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Steinzeit
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eBook577 Seiten8 Stunden

Steinzeit

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Über dieses E-Book

Karl, Hannes und seine Schwester Minni kennen sich von Kindheitsbeinen an. Sie gehören zu der Generation, die die Wirren zweier Weltkriege miterleben. Minni erfährt die leidenschaftliche Nähe zu Karl. Der Tod ihres Bruders, mit dem sie eine starke Geschwisterliebe verbindet, bringt Minni an den Abgrund ihres Verstandes. Sie droht an ihrem Zweifel an einer gerechten Welt zu zerbrechen und stößt Karl von sich, der in ihren Augen wegen eines Privilegs vom Fronteinsatz verschont bleibt. Minni verlässt ihren Heimatort, bringt in Berlin Karls Tochter zur Welt, ohne dass Karl davon erfährt. Bei ihrer Arbeit im Lazarett lernt Minni den Soldaten Lukas kennen, den sie später heiratet, der Karls Tochter adoptiert, und von dem sie eine zweite Tochter bekommt. Jahre später gerät Minnis kleine Familie mehr und mehr in Gefahr: Lukas ist Jude! In dieser Zeit erfährt Minni den Neubeginn ihrer Liebe zu Karl. Nach Lukas' Ermordung wird Karl zum Stütz- und Schutzpfeiler für sie und ihre Töchter. Sie überleben fast alle Wirren des Krieges. Fast!
Am Ende bleiben Minni zwei kleine Steine - als Glücksbringer einst gefunden.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Mai 2021
ISBN9783347274334
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    Buchvorschau

    Steinzeit - Hanna Karthé

    I

    Die Kälte hatte das Land fest in ihrem Griff. Ihre frostigen Krallen hatten sich tief ins Erdreich gegraben und die Erde bleigrau gefärbt, die dunkle Sommer- und Herbstfarbe aus ihr herausgezogen. Eisige Winde wehten über die winterkahlen Felder und gaben ihnen das Aussehen einer betonharten großen Fläche, bei der es versäumt wurde, sie vor dem Aushärten zu glätten. Die Natur schien abgestorben zu sein, in eine Starre verbannt, die dem Leben keine Chance gab. Im frostigen Wind glichen die Bäume gekrümmten und gequälten Gestalten. Die herunterhängenden Äste gaben im Wiegen eine hohlhölzerne Melodie von sich, bizarre Töne in immer wiederkehrender Folge. Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine klirrende Kälte.

    Schon früh hatte sie eingesetzt. Bereits Ende Oktober waren die ersten Ausläufer eines polaren Winters zu spüren. Starke Winde brachten die kalten Temperaturen des Nordens und ließen die Bäume um sich schlagen. Anfang November schon kamen die ersten Nachtfröste. Das Laub an den Bäumen hatte keine Zeit, seine leuchtende Herbstpracht zu entfalten. Es wurde vom Frost gefressen und auf den Boden ausgespuckt. Eine Jahreszeit wurde übersprungen.

    Man schrieb das Jahr 1892. Es war schon fast Mitte März und üblicherweise würden die Natur und die Menschen mit den Vorbereitungen beginnen, die das Frühjahr im normalen Fall mit sich bringt. Doch in diesem Jahr war es anders. Der Winter wollte nicht weichen und der nachfolgenden Jahreszeit das Zepter übergeben. Die Herbstsaat lag eingefroren im harten Boden und konnte nicht die zarten Triebe an die Oberfläche schieben, und die Frühjahrsaussaat würde erst spät beginnen können. Ein nacktes kaltes Land. Noch waren die wärmenden Behausungen für die Bewohner des Fünfhundertseelendorfes eine Zufluchtsstätte, die man nur ungern verließ. Noch waren die Menschen in schützende Wollschichten gehüllt, wenn sie sich der Außenwelt preisgeben mussten. Sie glichen sich bewegende, fest zusammengehaltene Stoffballen. Nichts verriet von der Ungeduld, die einen landverbundenen Menschen befällt, wenn die Jahreszeit beginnt, die von der notwendigen, die Existenz eines ganzen Jahres sichernden Arbeit geprägt ist.

    Nichts verriet auch das herrschaftliche Haus in seinen Äußerlichkeiten von Ungeduld und Hektik. Majestätisch wie ein Schloss stand es da, die großen hellerleuchteten Fenster, die sich über die ganze Front des Gebäudes erstreckten, zeugten davon, dass die Bewohner zu Hause waren. In seinem Inneren jedoch herrschte emsiges Treiben, ein Kommen und Gehen von Raum zu Raum. Die Atmosphäre glich der eines Bienenschwarms, man hatte keine Zeit zum Verweilen. Unermüdlich konzentrierte man sich auf das Zentrum der hektischen Betriebsamkeit, aus dem in Abständen gequälte Laute nach außen drangen, die in zunehmendem Maße in schmerzerfüllte Schreie anschwellten. Dazwischen beruhigende Worte und Gemurmel, aufmunternd davon kündend, dass das Ende dieser Qual doch schon bald kommen würde. Doch in Wirklichkeit ging niemand, der in dem dolorösen Prozess einbezogen war, davon aus, dass dieses Ende unmittelbar bevorstand. Der Arzt, den man geholt hatte und der auf Grund seiner Kapazitäten die Lage richtig einschätzen konnte, bekräftigte die Unwahrheit der Worte. Er kannte solche Ereignisse wie das, was sich hier abspielte, und wusste daher, dass die gnädige Frau, die Baronin von Wolltersdorff, um die genaue standesgemäße Bezeichnung der »Kranken« zu nennen, noch ein gutes Stück Wegs vor sich hatte, bevor sie das Ende erreichen würde. Und es blieb zu hoffen, dass keine Komplikationen dazukamen. Der bisherige Verlauf ließ solche leider nicht ausschließen. Man machte sich in zunehmendem Maße Sorgen um den körperlichen Zustand der jungen Frau, die ihren Vorrat an Kräften schon vollends verbraucht zu haben schien. Scheinbar apathisch nahm sie das Geschehen um sich herum wahr, wenn die Schmerzen für kurze Zeit in ihrer Intensität nachließen. Doch das war nur eine kurze Atempause, bis wieder ein qualvoller Höhepunkt erreicht war. Ihr matter, energieloser Körper lag in den Kissen, als wenn die Seele schon aus ihm entwichen war. Kalte, feuchte Tücher, mit denen immer wieder das schweißnasse Gesicht gekühlt wurde, sollten Linderung verschaffen und die Lebensgeister wieder anspornen, um noch ein paar Kraftreserven zu mobilisieren. So leicht sollte das Aufwärtsfliehen der Seele nicht hingenommen werden.

