu, gehe ins Haus, nehme meinen Wanderrucksack aus dem Kleiderschrank im Schlafzimmer, lege ihn mitten aufs Bett - mein treuer Begleiter, welche Geschichten hat dieser Rucksack schon alles erlebt, könnte er doch nur reden?!

    Mittwoch, 29. April, früher Vormittag - Vorbereitung auf Luzern

    Den am Wasserhahn angeschlossen Gartenschlauch rolle ich in Richtung meines VW-Busses aus, der in der Einfahrt auf Höhe des Brunnens steht.

    Vor der Reise nach Luzern ist noch eine gründliche Autowäsche fällig, denn der Bus hatte bei der Foto-Tour letzte Woche einige Geländeaktionen zu ertragen, die, den Verschmutzungsgrad betreffend, erhebliche Spuren hinterließen.

    Jedes Jahr im April ist Hochsaison für die Groß-Trappen, von denen es noch zahlreiche Exemplare im Fläming gibt, die meisten auf den weitläufigen Wiesen bei Brück/Mark. Dieses Gebiet wird auch als Brück – Baruther Urstromtal bezeichnet. Hier steht nicht nur ein gutes Nahrungsangebot zur Verfügung, sondern es sind auch noch ausreichende Brutmöglichkeiten vorhanden, da durch staatliche Vorgaben, Grünflächen nur zeit- und teilweise bearbeitet werden dürfen.

    Schon zu DDR-Zeiten gab es entsprechende Verordnungen. Nach der Wende traten teilweise ungeordnete Verhältnisse ein, da Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften LPG aufgaben, oder einen notwendigen Strukturwandel durchmachten. Zudem wurden Flächen an Eigentümer zurückgeführt, die sich als Landwirte verselbständigten. Auch sogenannte „Alteigentümer" erhoben Ansprüche – das waren zumeist Leute, die irgendwann und irgendwie ihre Heimat in Richtung Westen verlassen haben, sei es legal nach dem Krieg oder illegal DDR-Zeiten. Auch berechtigte Erbansprüche spielen bezügliche der Eigentumsverhältnisse eine nicht geringe Rolle.

    So könnte man an Hand der weitläufigen grünen Wiesen unendliche Schicksale der deutschen Teilung erzählen. Nur meine geliebten Trappen sind dem Standort treu geblieben, trotz der Wirren der Geschichte. Vielleicht gehören sie auch deshalb zur Kategorie der „Standvögel", Sommer wie Winter, Jahr für Jahr … sie bleiben … zumindest solange, bis wir auch diese stattlichen Vögel und immerhin schwersten, flugfähigen Vögel der Welt, vertrieben haben. Aber wohin, wenn sie kein zu Hause mehr finden?

    Ja, diese großartigen Vögel möchte ich unbedingt vor die Linse bekommen. Ein ausgewähltes Foto soll den Monat April meines nächsten Jahreskalenders 1993 krönen und weitere Fotos möchte ich verschiedenen regionalen und überregionalen Interessenten anbieten. Obwohl ich mein ganzes Handeln immer mit dem Umstand verbinde, etwas Nützliches für die Natur zu tun, bedarf es auch unbedingt solider finanzieller Einnahmen und andere Möglichkeiten sehe ich derzeit kaum.

    Natürlich könnte ich auch militärische Einrichtungen fotografieren, worin ich fast perfekt bin. Das habe ich bis ins Detail geübt und oft praktiziert. Aber wen interessiert das heute noch und wer möchte dafür Geld ausgeben? Alles hat sich geändert.

    Auch geraderüber hat die Wende Einzug gehalten, am Ende der Wiese, wo der Wald beginnt „Vorsicht Sperrgebiet – Betreten verboten…" Bundeswehrgelände – ein riesiger Truppenübungsplatz zwischen Brück, Beelitz und Lenin, nur 25 km südlich von Potsdam, mehr als 7000 Hektar. Zu DDR-Zeiten war hier die Raketentechnische Basis 2 der NVA stationiert, die die aus der Sowjetunion zugeführten Raketen lagerte und zur Weiterleitung an andere Standorte aufbereitete. Niemand aus der Umgebung wusste Genaueres, alles äußerst geheim. Auf dem nördlichen Teil war das Luftsturmregiment 40 der NVA untergebracht. Ursprünglich in Prora, auf der Insel Rügen beheimatet - damals noch Fallschirmjägerbataillon 40 - wurde es 1982 aus operativen Gründen nach Lenin verlegt und personell aufgestockt. Der Standort Prora war für die vorgesehenen Einsatzaufgaben von der Kommandozentrale Berlin schlichthin zu weit weg.

