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Elbaufwärts fließt bei Ebbe die Ruhr in die Spree
Elbaufwärts fließt bei Ebbe die Ruhr in die Spree
Elbaufwärts fließt bei Ebbe die Ruhr in die Spree
eBook195 Seiten2 Stunden

Elbaufwärts fließt bei Ebbe die Ruhr in die Spree

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Über dieses E-Book

Als CN eine Wasserleiche aus der Ruhr fischt, geschieht endlich das, weshalb er aus dem Norden ins Ruhrgebiet gezogen war: Er lernt Menschen kennen. Er findet neue Freunde. Doch die Leiche entpuppt sich als seine Jugendliebe aus Nordfriesland, wodurch alte Geister auftauchen, alte Wunden wieder aufreißen. "Hey, hömma, Hamburg, biste einfach zugedröhnt, arrogant oder nur maulfaul?" Manchmal weiß CN das selbst nicht so genau. Vielleicht von allem ein bisschen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum11. Juli 2023
ISBN9783943322651
Elbaufwärts fließt bei Ebbe die Ruhr in die Spree
Autor

Huug van´t Hoff

Huug van´t Hoff: Friesisch-Holsteiner Bauerssohn, selbständiger & gelernter Buchhändler, Soziologe, promovierter Literatur- und Medienwissenschaftler, Theaterpädagoge, Regisseur, Bau-, Fabrik-, Fließband-, Feld- und Narrationsarbeiter sowie Kultur-Guerillero. Seit 2011 freiberuflicher Autor diverser Romane, Kurzgeschichten, Erzählungen, Hörspiele, Drehbücher und Theaterstücke, mit diversen Veröffentlichungen. Dozent für Soziologie, Literatur und Medien, kreatives Schreiben, Theater und Drehbuch.

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    Buchvorschau

    Elbaufwärts fließt bei Ebbe die Ruhr in die Spree - Huug van´t Hoff

    Clemens Nikolaus Johannsen, von Freunden CN genannt, ist ins Ruhrgebiet gezogen, um Menschen kennen zu lernen. Was ihm erst gelingt, als er in der Nähe des Baldeneysees auf eine Wasserleiche stößt. Mit ihr zieht er ungeahnte Probleme an Land. Und neue Freunde, die ihm eigentlich helfen wollen, aber sein Leben komplett durcheinander bringen. Nachdem die Tote von der Polizei zudem als eine Jugendliebe von ihm aus Nordfriesland identifiziert wird, brechen endgültig alle Dämme. Die Vergangenheit holt die Gegenwart ein.

    Ein autofiktionaler Roman über die Unberechenbarkeit des Daseins, eine Wildwasserbahn, die alles am Leben hält. Bis zum Tod. Heiter, absurd, melancholisch, tragisch, traurig, lustig, menschlich, surreal.

    Huug van’t Hoff: Friesisch-Holsteiner Bauerssohn, selbständiger & gelernter Buchhändler, Soziologe, promovierter Literatur- und Medienwissenschaftler, Theaterpädagoge, Regisseur, Veranstalter, Bau-, Fabrik-, Fließband-, Feld- und Narrationsarbeiter, sowie Kultur-Guerillero. Lebt derzeit in Essen / NRW.