    Seit fast zwei Tagen kämpfte die junge Herrin nun schon mit dem Resultat, dessen Ursprung vor nunmehr neun Monaten stattgefunden hatte. Mal mehr, mal weniger. Der Hausherr, der sich während der ganzen Zeit stets in der Nähe des Schlafzimmers seiner Frau aufhielt, erlitt ihre Qualen, als wären es die seinen. Die Worte des Arztes über eventuelle bevorstehende Komplikationen verschlimmerten seine Sorgen und seine Ängste um ein Vielfaches und er war inzwischen in seiner Verfassung soweit, dass er das Leben seines ungeborenen Nachwuchses bereitwillig hergeben würde, als dass er ohne seine Frau in der Zukunft leben könnte. Und so rang er die Hände, gab sich seiner Verzweiflung hin, dass er außer Stande war, seiner Frau in diesen Augenblicken der größten Qualen Trost und Linderung zu verschaffen. Er betete voller Inbrunst, dass der Allmächtige sich seiner Frau erbarme und ihr die Kraft gäbe, dies alles durchzustehen. Um etwas anderes ging es in seinen Gebeten nicht mehr.

    Wieder setzten die qualvollen Schreie aus dem Nebenzimmer ein, als eine Wehe ihrem Höhepunkt entgegenging und der Gebärenden den Zustand vermittelte, ihr Körper würde explosionsartig zerrissen. Wieder beruhigende und aufmunternde Worte danach, die das bevorstehende Ende ankündigten. Doch die Zeit rannte dahin, sie wurde nicht gemessen in Stunden und Minuten, sondern in Qualen, Leid und zerreißenden Schmerzen.

    Dann der Schrei, der das Mark des herrschaftlichen Hauses erschütterte und jegliche Emsigkeit für Sekunden erstarren ließ. Ein Schrei, der in seiner schrillen Gewaltigkeit die Barrieren der Wände und des Fensterglases durchdrang und in die Welt hinaus geschleudert wurde. Und der dennoch ein Zeichen der Erleichterung und Befreiung in sich trug. Ein Schrei, dem ein zaghaftes zitterndes Echo folgte. Und dieses Echo manifestierte sich, nahm an Stärke zu, wurde aufatmend begleitet von entzückten Rufen, von Freude verkündenden Worten. Es war vollbracht. Das Ende war erreicht.

    Fast zur gleichen Zeit und nur zwei Steinwurfweiten entfernt wurde ein zweiter Schrei in dieser Nacht in die eisige Welt getragen. Nicht so schrill und nicht mit einer so entsetzlichen Qual gefüllt, eher gedämpft. Aber ein Schrei, der davon kündete, dass sich eine Frau vor Erleichterung in die Kissen fallen ließ. Und auch dieser Schrei hatte ein zittriges Echo.

    Über Nacht war der Schnee gekommen. Ein warmer weißer Mantel hatte das Land eingehüllt und gab ihm endlich die Möglichkeit, eine winterliche Ruhe einzunehmen, wenngleich die Jahreszeit doch eher die Verabschiedung des Winters und die Ankunft des Frühlings bringen sollte. Die stürmischen Winde hatten nachgelassen und nachdem sie den Himmel vollends blank gefegt hatten, waren sie zum Erliegen gekommen. Sprichwörtlich war ihnen die Puste ausgegangen. Die Sonnenstrahlen, die nun vom ungetrübten blauen Himmel ungehindert ihr Licht auf diese Welt aussenden konnten, gaben dieser ein majestätisch erhabenes Aussehen. Die frischen Schneekristalle funkelten, als wenn glitzernde Perlen über das Land gestreut worden waren, so, als wenn ein Bauer wie vor Jahrhunderten über das Feld ging und die Saat verteilte.

    Es war ein würdevoller Empfang für die beiden Knaben, die in dieser Nacht ihr eigenständiges Dasein auf dieser Erde begannen. Zwei Winterkinder! Sie hatten am Anfang ihres Lebens die Nacht und den Ort gemeinsam, doch waren die Unterschiede unverkennbar, die ihnen bei der Geburt mit in die Wiege gelegt wurden.

    Karl und Johannes, oder der Vollständigkeit halber Karl Friedrich Maximilian von Wolltersdorff, der seine Namensgebung hauptsächlich auf das alte Geschlecht seiner Vorfahren zurückführen konnte, und Johannes Gustav Sandler, bei dem der Ahnenkult weniger eine Rolle bei der Wahl des Namens spielte.