    Auf dem Übungsplatz entstand nach und nach eines der größten Häuserkampfobjekte mit Nachbildungen einer kompletten Stadt und ihrer entsprechender Infrastruktur, über und unter der Erde. Viele Jahre später werden hier Soldaten der Bundeswehr und anderer NATO-Mitgliedsstatten für Auslandseinsätze vorbereitet.

    Mit diesem Übungsplatz verbinden mich nachhaltige Erinnerungen. Hier habe ich so einige militärische Speziallehrgänge absolviert, wie Nahkampf- und Sprengausbildung, Spezialaufklärung und Häuserkampf. Den mehrwöchigen Fallschirmsprunglehrgang möchte ich jedoch als absoluten Höhepunkt einordnen, bereits mein zweiter dieser Art, nur deutlich militärischer ausgerichtet und härter organisiert als der Erste vor einigen Jahren bei der GST Gesellschaft für Sport und Technik, in Halle-Oppin, während meiner Lehrausbildung in Wolfen, im Jahre 1983. Und so werden in mir wieder Erinnerungen und Bilder wach, als ich diese Gegend hier, wo ich jetzt Trappen fotografiere, schon einige Male am Fallschirm hängend aus der Luft betrachten konnte.

    Die letzten NVA Einheiten sind 1991 vom Übungsplatz abgezogen und die Bundeswehr „übernahm". Einige Jahre zuvor hätte wohl niemand eine derartige Entwicklung denken können, geschweige denn, denken dürfen. Und doch gab es Leute, die womöglich so etwas nicht ausschließen konnten. Zu denen gehört wohl auch Rolf, wie ich einigen Schilderungen von Dietmar entnehmen konnte.

    Ah, endlich Bewegung im Gelände … Fehlanzeige! Ein Graureiher, vermutlich auf der Suche nach Fröschen und Schnecken, stelzt durch das hohe Gras … und dann doch, ich glaube meinen Augen nicht zu trauen … nur wenige Meter vor mir kommen einige der sehnsüchtig erwarteten Trappen in mein Blickfeld. Die Hälse bei jedem Schritt neugierig nach vorne streckend, können sie mich offensichtlich nicht ausmachen. Gut getarnt liege ich auf einer kleinen Anhöhe und atme tief durch, wobei mir der angenehme Duft, den die aufblühende Wiese und der naheliegende Sumpf ausdunsten, tief in die Sinne fährt. Jetzt heißt es Ruhe bewahren, äußerste Konzentration ist angesagt und die erreiche ich vor allem durch gleichmäßiges, ruhiges Atmen, wie ich es unzählige Male trainiert habe, wenn es zum Beispiel galt, einem möglichen Gegner in einem Hinterhalt stundenlang aufzulauern.

    Ich arbeite ohne Stativ und habe auch den Fotoapparat mit einem kleinen Tarnnetz überzogen. Erst fünf, sechs und dann sind es zeitweilig dreizehn bis fünfzehn stattliche Exemplare, Hennen und Hähne, letztere in prächtigem Balzkleid. Es ist ein so einmaliger und seltener Anblick, dass es mich überwältigt und ich fast das Fotografieren vergesse. Mehr hätte ich nicht erwarten können und ich knipse, was der Film hergibt. Ich verwende für meine Canon 650, Baujahr 1987, die mich schon bei vielen operativen Einsätzen begleitete, ein 50 mm und ein 35 bis 105 mm Objektiv. Das 50 mm ist mit feststehender Brennweite und somit lichtempfindlicher, also sehr vielseitig einsetzbar und durchaus auch für Dokumentenaufnahmen gut geeignet.

    Für meinen jetzigen Zweck habe ich das 35 bis 105 aufgeschraubt, sowohl für Landschaften gut, aber auch für Gebäude- und Objektaufnahmen. Die Canon 650 ist anderen Kameras in einigen Dingen voraus. Gute Arbeit von den Einkäufern des MfS! So hat sie eine Lichtempfindlichkeitsspanne, für die es anfänglich noch gar keine handelsüblichen Filme gab, die diese Lichtempfindlichkeit auch voll ausschöpfen konnten, ich meine hiermit im „Westen" der Vorwendezeit. Um das Potential der Kamera richtig zu nutzen, waren die Spezialisten der Operativen Technik OT gefragt, die offensichtlich über gute Kontakte zur Forschungs- und Entwicklungsabteilung des VEB ORWO Wolfen verfügten. Und so stand den operativen Mitarbeitern eine große Auswahlpalette zur Verfügung, maßgeschneidert nach dem jeweiligen operativen Bedarf. Wenn gewünscht, mit Überlängen für eine hohe Aufnahmezahl, mal aus extrem stabilem und andermal aus hauchdünnem Material und wenn nötig, mit Auflösungen, die eine DIN A4 Seite auf ein Mikrat reduzieren lassen, welches locker unter eine Briefmarke passt.