    Inhaltsverzeichnis

    Strandgut

    Landunter

    Kielholen

    Schiffeversenken

    Klabauterfrau

    Deichbruch

    Hoppetosse

    Mahlstrom

    Shanty

    Schiffbruch

    Seenotrettung

    Heimathafen

    SOS

    Auf Kaperfahrt

    Seebestattung

    Strandgut

    Für Wasserleichen gibt es keinen Finderlohn mehr. Alles ist anders. Und real. Viel zu real. Gar nicht gut, ist mein erster Gedanke, als ich endlich im Biergarten am Baldeneysee sitze. Allein an einem Sechsertisch, einen Humpen in Händen, aus dem ich einen kräftigen Schluck nehme. Das Feuer frisst sich durch den Körper. Feuer ist mein Freund seit der Kindheit. Dachte ich. Bis jetzt. Feuer fraß sich durch das trockene Gestrüpp am Teich, breitete sich über den Benzinlachen auf dem Wasser aus, das Benzin gab uns die Mutter, damit sie in Ruhe ihr Feuer auf dem Sofa im Wohnzimmer des Hofhauses löschen konnte. Allein. So wie wir Kinder das Feuer draußen auf dem Teich und im Gestrüpp löschten. Haut und Wasser, beides gelöscht. Die Mutter lag auf dem Sofa wie die Frau in der Ruhr, die ich gefunden hatte. Deren Leiche ich aus dem Wasser fischte. Der Fluss schob den aufgeschwemmten Körper zum seichten Ufer. Die Wellen drehten sie seitlich dagegen. Wie die Mutter auf dem Sofa. Nur tot, mit trübem Wasser im Haar, in der Haut, im Fleisch. In einer Wolke aus süß-fettigem Gestank hob ich sie an Land. An der Kleidung, weil mir die direkte Berührung Angst und Ekel bereitete. Anschließend wusch ich mir im Fluss die Hände und erbrach mich in die Ruhr. Das Desinfektionsmittel, das ich seit zwei Jahren gegen Berührungsgefahren bei mir trage, reinigte die Haut, nicht die Gefühle. Egal, wie viel ich trinken werde, die Erinnerungen wird der Alkohol niemals löschen. Whiskey aus dem Bierglas, da keine Flaschen verkauft werden. Nach dem zweiten Schluck ist es noch zu Dreivierteln gefüllt, mein Kopf halb leer, randvoll mit Bildern und Gedanken. Feueralarm. Gar nicht gut. Am Nachbartisch sitzt eine ältere Frau im zeitlosen Hauskleid, das nie modern gewesen ist, über dem sie eine weiße, mit blauen Blumen gesprenkelte Schürze trägt. Als wäre sie gerade aus einer Waschküche der achtziger Jahre getreten. Vor ihr steht eine Tasse Tee, neben der ein paar helle Klumpen liegen, die wie Kluntjes aussehen. An diesem Ort so fehl am Platz wie die Frau selbst. Womöglich sind es aber auch einige weiße Exemplare der Gummibärchen, die sie, wenn der Kellner nicht schaut, aus ihrer Tasche klaubt, um sie sich in den Mund zu stopfen. Das alles wirkt zwar merkwürdig, wäre mir jedoch niemals aufgefallen, hätte sie mich nicht unentwegt dabei angesehen. Mehr noch: Ihre Augen mustern mich, scheinen mich zu röntgen, anzuklagen. Trotzdem will es mir nicht gelingen, sie näher zu beschreiben, weder die Augen noch das Gesicht. Eine Frau im Nebel, ohne Nebel. Irgendwoher kenne ich sie, ahne ich, ohne sie zu erkennen. Wer ist sie? Was glotzt sie zu mir herüber? Ich nippe am Glas, und mein getrübter Verstand erklärt mir: Sie ist der Geist der Wasserleiche, der mich verfolgt. Für die kein Finderlohn mehr gezahlt wird. Nie mehr! Eissplitter laufen mir durch die Haut. Feueralarm. Gar nicht gut. Ich drehe ihr den Rücken zu, um dem Zwang des Immer-Wieder-Hinguckens zu entgehen. Ihre Blicke spüre ich weiterhin. Im Nacken, er kribbelt, wie bei einer allergischen Reaktion. Ich bemühe mich, sie zu ignorieren, schaue über den See, denke an Wellen, Feuerwellen auf Benzin, Kanufahrten, Baden, Wasser, Tee, Kluntjes, Mutter auf dem Sofa, Wasserleichen und den Finderlohn, den es nicht mehr gibt, nie wieder geben wird, wie alles andere, was hinter mir liegt. Mir im Nacken sitzt. Kein Entrinnen, ein weiteres Nippen am Glas. Die Sonne hockt tief im Südwesten am Himmel, wärmt den Junisommertag. Am See bleibt es kühl. Feueralarm mit Eissplittern. Überall. Die Wasserleiche. Weder Strand noch gut.