    Beide hatten ihren Ursprung in der Liebe zweier Menschen zueinander, in ihrer physischen Nähe; und dieser menschliche Habitus als Voraussetzung für die Generationenfolge sollte auch schon die dritte und letzte Gemeinsamkeit sein, die die beiden Jungen miteinander verband. Während der eine bei seiner Geburt sogleich eine aristokratische Blaublütigkeit verliehen bekam, hatte der zweite den Umstand hinzunehmen, in eine Familie hineingeboren worden zu sein, die dieser Noblesse untergeordnet war. Dem einen stand schon bei der Geburt eine Welt offen, in der er alle adligen Privilegien jener Zeit genießen konnte, der andere sollte als Teil der großen Gemeinschaft aufwachsen, die die Annehmlichkeiten der Oberen sicherstellte.

    Gebührend dem adligen Status Karl Friedrich Maximilians wurde seine Zukunft in die weiten, hellen Räumlichkeiten eines Herrenhauses eingebettet, genoss er vom ersten Tag seiner Geburt an die Überlegenheit des Reichtums mit all seinen sichtbaren und spürbaren zweckdienlichen Vorzügen. Auf der anderen Seite einfache, niedere Verhältnisse. Das Herrenhaus in seiner souveränen Domäne und die sich davor duckende schlichte katenähnliche Behausung des Untergebenen. Ein Gegensatz, der in seiner Deutung nicht größer sein konnte und der zugleich die Einordnung in einen sozialen Stand auch nach außen sichtbar machte.

    Die Arbeit und das Leben unter der Herrschaft jener von Wolltersdorff waren für die Familie Sandler nicht unerträglich. Im Gegenteil, es herrschte eine Atmosphäre korrekten und gerechten Verhaltens der Herrschaft den Arbeitern und der Dienerschaft gegenüber, aber es lag auch eine Nachdrücklichkeit in den Forderungen, die die Herrschaft an jeden einzelnen Beschäftigten stellte, die Erwartung uneingeschränkter Loyalität der Untergebenen. Die Wirtschaft auf dem Gut war hauptsächlich geprägt von den Arbeiten, die in den Stallungen des Gestüts anfielen, das die von Wolltersdorff in der dritten Generation führte.

    August Sandler war dort als zweiter Stallmeister angestellt. Er hatte sich vom jungen Stallknecht heraufgearbeitet und genoss nun auf dem Hof wegen seiner erworbenen Fähigkeiten und seiner rechtschaffenden und zuverlässigen Eigenschaften Anerkennung und Achtung. Er war ein ruhiger Mann, versah seine Arbeit ohne viele Worte, gewissenhaft und bedingungslos, immer die Zufriedenheit seines Arbeitgebers als wichtigstes Resultat seiner Mühen zum Ziel. Man konnte ihn ohne weiteres als einen gutaussehenden Mann bezeichnen: hochgewachsen, muskulös, aber nicht dick, eine gerade und aufrechte Gestalt, markante maskuline Gesichtszüge, mittendrin ein dicker Schnurrbart, seine dunklen Haare, leicht gewellt, nach hinten gekämmt. Sicherlich hätte sich manch eine Frau glücklich geschätzt, ihn an ihrer Seite zu wissen. Doch seine Seite war schon besetzt. Rike war die Frau, die er schon immer begehrte, nach der er Verlangen hatte und die ihm nun das große Glück eines Sohnes schenkte. Seine Rike war für ihn sein Ein und Alles, auch wenn er nicht viel Aufhebens nach außen davon machte. Doch Rike verstand seine Art der Liebe und erwiderte sie. Für sie brauchte es keiner ungestümen Worte, keiner dramatischen Liebesbezeugungen, um der Zuneigung ihres Mannes gewiss zu sein. August war der Mann, den sie haben wollte und der sie glücklich machte. An seiner Seite war das arbeitsreiche Leben wie ein Paradies auf Erden.

    Rike war wie August bei der Herrschaft angestellt, hatte die körperlich schwere Arbeit in der Waschstube zu verrichten, die man ihr auf Grund ihrer zierlichen Gestalt kaum zuzutrauen mochte. Schon sehr bald würde sie an diese Arbeit zurückkehren, wenn sie das Wochenbett verlassen hatte.

    Nun hatte sie ihr Glück verdoppelt und ihrem August einen Sohn in die Arme legen können. Auch wenn er in dieser Situation wieder mit Worten sparte, konnte sie am Glanz in seinen Augen seine übergroße Freude und seine Liebe sehen. Sie hatten sich beide auf das Kind gefreut, vom ersten Tag ihrer Gewissheit über ihre Schwangerschaft an hatte August in seine Annäherungen zu ihr eine große Sanftheit gelegt, hatte sie oft zärtlich und behutsam in die Arme genommen. Nur sie konnte darin das Zeichen spüren, dass sie zu ihm gehörte. Und schon damals hatte sie gewusst, dass sie bereit war, solche Augenblicke zu wiederholen.