    Diese Sonderanfertigen stehen mir jetzt logischerweise nicht mehr zur Verfügung und ich begnüge mich mit dem Filmmaterial, welches ich in jedem Fotoshopp um die Ecke erwerben kann und dieses wird mittlerweile auch hohen Anforderungen gerecht.

    Die Trappen-Aufnahmen „im Kasten", baue ich alles ab, genieße noch einmal den Anblick der weitläufigen Natur, gehe gemütlich zum Bus und lasse die Scheiben herunter, um frische Luft in den Fahrerraum zu bekommen. Jetzt höre ich vereinzelt Detonationen von Granaten und kaum abklingende Salven von Maschinengewehren. Anscheinend ist auf dem Schießplatz Übungsbeginn. Ich werde in einer knappen Stunde Fahrzeit wieder zu Hause sein.

    So, nun aber Schluss mit den Erinnerungen, die Autowäsche macht sich nicht von alleine.

    Mit Blick in Richtung Brunnen, auf dessen Rand ich kurz vorher die Spritzdüse abgelegt habe, sehe ich auch schon, wie sich die Amsel daran zu schaffen macht. Zu spät, die Düse landet im Brunnen und ist nicht mehr zu sehen. Das Wasser in dem fast sieben Meter tiefen Brunnen misst bis zum sandigen Grund bestimmt auch noch mal zwei Meter. Es bleibt mir nichts weiter übrig, als den Daumen vor den Schlauch zu halten, um halbwegs Druck zu erzeugen. Zum Vorteil gereicht mir, dass die Lackierung des Busses nicht besonders schmutzempfindlich ist, eine Art olivgrün mit Tarnfarbenmuster.

    Der aus so genannten Altbeständen der Bundeswehr stammende VW-Bus war bei den Feldjägern im Einsatz. Unter dem Beifahrersitz konnte ich ein vergessenes, nagelneues, rotes Barett der Feldjäger entdecken. Im Abzeichen der Schriftzug SUUM CUIQUE, was übersetzt so viel bedeutet, wie Jedem das Seine. Ein Ausspruch, der vom Römischen Kaiser Justinian stammen soll. Dass dieser Spruch einen derartigen geschichtlichen Hintergrund hat, wusste ich lange Zeit nicht. Mir ist dieser Ausspruch jedoch vom unvergessenen und einprägsamen Schulbesuch im Konzentrationslager Buchenwald, bei Weimar, hinlänglich bekannt. In großen Lettern über dem Eingangstor empfing der Schriftzug JEDEM DAS SEINE die zukünftigen Häftlinge. Mehr als fünfzigtausend Menschen konnten das Konzentrationslager nicht mehr lebend durch dieses Tor verlassen. Ein bis aufs Mark durchdringender Schauer, verbunden mit einem tiefen Mitgefühl, überkommt mich immer wieder, wenn ich an diesen Besuch in Buchenwald denke, an die Verbrennungsöfen, die zur Mahnung ausgestellten Überbleibsel der Opfer, wie Goldzähne, Haare, Schrumpfköpfe. Hier zu fotografieren, wäre zutiefst unangebracht, ist auch nicht von Nöten, denn diese grausam anmutenden Bilder prägen sich jedem Betrachter unweigerlich tief in sein fotografisches Gedächtnis ein.

    Nein, so etwas darf nie wieder geschehen! Solche und ähnliche Ereignisse waren es, die mich von Kind an nachhaltig geprägt und politisch geformt haben und zu dem machten, was und wie ich jetzt bin. So viel muss man dem System in der DDR auf jeden Fall zugestehen, diesbezüglich wurde, im Vergleich zum Westen, umfangreiche Aufklärung betrieben. Leider mussten wir viele Jahre später erfahren, dass so manch ein Lager nach dem Krieg, in Ost und West, noch nicht ausgedient hatte. So wurden in der Sowjetischen Besatzungszone auch Gegner der stalinistischen Politik in ehemaligen Konzentrationslagern interniert. Wer sich hingegen in den westlichen Besatzungszonen aufhielt und Verbrechen während der Naziherrschaft hat zu Schulden kommen lassen, konnte mit großer Wahrscheinlichkeit damit rechnen, schnell wieder auf freiem Fuß zu sein.