    Früher gab es einen Finderlohn, wusste ich von einer Freundin, von früher. Das sei ihr neu, davon habe sie noch nie gehört, hatte die Polizistin entgegnet, heute, vorhin, gerade eben. An der Ruhr sei man einfach tot, dafür zahle niemand. Tod. Gar nicht gut. Ob ich die Tote gekannt habe, fragte sie. Ich war mir sicher, diese und keine Leichen zu kennen, kennen zu wollen. Weder vorher lebendig, noch nachher tot. Ich bin mir sicher. Ich sei neu in der Gegend, erwiderte ich. Im Pott bin ich relativ neu. Was ihr als Antwort ausreichte. Sie halte mich auf dem Laufenden, versprach sie. Ich nickte stumm, mit starrem Blick zu den Ruhrwellen auf ihrem Weg zum Rhein. Gar nicht gut. Zufrieden wandte sie sich um, ließ mich stehen und ging zu ihren Kollegen von der KTU. Mein Tatort-Wissen verriet mir die Funktion. Sie trugen weiße Kittel. Oder war das die Spusi, die Spurensicherung? Oder sind Spusi und KTU das Gleiche mit unterschiedlichen Namen? Aber kommen die nicht nur zu Tatorten von Morden? Oder wird jede Leiche anfänglich wie ein Mordopfer behandelt? Oder gehörten die Weißkittel am Fundort vielleicht zur Gerichtsmedizin? Untersuchen die an jedem Ort alle Toten? Mein Wissen versank im Fernsehsendungsmeer. Die Wellen trieben weiter flussabwärts. Feueralarm. Meine Personalien waren hinterlassen, die Frau, der ich sie gegeben hatte, würde mich auf dem Laufenden halten. Ein letzter Blick zu meinem Fund. Noch als Mensch zu erkennen, als Person schon nicht mehr. Aufgedunsen, in unmenschlicher Farbgebung. Wie in einem Zombiefilm. Im ganz eigenen Zombiefilm. Übelkeit stieg in mir auf, ich geriet ins Wanken wie eine Boje auf dem Fluss. Niemand sah die Boje wanken. Ich war überflüssig an diesem Ort und brauchte dringend etwas zu trinken. Die Boje löste sich vom Anker, und meine Beine trieben der geplanten Richtung der morgendlichen Wanderung folgend weiter, ruhrabwärts, bis hinab zum Stausee.

    »Da hinten sin' noch Plätze«, brüllt es hitzig über die Schirme, Tische und Stühle. Die Stimme stampft voran auf mich zu, gefolgt von drei Freunden. Im Gegensatz zur Stimme und dem Körper, aus dem sie dringt, sind die Bewegungen überraschend fließend, elegant. Ein glatzköpfiger Koloss, dem die Haare schwarz aus dem Hemd quellen, schlängelt sich zielstrebig im Tisch-Slalom in meine Richtung. Die Begleiter, ein Kleinerer mit gleicher Statur und Frisur, ein blonder Schlacks und ein Schwergewicht mit Zahnlücke, entsprechen schon eher meinem Vorurteil. Das Schalke-04-Emblem macht ihre T-Shirts zu ungleichen Drillingen, die über ihren Körpern spannen, schlackern und stöhnen, während sie weit weniger gekonnt als ihr Kapitänskoloss den Parcours um die besetzten Sitzgelegenheiten des Biergartens nehmen. Einige Schirme wanken, Bierkronen schwappen über Gläserränder, und manche Gabel schiebt das Essen neben dem Mund in die Wange. Die alte Dame mit den Gummibärchen ist fort, ihr Tisch mit anderen Gästen belegt. Für Verwunderung, Beschwerden und Gebrüll bleibt keine Zeit. Schon sitzen die Vier neben mir. Das war der Grund gewesen, warum ich im vorvergangenen Frühjahr in den Pott gezogen war. Weil die Menschen nahbarer seien. Hieß es. Dolce Deutschland, Italien an der Ruhr. Gemäß den Erinnerungen an eine Studienfahrt nach Rom, wo ich vor morbiden Sehenswürdigkeiten und mosernden Mitschülern an den Tiber geflohen war, um allein zu sein, und bald darauf im Garten eines Innenhofs vor einem Teller Spaghetti saß. Inmitten einer familia vergessener Namen, laut und lebendig, babylonischer Sprachenwirrwarr, tutti Herzlichkeit, tutti Leben, tutti menschliche Nähe. Das suchte ich. Wieder. Auf der Flucht. Die Ruhr sei der heimische Tiber, die Menschen herzlich und nahbar wie sonst nirgendwo nördlich der Alpen. Hieß es. Tutto bene. Waren sie. Gewesen. Dann kam die Pandemie, plus Abstand und Masken. Ich hatte niemanden, weder nah noch bar, herzlich kennengelernt. Roma deserta. Jetzt hätte ich liebend gern darauf verzichtet, hätte die nordische Distanz bevorzugt, hätte ein »Oh, alle Tische besetzt, hauen wir uns auf die Wiese« lieber gehört, wie ich es aus Kneipen am Werftpark an der Kieler Förde kannte. In der Nähe des Strandes, hier, keine Chance, nach Abstand und Pandemie, Tiber an der Ruhr, tutto diverso, ohne Spaghetti.