    Und die Sandlers wiederholten. Vier Jahre, nachdem Johannes geboren war, kündigte sich erneut der Zuwachs an. Rike hatte ohne Schwierigkeiten nach Johannes' Geburt ihre Arbeit in der Waschstube verrichten können. Sie konnte den Jungen in ihrer Nähe und somit unter ihrer Aufsicht behalten, während sie sich um das Wohl ihrer Herrschaft kümmerte. In ihrer kleinen Familie gab es keine ältere Generation, die mit der Beaufsichtigung der Enkel betraut werden konnte. Augusts Vater war vor einigen Jahren gestorben, die Mutter lebte seitdem bei Augusts älterem Bruder auf dessen Hof und machte sich hier und da noch in der Wirtschaft nützlich. Rikes Eltern lebten beide noch, doch verhielt es sich ähnlich wie in Augusts Familie: Die beiden Alten hatten den Hof auf den ältesten Sohn überschrieben und waren nun im Begriff, sich aufs Altenteil zurückzuziehen. Doch Johannes war ein ruhiges Kind, quengelte nur leise vor sich hin, wenn er hungrig war, und war sofort wieder zufrieden, wenn Rike in seinem Blickfeld auftauchte und ihm ihre Milch gab. Es war ein herzzerreißendes Glück für sie, in das Gesicht des Jungen zu blicken, das so viel Ähnlichkeit mit ihrem August aufwies. Das Lächeln des Kindes machte ihr Herz überweit. Auch die Ruhe und Genügsamkeit hatte August auf den Jungen übertragen. Rike machte sich keine Gedanken darüber, wie es mit ihrer Arbeit werden würde, wenn Johannes größer wurde und wenn jetzt ein zweites Kind in Aussicht war. Es sind schon andere Kinder auf dem Gut geboren worden und aufgewachsen, sagte sie sich. Also werden es auch August und sie schaffen. Ihrer beider Arbeit hatte weitestgehend einen geregelten Ablauf, so dass sich die unmittelbaren familiären Pflichten gut ordnen ließen, wozu der Haushalt, das wenige Hühnervolk und die Ziege sowie der Garten hinter dem Haus gehörten. Mehr Land brauchten sie nicht zu bearbeiten und mehr Vieh brauchten sie nicht zu halten, da ein Teil ihrer beider Verdienste in Naturalien ausgezahlt wurde. Neben dem Gestüt waren noch einige Stallungen mit Kühen und Schweinen sowie das herumlaufende Federvieh für den Eigenbedarf der Herrschaft und für eben diese Naturalien für die Angestellten in Bewirtschaftung. So hatten sie immer genügend und abwechslungsreiche Nahrung auf ihrem familiären Küchentisch. Jetzt, wo das zweite Kind unterwegs war, würde zwar mehr Arbeit auf sie zukommen, aber die Situation würde durchaus überschaubar sein. Rike war vollends optimistisch und ging ihrer Niederkunft ruhig entgegen. Auch vor der Geburt an sich hatte sie keine Ängste, denn Johannes hatte es ihr vor vier Jahren nicht schwer gemacht. Es war erträglich gewesen und nun, da sie den Jungen jeden Tag vor Augen hatte und sich entzückt an ihm erfreuen konnte, war das Ereignis in seinem Hergang längst vergessen.

    Das jetzt erwartete Kind sollte in der wärmenden Jahreszeit geboren werden und die Natur hatte als Zeitpunkt den auslaufenden Monat Juli für die Geburt festgelegt. Es war dieses Mal ein Mädchen, was Rike zur Welt brachte. Wieder hatte sie wenig Aufhebens um und bei der Niederkunft gemacht. Ihr war es wohl vergönnt, nicht übermäßig leiden zu müssen. Als August das winzige Ebenbild seiner Rike in den Armen hielt, war er überwältigt. Er war mit den Worten seines Vaters aufgewachsen, die ihm beständig und allgegenwärtig eingetrichtert wurden, dass ein Mann nicht zu weinen hat. Doch jetzt und hier, als er seine Tochter sah und die Details seiner Rike bei ihr wiedererkannte, konnte er die Manneshärte nicht aufrecht erhalten und kam sich dabei gar nicht verweichlicht vor. Rike sah die von Tränen schimmernden Augen und wieder einmal war ihr überdeutlich bewusst, dass ihr August der richtigste, der beste und der liebenswürdigste Mann für sie war.

    Die Tochter von August und Friederike Sandler wurde auf den Namen »Minna Frieda« getauft. Doch wie es so oft im Allgemeinen üblich war, wurde der auf dem Taufschein registrierte Vorname im täglichen sprachlichen Umgang miteinander umgewandelt in »Minni«, und aus Johannes wurde schlicht und einfach »Hannes«.

    „Minniiiiii! Pass auf! Die Ziege!"

    Der Kopf des Mädchens fuhr erschrocken hoch und drehte sich dann in die Richtung, in die Hannes beim Laufen wies. Die Ziege hatte sich beim Grasen ein beträchtliches Stück von ihrem ehemaligen Platz entfernt und war nun bedenklich nahe dem Bach gekommen. Minni war so mit ihren Fantasien im Spiel mit der Puppe vertieft gewesen, dass sie die Wirklichkeit um sich herum vergaß. Die Puppe war ein Geschenk ihrer Eltern zu ihrem fünften Geburtstag und seitdem war sie zu ihrem liebsten Spielzeug geworden. Es war nur eine einfache Stoffpuppe mit baumelnden Gliedmaßen und mit Holzwolle ausgestopft, aber sie besaß einen richtigen Kopf aus einer Art feiner Keramikmasse mit einem wunderschönen, zart bemalten Gesicht. Die Lippen leicht geöffnet, so dass man die Ansätze der winzigen, blendend weißen Zähne sehen konnte. Die Augen waren von strahlendem Blau und die Lider mit den Wimpern aus richtigem Haar konnten sich öffnen und schließen. Zudem hatte sie wundervolles goldschimmerndes langes Haar. Wie oft hatte Minni zärtlich darüber gestrichen, hatte es behutsam und entzückt zu Zöpfen geflochten oder das wunderschöne Kleid mit den Rüschen und Falten glatt gezogen?! Minni hatte der Puppe ohne nachdenken zu müssen den Namen »Klara« gegeben und inzwischen eine untrennbare symbiotische Beziehung zu diesem Spielzeug entwickelt. Noch nie hatte sie so etwas Schönes besessen und sie gab den Eltern ihre große kindliche Dankbarkeit dafür. August und Rike waren aufs Tiefste gerührt gewesen, als sie die überwältigende Freude in Minnis Aufschrei beim Anblick dieses Geschenkes hörten: „Oh, Klara!"