    Berthold Brecht formulierte äußerst zutreffend „der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."

    Beim Betrachten des Feldjäger-Abzeichens wird mir diese Tatsache mal wieder anschaulich bewusst. Ich belasse die Mütze trotzdem im Auto und verfrachte sie in das Handschuhfach. Kürzlich konnte ich zudem noch eine Felddienstuniform der Bundeswehr, mit Dienstgradabzeichen Feldwebel, besorgen. Vielleicht kann sie irgendwann mal von Nutzen sein?

    Die vom Bus entfernten Schriftzeichen der Feldjäger sind bei genauerem Hinsehen noch nachvollziehbar, da sie sich etwas heller abheben. Für meine Zwecke ein ideales Fahrzeug, in der Natur unauffällig und gut für Tierbeobachtungen und Fotoaufnahmen. Auch der sehr günstige Preis war maßgebend und der Wartungszustand ist mehr als befriedigend. Für die Fahrertür habe ich eine Magnetfolie vorgesehen: zwei fliegende Kraniche und die Aufschrift „Jörg Braune – Naturfotograf – Berlin-Grünau, Waldweg 43, Telefon 030-473535". Den Auftrag für eine Magnetfolie hatte ich schon vor einem halben Jahr an eine Werbefirma erteilt. Doch die Werbefirmen können sich zurzeit vor Aufträgen kaum retten und vertrösten mich von Monat zu Monat.

    Während meiner Reise nach Luzern könnte sich diesbezüglich womöglich eine schnellere Lösung anbahnen. Dietmar gab mir den Hinweis, dass Rolf jemand in Berlin kenne, sehr vertrauenswürdig, der kürzlich eine Werbefirma aufgemacht hat, auch Foto- und Sicherheitstechnik sei im Angebot.

    Bereits im Juni letzten Jahres meldete ich mich unter der Berufsbezeichnung Freier Fotograf beim Finanzamt an, was so kurze Zeit nach der Wende für meine Begriffe relativ schnell und unkompliziert von statten ging. Alles steht im Zeichen von Um- und Aufbruch und da ist jedes Unternehmen, auch wenn es noch so klein und bedeutungslos erscheint, willkommen. Und gerade auf den Ämtern im Osten, also im „Beitrittsgebiet sind die „neuen Beamten sehr beflissen, sind es doch zum großen Teil die Alten, die sich zu DDR-Zeiten teilweise durch Überheblichkeit und Bevormundung gegenüber den Bürgern hervortaten, auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel. Führungspositionen sind jedoch fast ausschließlich von „Wessis besetzt und man staune, mit welcher Geschwindigkeit alles abgelaufen ist. Als hätte man das Jahre vorher penibel geplant und geübt. Dem war aber nicht so, für den Westen kam der Knall im Osten vollkommen überraschend. Aber um jegliche eigenständige Entwicklung im Osten auszubremsen, war die „Machtübernahme des Westens über den Osten conditio sine qua non, unerlässliche Bedingung.

    Die durch das Volk der DDR in der Wendezeit erstmals wiedererlangte, hart erkämpfte Macht, wurde kampflos an die Bürokraten und Verwalter des Kapitalismus aus dem Westen übergeben. Welch eine Ironie der Geschichte. Den Volksmassen, die bis vor kurzem noch lauthals proklamierten Wir sind das Volk, schien das letztendlich egal zu sein, Bananen und Reisefreiheit sind wichtiger. Dafür kann man auch schon mal seine eigene Entwicklung leugnen und einen Teil menschlicher Würde verlieren, was immer ein Jeder für sich darunter zu verstehen vermag. Ein Zurück gibt es nicht mehr. Das Haus wird verlassen und zur Ruine zerfallen, wie es einst begonnen hat, „Auferstanden aus Ruinen…".

    Viele ehemals „überzeugte SED-Mitglieder vergaßen von heute auf morgen ihre politischen Überzeugungen und wendeten ihre Westen, eben genau in Richtung Westen. Und tatsächlich gab es, ironisch umschrieben, für diese Vorgänge schon einen „Vorboten aus der Vogelwelt, den Wendehals, der Vogel des Jahres 1988.