    »Hömma? Wir stör'n doch nich', oder?« Eine Frage ohne Alternativen zum Antworten. Die Stimme tief, kumpelhaft und nett. Irgendwie. Zu viel an diesem Tisch. Der Ellenbogen vom Koloss stupst mich an.

    »Nein, nein«, gebe ich die eine Antwortoption zurück, hebe das Bierglas an und versuche, mein Gesicht darin zu verstecken. Keine Chance. Erneut knufft es an meinem Arm. Diesmal von der anderen Seite. Der Schlacks grinst mich spöttisch an.

    »Wat pichels'n da?« Er tippt auf Höhe des Getränkestands gegen mein Glas. »Sach nich' Kölsch.«

    Es ist offensichtlich, dass ich keine Chance gegen die Vier haben werde. An denen würde jede abweisende Haltung abprallen oder zum Streit führen. Die Boje würde in jedem Fall untergehen. So ergebe ich mich dem Unvermeidlichen und antworte, obgleich ich ahne, dass dies zu neuen Fragen führen wird, ehrlich: »Whiskey.«

    »Aus'm Bierek?« Mit anerkennendem Staunen starren mich alle vier kurz an. Der Schlacks klopft mir zufrieden auf die Schulter. »Gut so, besser als Kölsch.« Alle lachen, Schalke-04 wackelt. Ich bin froh, keine Ahnung von Fußball zu haben. Mein Bolzwissen vom Platz aus der Kindheit reicht für die Erkenntnis aus, besser ahnungslos zu sein, als die falsche Ahnung zu vertreten. Sie lachen, und ich lache erleichtert mit. Zum ersten Mal seit der Leiche. Eigentlich seit dem Aufstehen.

    »Ich bin Olli, das sind Mark, Navid und der is Kalle!« Der Schlacks zählt die Personen am Tisch ab. Sein Zeigefinger beginnt beim Kerl mit der Zahnlücke, weist zur Mini-Ausgabe, dann mit dem Daumen zum Original-Koloss. Mein Vorurteil-Alarm schrillt kurz im Kopf auf, weil Navid und Kalle sich äußerlich bis auf die Größe so dermaßen ähneln, im Gegensatz zur Herkunft des Namens. Einen Navid hätte ich mir anders vorgestellt, eher wie Kermani. Aber es wurden auch Kevins JuSo-Vorsitzende, ohne angelsächsische Herkunft. Trotz der statistischen Vorurteile bei Lehrkräften und der Bevölkerung, von denen ich irgendwo gelesen habe. Warum denke ich über so einen Quatsch nach? Liegt es am Alkohol oder an meinem desolaten Gemüt, dass die Vorurteile binnen Sekundenbruchteilen eine Tarantella in meinem Kopf tanzen? Bis, zack, Ollis Aufzählung mit Fingerhinweis bei mir endet. »Und du?«

    »Ich? Ähm, Clemens.« Meine anerzogene Höflichkeit reagiert auf Zuruf. »Clemens Nikolaus Johannsen.«