    Minni hatte den Ortswechsel der Ziege nicht bemerkt. Jetzt sprang sie auf und lief, so schnell sie auf ihren nackten Füßen konnte, der Stelle zu, an der die Ziege graste. Jetzt im Hochsommer war der Bach nicht sehr tief, führte nur wenig Wasser. Wenn die Schneeschmelze einsetzte oder längere Regenperioden andauerten, kam es oft vor, dass die Wassertiefe um einiges zunahm und auch die Strömungsgeschwindigkeit anstieg. Im Laufe der Zeit hatte der Bach, der sich unweit des Dorfes durch die Landschaft schlängelte, sein Bett stetig in das Erdreich gefräst, so dass sich an beiden Uferseiten Abhänge gebildet hatten. Da stand nun die Ziege, die nicht mit den beiden, auf sie zurasenden Kindern rechnete und aus dem Instinkt heraus die Flucht einschlagen wollte. Nur tat sie es in die falsche Richtung und Hannes und Minni mussten mit ansehen, wie der Ziege ein Ausfallschritt nach hinten zum Verhängnis wurde. Zuerst verschwand der Körper, dann der Kopf der Ziege mit den gebogenen Hörnern aus ihrem Blickfeld und ein Planschgeräusch verriet, dass das Tier die Böschung hinab in den Bach gerutscht war. Da stand die Ziege nun im Wasser, auf Grund ihrer geringen Größe reichte es ihr bis zum Hals. Durch den Selbsterhaltungstrieb verfiel sie in panische Bewegungen, die wiederum dazu führten, dass der Kopf immer wieder unter Wasser geriet. Das von Todesängsten befallene Tier versuchte, an der Böschung Halt zu finden. Doch es rutschte immer wieder ab. Ein selbständiges Befreien aus dieser unglücklichen Lage war dem Tier nicht möglich. Der Ziege war nicht bewusst, dass nur wenige Meter weiter die Böschung durchbrochen war. Es war die Stelle, die die Dorfkinder im Sommer als Zugang zum Wasser beim Baden nutzten.

    Hannes sprang zuerst ins Wasser, Minni hinterher, und beide zogen das Tier bei den Hörnern, um es zum Fortbewegen zu bringen. Es war ein Kraftakt für die Kinder, die völlig verstörte Ziege in die rettende Richtung zu ziehen, zumal das Wasser auch für ihre Körpergröße noch verhältnismäßig tief war. Doch sie schafften es, das Tier wieder auf festen Boden zu bringen.

    Da standen sie nun, die drei Gestalten, triefend nass. Jede auf seine Art mit dem Schrecken umgehend.

    „Komm, wir bringen sie nach Hause", sagte Hannes und nickte mit dem Kopf in Richtung Ziege.

    „Mama wird schimpfen. Ich hab nicht aufgepasst". Weinerlich brachte Minni die Worte heraus.

    „Ach, es wird schon nicht so schlimm werden, wollte Hannes seine Schwester trösten. „Es ist doch gut gegangen.

    Hannes fasste nach Minnis Hand und gab der Ziege einen Klaps auf deren Hinterteil, so dass sie sich mit lautem Gemecker in Bewegung setzte. Minni holte noch ihre Puppe, die im Gras zurückgeblieben war, bevor sich die Dreiergruppe aufmachte.

    Nachdem sie das Tier in den Stall gebracht und dessen Fell mit einem Bündel Heu zumindest zu einem Teil trocken gerieben hatten, gingen sie zum Haus und öffneten leise die Tür. Rike war in der Küche mit den Vorbereitungen des Abendessens beschäftigt und hörte die Kinder kommen. Sie wusste sofort, dass etwas im Busch war. Rike kannte ihre Kinder bis ins Detail und konnte aus jeder Bewegung, aus jedem Wort deren Zustand deuten.

    Als sie sie jetzt so in ihrem jammervollen und nassen Zustand dastehen sah, an den Händen gefasst, Minni die Puppe an die feuchte Kleidung gepresst, konnte sie sich ein inneres Schmunzeln nicht verkneifen. Der Anblick war herzzerreißend und doch so entzückend, dass Rike sie am liebsten in die Arme genommen hätte. Doch in Anbetracht dessen, dass die beiden mit gesenktem Kopf vor ihr standen und ihr damit zeigten, dass sie sich ohne weiteres einer Schuld bewusst waren, griff sie das Schuldbewusstsein der Kinder auf und richtete ihre mahnenden Worte an sie.

    „Was ist passiert, Hannes? Wieso seid ihr so nass?"

    Hannes hob langsam den Kopf und schaute der Mutter in die Augen. „Die Ziege ist ganz plötzlich und ganz schnell davongelaufen. Minni kann nichts dafür! Es ging alles so schnell! Und da ist die Ziege ins Wasser gefallen."