    Gut, das soll es erst einmal gewesen sein. Ich hole noch eine Matratze, Härtegrad 4, aus dem Anbau, beziehe sie mit einem Spannbettlaken, lege zwei Decken hinzu und verstaue den Schlafsack hinter den frisch aufgefüllten Wasserkanister. Etwas Campinggeschirr und ein kleiner Gaskocher sollen nicht fehlen. Für alle Fälle lege ich noch mein Nahkampfmesser, Marcella, in die rechte Seitenablage. Bei Bedarf springt die Klinge an einem Ende des Griffs heraus und aus dem anderen Ende lässt sich kurzerhand eine Drahtschlinge ziehen. Nur ich weiß, wie das Messer ausgefahren und der Griff geöffnet werden kann, im Ernstfall auch ganz schnell. Und auch nur ich weiß, dass es sich um ein Messer handelt, denn dem Aussehen nach ist es eher ein kleiner, gedrechselter Kerzenständer. Der Messingring, welcher der Kerze als Halterung dient, ist mit ein wenig Wachs ausgefüllt, um die Austrittsöffnung des Messers zu bedecken. Kleine Messingringe um den Schaft lenken beim Röntgen vom metallenen Inhalt des Drechselstückes ab und gummierte Ringe sorgen für guten Halt in der Hand. Marcella ist nur eines von mehreren kleinen „Spielzeugen, die mich die letzten Jahre begleiteten und von denen ich mich nicht trennen möchte – alle samt aus dem „Hause MfS, Abteilung Operative Technik, mehrere Flughafen- und Grenzkontrollen ohne Vorkommnisse bestanden.

    Morgen, Donnerstag, den 30. April, werde ich in aller Frühe aufbrechen.

    Heute Nachmittag bin ich noch mit meinem besten Freund Ulf Grandig verabredet, Ostseite Bornholmer Brücke. Ich konnte ihn an seiner ehemaligen Adresse in der Ostseestraße ausfindig machen. Da ich keine aktuelle Telefonnummer von ihm habe, warf ich einen Zettel mit meiner Telefonnummer in seinen Briefkasten, mit der Bitte, mich zurückzurufen.

    Er wird mich wohl kaum wiedererkennen, habe hin und herüberlegt, ob ich ihm meine neue Identität offenbare? Immerhin ist Ulf mein einziger, guter Freund und das schon seit unserer gemeinsamen Einschulung in die 1. Klasse. Auf ihn konnte ich mich in der Vergangenheit immer verlassen, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Und so gab es bislang zwischen uns beiden auch kaum Geheimnisse. Warum ihm jetzt nicht auch ein kleines Geheimnis anvertrauen?

    Bornholmer Brücke – Ostseite, Mittwoch, 29. April, 14.00 Uhr

    Gedanklich etwas angespannt, laufe ich in Richtung Bornholmer Brücke. Auf dem Geländer sitzen zwei Nebelkrähen, mich neugierig beäugend. Die sind ja immer noch hier, denke ich so bei mir. Recht tun sie, sind im Osten geblieben, im Westen gibt’s ohnehin genug davon. Ost- und Westkrähen scheinen sich über ihren Lebensraum schnell einig geworden zu sein. Es heißt ja nicht umsonst, eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Oder ist es gar ein Ost- Westpärchen?

    Ulf, bereits eingetroffen, schaut, an einen Lichtmast gelehnt, ob er mich irgendwo entdecken kann. Er sieht ein wenig müde und abgespannt aus, ist dünner geworden, sein Gesicht erscheint blass, na ja, es war schließlich ein langer Winter, kaum Sonne. Ohne ihn augenscheinlich zu beachten, gehe ich an ihm vorbei. Offensichtlich erkennt er mich doch nicht. Ein paar Meter und ich drehe mich ruckartig um, rufe in seine Richtung: „Unterfeldwebel Grandig!"

    „Fähnrich Grandig! Bitteschön! Mein Gott, wie siehst du denn aus? Man erkennt dich ja überhaupt nicht wieder, nur an deiner Stimme und deinem Gang."

    „Das ist eine lange Geschichte, Ulf. Erzähl ich dir später mal ausführlicher. Lass uns erst einmal das tun, was vor einiger Zeit noch unmöglich erschien, gemeinsam über die Brücke gehen, hinüber auf die Westseite, in irgendein gemütliches Restaurant, um ein wenig zu plaudern, beim Genuss von Westkaffee.

    „Erinnerst du dich noch an meine letzten Tage? Hier an der Grenze, dort unten auf den Gleisen, mit dem Halt des Fernzuges zur Ostsee, im August 1986?"