    »Ha«, prostet mir der Koloss, der Kalle heißen soll, lauthals zu. Alkoholisiert, überraschend ehrlich beeindruckt. »Wat'n Name?! Wie Caspar David Friedrich, oder so!« Treffer. So viel zu Namens bezogenen Vorurteilen. Ein Doppeltreffer sogar, oder vielmehr ein Treffer mit Rückschlag. Kaum hatte ich die Vier gesehen, habe ich mir ein weiteres Vorurteil gebildet. Nachdem mein Morgens-Whiskey-aus-Bierhumpensaufen denen keine besondere Bemerkung wert gewesen war, lediglich ein lapidares, minderkomisches Besser-als-Kölsch, hat es als Urteil festgestanden. Typen, die aussehen wie die und zudem morgens in Biergärten sitzen, sind Kulturbanausen. Was für ein altbackenes Wort. Inhaltlich meine Überzeugung: Solche können sich unmöglich für Kunst interessieren. Mein Problem ist nur, dass ich selbst um die Uhrzeit dort sitze und trinke wie ein Typ …, nein, mich betrinke wie ein Typ meines Vorurteils. Noch dazu mit Hochprozentigem. Warum sollen sich die Vier also nicht für Maler interessieren? Viele Maler tranken schon morgens Hochprozentiges, und die Vier haben nur Bier vor sich auf dem Tisch stehen. Das Getränk des Proletariats? Quatsch, jeder trinkt das, was er mag. Tarantella im Kopf. Und zusammen trinken wir lütt und lütt. Wie man im Norden sagt. Hier wohl Gedeck. Von dem ich abweiche. In Menge und Herkunft. Mein Schnaps stammt aus Schottland. Snobistisch. Was sagt das über das Verständnis von und Interesse für Kunst aus? Nichts! Und über die Vier noch weniger als über mich. Mein Kopf rudert über den eigenen Stausee. Und Caspar David Friedrich kennt ja jeder, trotzdem … nicht im Biergarten. Ja, Strandgut-Vorurteil. »Stehse sonst imma bedröppelt am Meer rum, wa? Statt hier mit uns zu sitzen. Prost!« Treffer, versenkt. Keine Minute ist vergangen, und sie haben mich als Nordlicht, als Fischkopp, enttarnt. Ist es die distanzierende oder die Mundart gewesen, die mich verraten hat? Gleichgültig. Das Bierglas vom Koloss klonkt in dem Moment gegen meines. Um meine Herkunft nicht vollends zu lichten, stoße ich mit ihnen an. »Zum Wohl, Hamburg!« Ja, zehn Jahre meines Lebens.

    »Nein, noch weiter im Norden …«, verbessere ich automatisch mit einem bemühten Lächeln. Er nippt einen Schluck ab. Schaum bleibt ihm an der Oberlippe hängen, wie Gischt am Strand.

    »Egal, für mich heisse Hamburg, Caspar David Friedrich mag ich nicht. Sorry, nichts für Ungut, aber …« Der Meeresschaum fliegt von den Lippen in Flocken über den Tisch.

    »Ich finde seine Bilder schön, Kalle, so melancholisch«, erwidert der Schlacks, der sich als Olli vorgestellt hat. Ob als Zeichen der Solidarität mit mir, dem Fremden, dem Gast in ihrer Region, an ihrem Tisch, oder aus eigenem Geschmack, ist unklar. Auffällig ist, die Sprachfärbung ist nahezu verschwunden. Fast hochdeutsch klingt er jetzt, der Ruhrregiolekt verlor sich, entweder wegen des Themas oder wegen seiner Vermutung meiner Herkunft. Klar ist aber, beides zählt für Kalle gleich wenig.

    »Du has' auch keine Ahnung, Olli«, knarrt der zurück. »Bis' ja selbst imma so melancholisch. Alter, du solltest dir lieber was Heiteres reinziehen statt diesen Deprikram. Nicht wahr, Hamburg?« Er erinnert mich an irgendjemanden, weit entfernt, in Jahren und Kilometern. Ich durchwühle das Chaos meiner Erinnerungen. »Hamburg? Hey, McFly, jemand zu Hause?« Ein Zitat der Achtziger, das dem Kopfirrgarten geradlinige Bahnen gibt. Der Kinobetreiber in Niebüll, der großen Stadt in der Kindheit, der gesprächigste und lauteste Mensch hinterm Deich. Damals hörte ich meine Eltern im Schlafzimmer flüstern, dass die Polizei ihn aus dem Flughotel in Leck abgeholt und bei seiner Frau abgeliefert habe, weil er die Rechnung nicht bezahlen konnte. Sie löste ihn aus. Damals dachte ich an gemoppste Sallos bei Frisch-Müller, dem Dorfladen. Voller Schrecken. Was wäre

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