    Rike konnte sich die Situation vorstellen und wusste zugleich, dass das Ende der Beichte nichts Schlimmes enthielt.

    Trotzdem sah sie Minni vorwurfsvoll an. „Du hast nicht aufgepasst, Minni! Und du hast deine Aufgabe nicht ordentlich ausgeführt", sagte sie zu dem Mädchen.

    „Aber Minni konnte wirklich nichts dafür", beharrte Hannes in dem Versuch, seiner Schwester zu helfen.

    „Es ist lobenswert von dir, Hannes, dass du deiner Schwester helfen möchtest, doch das macht es nicht ungeschehen, dass Minni nicht aufgepasst hat, wendete sich Rike an ihren Sohn. „Minni ist groß genug, dass sie solche Arbeiten schon erledigen kann und ich gehe davon aus, dass ich mich darauf verlassen kann.

    „Es kommt nicht wieder vor. Ganz bestimmt nicht", sagte Minni mit leiser Stimme.

    „Ganz bestimmt nicht, bekräftigte Hannes die Worte seiner kleinen Schwester, ahnend, dass das Schlimmste überstanden war. „Ich passe jetzt immer zusammen mit Minni auf.

    Rike hätte am liebsten ihren Sohn an sich gedrückt und zärtlich gestreichelt. Hannes hatte von Anfang an, seit Minni auf der Welt war, die Beschützerrolle über seine Schwester übernommen. Er liebte seine Schwester über alles und war stets darauf bedacht, Schaden von ihr abzuhalten.

    „Zieht eure nassen Sachen aus, das könnt ihr ja wohl alleine. Es gibt gleich Abendessen", sagte sie und strich dann doch den beiden über ihre nassen Haare. Hannes hatte das wellige, braune Haar seines Vaters, während Minni das blonde, dicke Haar von Rike geerbt hatte. Es war meist zu einem Zopf geflochten, der ihr über den schmalen Rücken fiel.

    Hannes und Minni gingen in ihre Kammer. Hier hatten sie ihr gemeinsames Reich, hier schliefen sie und spielten sie. Hier drinnen waren ihre gemeinsamen Geheimnisse, die sie tuschelnd besprachen, hier lebten sie ihre Fantasien in geschwisterlichem Einklang aus.

    „Siehst du, es war nicht so schlimm", sagte Hannes zu seiner Schwester, als er die Tür ihres Zimmers von innen geschlossen hatte.

    Minni war sichtlich erleichtert über den Ausgang der Beichte und ihre Stimme war schon wieder gefestigt, als sie sich an Hannes wandte. „Aber es war ein bisschen gelogen! Ich hatte wirklich nicht richtig aufgepasst. Aber ich musste doch Klara unbedingt noch erzählen, wie wunderschön sie ist."

    Als sich die beiden Kinder der nassen Sachen entledigt hatten, standen sie splitternackt im Zimmer. Es war für sie ganz selbstverständlich, dass sie keine Scham empfanden. Von Anfang an wurden sie so von den Eltern erzogen. Es gab nichts zu Verbergendes zwischen den Geschwistern. Die Dorfjungen riefen manchmal den Mädchen ungebührliche und unanständige Worte hinterher, die erkennen ließen, dass sie die Geschlechtergegensätze kannten und einzuordnen wussten. Doch Hannes beteiligte sich nie an diesen unflätigen Rufen. Seine Schwester war für ihn in ihrer Nacktheit etwas ganz Normales, nichts, was anstößig und schamvoll war.

    In der Küche war zu den Geräuschen, die die Mutter mit ihren Töpfen verursachte, nun auch die brummige Stimme des Vaters zu hören. Er war von seiner Arbeit auf dem Gestüt heimgekommen. Hannes legte das Ohr an die Tür des Kinderzimmers, um zu hören, ob noch Ärger in der Luft schwang. Doch er konnte nichts dergleichen wahrnehmen. Vielmehr hörte er aus den Worten der Eltern eine gewisse Belustigung heraus.

    „Komm, Minni, Papa ist da", sagte Hannes.

    Die beiden Kinder hatten inzwischen trockene Kleidung angezogen.

    Minni raffte ihre nassen Sachen und die ihres Bruders zusammen und ging mit ihm gemeinsam in die Küche. Der Vater saß auf der Bank, wo er immer saß, wenn das Abendessen aufgetischt wurde. Er klopfte die Pfeife, an der er eben noch genüsslich gezogen hatte, im Aschenbecher aus, als er seine Kinder sah, und streckte ihnen die Arme entgegen.

    „Kommt her, ihr Rasselbande! Da seid ihr ja heute noch einmal dem Sensenmann von der Schippe gesprungen! Gut gemacht, Hannes, dass du deine Schwester beschützt hast!"

    Die beiden Kinder liefen auf ihren Vater zu und ließen sich von ihm jeweils auf eine Seite des Schoßes heben. Das waren für die Kinder glückliche Augenblicke, wenn sie ihrem Vater so nahe waren.

    Minni, die immer noch die nassen Sachen in den Händen hielt, schmiegte sich eng an ihren großen und kräftigen Vater. So sah und empfand sie für ihn immer, er war der liebste Mensch neben ihrer Mutter für sie.

    „He, willst du, dass ich auch noch nass werde", sagte August zu seinem Mädchen, das er abgöttisch liebte.