    „… und ob, Jörg, und ob ich mich erinnere …"

    Ulf umarmt mich kräftig, mir ist, als bleibt nicht nur die Luft in meinen Lungen stehen, sondern auch die Zeit.

    Berlin-Grünau, Mittwoch, 29.April, 22.10 Uhr

    Entspannt in meinem Bett liegend, überlege ich, ob ich auch nichts vergessen habe? Ich werfe nochmal einen Blick in den Rucksack. Ja, die Bilder von Carmen, die Geschichte mit den Friedrichs, den Brief von Hermann, Telefonnummern, müsste alles dabei sein. Die Fahrstrecke habe ich vorab in der Autokarte markiert, sollte man eigentlich nicht machen, aber kann auch nicht von Schaden sein.

    Den ganzen Nachmittag war ich in Begleitung herrlicher Sonnenstrahlen mit Ulf unterwegs. Unmittelbar hinter der Brücke, auf der Westseite, fanden wir weder ein Café noch ein Restaurant. Und so liefen wir und liefen, immer dem ehemaligen Grenzverlauf folgend, mal im Osten, mal im Westen, bis wir irgendwann am Brandenburger Tor landeten. Die Zeit reichte nicht, um über all das zu erzählen, was wir gemeinsam erlebten und schon gar nicht, was jedem von uns womöglich noch am Herzen lag. Letztendlich waren wir uns beide darüber einig, unsere „Grenzgänger-Wanderung" irgendwann in den nächsten Wochen fortzusetzen.

    Vieles geht mir jetzt noch einmal durch den Kopf, ich werde müde, die Vögel im Garten meines neuen Zuhauses, die Trappen, Carmen, Ulf, der Reichstag, der Dienst an der Grenze …

    Ein nicht ganz gewöhnlicher Tag an der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin

    Berlin – Hauptstadt der DDR – Freitag, 08. August 1986

    Kaserne am Treptower Park, Sitz des Grenzregiments 33

    Appellplatz 05.20 Uhr

    Die gesamte Kaserne, eine ehrwürdige Dame in hohem Alter von rund achtzig Jahren, zeigt sich stolz in einem ziegelroten Backsteinlook und scheint noch zu schlafen. Leichter Regen in der Nacht hat die schwülwarme Augustluft ein wenig gereinigt und heruntergekühlt.

    In den dichtbelaubten Wipfeln der großen Linden auf dem Kasernengelände und den stattlichen Platanen vor der Kaserne stimmen sich die ersten Vögel für den morgendlichen Gesangswettbewerb ein. Amseln, Meisen und Sperlinge zwitschern munter durcheinander, weiter hinten ist das schrille Didlioh, Didlioh … eines Pirols zu hören und eine Hohltaube erwartet eine Antwort auf ihr geduldiges Guruh, Guruh, Guruh.

    Die erfrischende Luft, die die Natur ausatmet, vermischt sich mit den Diesel- und Benzingasen der vorfahrenden LKW und Kräder. Die Kompanie findet sich allmählich auf dem Stellplatz ein. Die Waffen, gerade empfangen, riechen nach frischem Öl und werden locker hängend, lässig über den Schultern getragen.

    Die meisten Soldaten begeben sich ruhig und bedächtig, eher schlendernd als marschierend in Richtung Stellplatz. Einigen ist noch die Müdigkeit vom gestrigen Ausgang anzusehen, der wegen des Frühdienstes auf 22.00 Uhr begrenzt war. Andere zeigen sich gegenseitig ihre Bandmaße. Die Zugführer geben die Besetzung der Postenpunkte, Gruppen- und Zugabschnitte bekannt. Nach und nach nimmt die Kompanie Aufstellung.

    Appellplatz, 05.30 Uhr

    „KOMPANIE STILLGESTANDEN! BEFEHL ZUR GRENZ-SICHERUNG

    Die 2. Grenzkompanie - eingesetzt im Abschnitt des Grenzregiments 33 – links Potsdamer Platz/Haus der Ministerien – rechts Lübars/Tegeler Fließ, in der Zeit von 6.30 Uhr bis 14.30 Uhr, zur Sicherung der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin, mit der Aufgabe, Grenzdurchbrüche zu verhindern, Provokationen nicht zuzulassen, sowie Angriffe auf die Integrität der DDR abzuwehren.

    Die Anwendung der Schusswaffe erfolgt entsprechend der Schusswaffengebrauchsbestimmung - nur im äußersten Notfall und bei Angriff auf das eigene Leben. Dabei die Person zuerst anrufen, wenn keine Reaktion erfolgt, Warnschuss in die Luft und wenn es dann immer noch keine Reaktion gibt, gezielter Schuss in die Beine.

    Die Schusswaffe darf bei versuchten Grenzdurchbrüchen, zurzeit nur mit Genehmigung des Leiters Grenzdienst des Regiments eingesetzt werden.

    Unterleutnant Wiesener - Kompaniechef Grenzsicherung

    VERGATTERUNG!"

    „Rührt Euch – zu den Fahrzeugen – Aufsitzen!"

    Mit Erteilung des Befehls zur Grenzsicherung beginnt der Grenzdienst offiziell. Ab diesem Zeitpunkt, der seine eigene Magie zu haben scheint, ist es, als ob die gesamte Mannschaft in eine andere Welt versetzt wurde, vom Alltag des Kasernenlebens, in den „Frontdienst. Der Einsatz an der Staatsgrenze bedeutet für uns „Kriegsdienst in Friedenszeiten. Es ist keine Übung, kein Spiel, das weiß jeder, der rund 90 bis 100 Einsatzkräfte, ob Soldat, Gefreiter, Unteroffizier oder Offizier.

    An diesem Tag ziehen wir in 96 Mann-Stärke auf, davon 7 Postenpaare Führungskräfte: Kompaniechef Wiesener mit Posten/Kraftfahrer Gefreiter Baumann, Zugführer Abschnitt I, Oberfeldwebel Kern mit Kraftfahrer Soldat Greinich, Zugführer Abschnitt II, Feldwebel Neisser mit Kraftfahrer Gefreiter Händler.

    Kompaniechef und Zugführer sind mit Trabant-Kübel unterwegs und die 4 Gruppenführer mit Krad, jeweils zwei pro Abschnitt. Heute gilt es 41 Postenpunkte zu besetzen, davon 39 auf Postentürmen, eine zusätzliche Fußstreife im Abschnitt Schiffbauerdamm, wo es kürzlich zu einem Grenzdurchbruch kam und eine Fußstreife im Bereich Norweger Straße/Bahngelände, wegen erhöhter Gefahrenlage.

    Als Kompaniechef KC habe ich eine Pistole Makarow, Kaliber 9 mm, 8 Patronen, plus 1 Reservemagazin in der Pistolentasche, am Mann. Alle anderen Einsatzkräfte sind mit der Kalaschnikow bewaffnet. Jeder Postenführer trägt zudem eine Leuchtpistole mit entsprechender Munition und ein Fernglas. Die Waffen werden mit Bezug der Postenbereiche unterladen. Das bedeutet ein Magazin mit 30 Patronen scharfer Munition wird eingeführt, zwei Reservemagazine befinden sich noch in der Magazintasche. Die Gruppenführer sind für die Kontrolle des Unterladens und Entladens verantwortlich, um Schießunfälle auf den An- und Abmarschwegen zu vermeiden.

    Unsere Kolonne setzt sich in Marsch. Das Kasernentor an der Bouchéstraße öffnet sich und wir fahren in Richtung Grenzabschnitt. Im Gefolge wieder einmal ein Fahrzeug der Militärmission der US-Streitkräfte, die sich mit der „Lizenz zum Spionieren", vollkommen frei auf dem Territorium der DDR bewegen kann, mit Ausnahme militärischer Sperrgebiete. Das gleiche Recht haben auch alle anderen Alliierten, einschließlich der Sowjetischen Militärmission, die sich wiederum auf dem gesamten Gebiet der BRD frei bewegen kann.

    Geregelt wird die Tätigkeit der Militärverbindungsmissionen MVM in einem entsprechenden Abkommen der alliierten Streitkräfte. Die Sowjetische Militärmission ist in Potsdam-Babelsberg untergebracht, die US Mission residiert in der Villa Sigismund in Potsdam-Neufahrland. Die Briten und Franzosen haben ihre Quartiere in Villen in der Seestraße, am Heiligen See, eingerichtet und können den nahe gelegenen Grenzübergang Glienicker Brücke nutzen, die durch zahlreiche Agentenaustausche eine fragwürdige Weltberühmtheit erlangte. Der Checkpoint-Charlie in der Berliner Friedrichstraße dient als Zufahrt zu Berlin-Ost, ist kein Grenzübergang im herkömmlichen Sinne und kann nur von den MVM, Diplomaten und Personen mit Sonderstatus, wozu auch Gregor gehörte, genutzt werden. Die Checkpoints sind nach den ersten Buchstaben des Alphabets benannt und so stehen Checkpoint Alpha für den Übergang Marienborn/Helmstedt sowie Checkpoint Bravo für Dreilinden/Drewitz.