    Doch er machte keine Unterschiede zwischen Hannes und Minni. Beide, jedes für sich auf eine spezielle Art, waren gleichermaßen seine Kinder, die er mit einer übergroßen Liebe versah. Es waren die Kinder seiner Rike.

    Rike nahm dem Mädchen die noch immer tropfenden Kleidungsstücke ab und brachte sie nach draußen, um sie auf der Wäscheleine trocknen zu lassen. Die Luft war noch warm vom Tag und bis morgen wären die Sachen wieder trocken, so dass die Kinder sie noch einmal anziehen konnten. Es gab nicht allzu viel zum Wechseln, die Sachen wurden getragen, gewaschen, getragen … Das war für die Kinder so, aber auch für sie und für August. Sie lebten nicht schlecht, es gab keine Armut in ihrer kleinen Familie, trotzdem bedurfte es des Zusammenhalts des Geldes. Es wurde genau gerechnet und genau überlegt bei den Ausgaben. August empfand eine große Anerkennung seiner Rike gegenüber, die resolut und trotzdem herzlich in ihrem Wirtschaften war. Sie wusste genau und immer zum richtigen Zeitpunkt, wann und womit sie jemand anderen in der Familie erfreuen konnte. Beide, er und Rike, hatten die ungestüme Freude Minnis über ihre Puppe immer noch vor Augen, konnten die Wichtigkeit dieses Geschenkes für das Kind nachempfinden. Und auch Hannes wurde mit Überraschungen zu besonderen Anlässen bedacht und auch bei ihm verstand es Rike immer wieder, eine übergroße Freude bei dem Jungen hervorzurufen. Sie hatte das ungeheure Talent, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu tun. Dafür liebte er seine Rike über alles.

    Der Sommer war in diesem Jahr ungewöhnlich heiß und beständig. Schon das Frühjahr brachte vorzeitig warme Temperaturen und ließ die Knospen der neuen Vegetation bereits Anfang März anschwellen. Hannes hatte keine Schule, es waren Sommerferien. Und in dieser Zeit hatte Minni ihren Bruder ganz für sich. Die Kinder waren unzertrennlich. Bei den kleinen Pflichten, die Rike ihnen übertrug, wie Holz hereinholen, die Beeren von den Sträuchern im Garten zu pflücken oder gar auf die Ziege aufzupassen oder die Eier aus den Nestern der Hühner zu holen, half der eine dem anderen. Sicherlich war ihr Verhalten auch von Eigeninteresse getragen, denn zum Spielen gingen sie immer gemeinsam. Ihre gegenseitige Hilfe war also darauf gerichtet, mit der Arbeit gleichzeitig fertig zu sein.

    Obwohl Hannes und Minni zu allen Kindern des Dorfes gleichsam ein gutes Spielverhältnis hatten, waren doch die Begegnungen mit Karl, dem Sohn der Herrschaft, am bedeutsamsten.

    Karl war ein schmal gewachsener Junge, nicht dünn, eher zart. Und er war ein hübscher Junge, der die Schönheit seiner Mutter geerbt hatte. Die Baronin von Wolltersdorff war eine überaus bemerkenswerte Frau, die nicht nur mit Schönheit bedacht worden war, sondern auch mit Intelligenz und feinsinnigen Empfindungen für die Künste. Oft konnten die Bewohner der dem Herrenhaus am nächsten gelegenen Häuser in den Monaten, wenn auf Grund des warmen Wetters die Fenster geöffnet waren, die Klavierklänge hören, die die Baronin nicht selten in die Außenwelt freiließ.

    Karl hatte auch die künstlerische Seite seiner Mutter mit in die Wiege gelegt bekommen. Wenn er mit Hannes und Minni zusammentraf, war es nicht selten, dass er einen Bogen Papier und einen Bleistift bei sich hatte. In den Spielpausen nahm er oft diese Utensilien zur Hand. Minni fand es wunderschön, mit welcher Leichtigkeit Karl die Bilder entstehen ließ, mit welcher Genauigkeit sie ihre Umgebung auf dem Papier wiedererkannte. Das war etwas, was sie nicht fertigbringen konnte, und sie sah in Karl jemanden, den sie ob dieser besonderen Gabe bewunderte.

    Karl war immer beim Spiel dabei. Wenngleich er eher ein zurückhaltender Junge war, nicht egozentrisch veranlagt, stellte er sich nicht abseits und brachte seinen Anteil an den Fantasien der Kinder ein, wenn sie im Spiel einen Ritter oder einen Gendarmen nachahmten, wenn im Gewässer des Baches die großen Schiffe die Weltmeere kreuzten oder wenn das Böse vom Guten besiegt wurde. Karl war einer von ihnen, er gehörte dazu. Und die Standesunterschiede, die zwischen den Kindern herrschten, waren nicht da. Zumindest im Spiel waren sie vergessen. Unwichtig.

    Minni ließ sich neben Karl fallen. Sie war gerade aus dem Wasser gestiegen und ihre dichten goldblonden Haare trieften noch nach dem Baden. Sie beugte sich zu Karl herüber.

    „Was malst du", fragte sie.

    „Das, was ich sehe, erwiderte Karl. „Dort sind die Bäume, da der Bach, da die beiden Kölker, dort die Häuser des Dorfes und da, wo ich alles ganz klein gemalt habe, ist der Horizont.

    „Warum malst du nicht das Schloss, wo du wohnst? Es gehört doch auch auf das Bild", fragte Minni.

    „Das ist nicht so wichtig hierbei. Ich sehe von hier aus nur das, was ich gezeichnet habe und da ist kein Schloss dabei", erklärte Karl.