    Wir fahren nicht lange durch die Berliner Innenstadt. Es ist mitten in der Ferienzeit und viele Berliner sind an der Ostsee oder in den Mittelgebirgen in Urlaub. Auch das Schwarze Meer in Bulgarien und der Balaton in Ungarn gelten als beliebte Reiseziele für etwas besser bemittelte DDR-Bürger, während man im Westen nach Spanien und Italien fährt.

    Wir passieren die Elsenbrücke, die an dieser Stelle die Spree überquert und dann weiter bis zum Ende der Strahlauer Allee, wo sich unsere Fahrzeugkolonne teilt. Während der eine Teil in Richtung Alex/Unter den Linden weiterfährt, nehmen wir den Verlauf der F-96 in Richtung Prenzlauer Berg.

    Der Autoverkehr hält sich am frühen Morgen in Grenzen und demzufolge ist die Luft noch nicht allzu sehr von Abgasen verpestet. Die F-96 ist immerhin der Ausganspunkt für Urlauber in Richtung Ostsee. Eine zwingend notwendige Autobahn ist noch nicht im Bau, kein Geld, kein Zement, nicht genügend Bauarbeiter – soll sich die Arbeiterklasse in ihren Trabbis ruhig ein bisschen die Zeit vertreiben, bevor der Urlaub richtig losgeht.

    Einige Leute sind schon auf den Straßen, vermutlich in Richtung S-Bahn, Straßenbahn oder auch U-Bahn, Menschen aller Altersgruppen, manche einfach und leger gekleidet, andere in modernen Anzügen oder modischen Kleidern.

    Plötzlich … ein lautes Reifenquietschen … das erste Krad unserer Kolonne muss eine Notbremsung machen und kommt, ohne dass das Gefährt umkippt, gerade noch auf dem Bürgersteig zu stehen. Zwei junge Männer mit Punkfrisuren gehen über die Fahrbahn, als gäbe es keinen Verkehr. Sie ignorieren unsere Kolonne, strecken den Mittelfinger aus und lachen. So etwas kommt mittlerweile immer häufiger vor. Ohne uns provozieren zu lassen, setzen wir unsere Fahr fort.

    Immer mehr Leute geben unverhohlener zu verstehen, welches Verhältnis sie zu den Grenztruppen und der Mauer haben. Da muss man schon mal hinter so einige Transparentlosungen ein Fragezeichen setzen, die uns, von den meisten gar nicht mehr bewusst wahrgenommen, täglich auf unserer Wegstrecke begleiten.

    Unser rund 22 Kilometer langer Grenzabschnitt befindet sich mitten im Stadtgebiet von Berlin. Dazu gehört unter anderem der Potsdamer Platz, mit den damals geschlossenen unterirdischen S- und U-Bahnhöfen, das Brandenburger Tor, das Reichstagsufer mit dem gegenüber liegenden Reichstag und die U-Bahnhöfe Bernauer- und Chaussee-Straße. Letztere sind auf Ostberliner Seite geschlossen. Die Westberliner U-Bahn verläuft direkt unter Ostberliner Stadtgebiet.

    Ebenso dazu gehören die Grenzübergangsstellen GÜST Friedrichstraße/Tränenpalast Bahn, Invalidenstraße und Bornholmer Brücke. Die GÜST werden durch das GÜST-Sicherungsregiment in Zusammenarbeit mit Diensteinheiten des MfS, wie zum Beispiel den Passkontrolleinheiten PKE, gesondert gesichert.

    Dem Abschnitt des GR-33 gegenüber, liegen die Westberliner Stadtbezirke Tiergarten, zum Britischen Sektor zugehörig, Wedding und Reinickendorf - beide Französischer Sektor. Der gesamte Grenzabschnitt ist in zwei Zugabschnitte, mit jeweils zwei Gruppenabschnitten unterteilt. Letztere werden in der Regel durch Unteroffiziere geführt, die als Krad-Streife in ihrem Gruppenabschnitt unterwegs sind. Die Zugabschnitte werden durch Berufssoldaten oder Offiziere geführt.

    Spätdienste und Nachtdienste gelten, wegen höherer Gefahrenlage – sprich Gefahr durch Grenzverletzungen - als Schwerpunktdienste. Die Dienstzeit beträgt jeweils acht Stunden, plus Ab- und Anmarsch- sowie Ablösezeiten. Letztere werden aus taktischen Gründen in regelmäßigen Abständen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1