    „Warum heißt es eigentlich Schloss? Es hat doch gar keine Türme wie bei einem richtigen Schloss", fragte jetzt Minni.

    „Es ist auch gar kein richtiges Schloss, beantwortete Karl die Frage. „Es ist eigentlich ein ganz normales Haus, bloß etwas größer als die anderen.

    „Weil dort mehr Menschen wohnen. Die ganzen Diener und Mägde und die Köche, die dort arbeiten. Und weil dort deine Schule ist, fügte Minni wissend hinzu. „Warum gehst du denn nicht in die Dorfschule, wie die anderen auch? Hast du keine Lust oder hast du Angst, dass du dich ansteckst, wenn Berthold oder ein anderer mal wieder Husten oder Schnupfen hat, war die nächste Frage, die Minni wichtig war.

    „Meine Eltern sagen, dass es in unserer Familie immer schon so war, dass der Lehrer nach Hause kam. Ich finde es auch nicht gut, dass es so ist. Ich würde lieber zu Euch in die Dorfschule kommen", erwiderte Karl aus ehrlichem Herzen heraus.

    Weiter wurde das Zwiegespräch nicht fortgesetzt, denn jetzt kamen auch die anderen Dorfkinder aus dem Wasser und stürmten der angrenzenden Wiese zu, wo Karl und Minni schon saßen.

    „Wollen wir zu den Kölkern gehen", fragte einer der Jungen.

    Die Kölker waren zwei große nebeneinander liegende natürliche Wasserlöcher. Sie waren tiefer als der fließende Bach. Man konnte auch in ihnen baden, jedoch waren sie dazu nur für diejenigen geeignet, die im Schwimmen schon sicher waren. Um die Kölker herum standen Bäume, von deren Ästen sich die Größeren ins Wasser fallen ließen. Das war immer ein Heidenspaß.

    Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung und so rannten die, die in die Kölker springen wollten und die, die am Rand stehen bleiben mussten, weil sie nicht schwimmen konnten, los. Karl legte seine unfertige Zeichnung ins Gras und legte den Stift und einen kleinen Stein, den er eigens dafür immer in seiner Hosentasche hatte, auf das Blatt Papier, damit es nicht fortgeweht werden konnte.

    Als sie an den Kölkern ankamen, waren die ersten schon auf den Bäumen und ließen sich mit lautem Gebrüll ins Wasser fallen. Sie hielten sich dabei die Nase zu und zogen die Beine an, so dass sie mit ihrem Hinterteil zuerst auf der Wasseroberfläche auftrafen. Minni und Karl blieben am Rand stehen. Hannes jedoch gehörte zu den Waghalsigen, die ins Wasser sprangen.

    „Soll ich einen Kopfsprung machen", fragte Wilhelm, einer der größeren Jungen. Er war der Sohn des Bäckers im Dorf und roch auf Grund seiner Herkunft oft nach frisch gebackenem Brot. Seine Nähe war jedermann angenehm.

    „Nein, lass es sein, da unten liegt oft altes Zeug, was weggeschmissen wurde", sagte Berthold.

    „Ich würde es auch nicht tun, bekräftigte Hannes die Bedenken. „Es könnten auch Steine und dicke Wurzeln von den Bäumen dort liegen.

    „Ach was, das ist doch bloß Mädchenangst, rief Franz, der schon zu den größeren Jungs gehörte. Er wandte sich an Wilhelm: „Wenn du gesprungen bist, dann springe ich als zweiter.

    Wilhelm zauderte nun doch ein wenig. Es schien so, als wenn ihn der Mut verlassen hätte. Doch er wollte sich nicht vor allen die Blöße eines Angsthasen geben und sich dem Spott seiner Kameraden in der Zukunft aussetzen. Langsam, ungewöhnlich langsam, kletterte er von Ast zu Ast hangelnd den Baum hinauf und blieb dann auf einem besonders dicken Ast hocken. Dieser war nicht so ausladend wie die anderen, von denen sie sonst ins Wasser gesprungen sind. Jetzt würde er näher am Ufer auf dem Wasser aufkommen. Von diesem Standort aus hatte er seine Tollkühnheit schon bereut. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Wilhelm beugte sich vor und streckte die Arme über den Kopf in die Höhe. Die Kinder unter ihm hielten den Atem an und starrten voller Erwarten nach oben.

    „Nun mach' schon, ich will auch dran sein", rief Franz dem in Absprunghaltung hockenden Wilhelm zu.

    Und Wilhelm sprang. Längst nicht mehr aus Überzeugung von seinem Mut, sondern, um sein Ansehen unter den Kindern zu bewahren. Nichts war schlimmer, als mit einem Spottspruch bedacht zu werden.

    Die Kinder starrten auf die Stelle, wo eben noch Wilhelm ins Wasser geglitten war. Sie raunten sich anerkennende Worte zu, einige grölten ihre Anerkennung lauthals heraus. Und alle warteten darauf, dass Wilhelm wieder auftauchte. Doch Wilhelm blieb unter der Wasseroberfläche. Die Sekunden vergingen und es zeigte sich nicht der blonde Schopf des Jungen. Die Kinder waren entsetzt. Panik machte sich breit.

    „Du musst auch springen und ihn rausholen", rief jemand und meinte damit Franz.

    „Ich bin doch nicht verrückt", reagierte der daraufhin.

    „Du hast gesagt, dass du auch springen wirst", sagte nun Hannes.

    „Ja, das hast du gesagt", kam es nun aus vielen Mündern.

    „Ich springe aber nicht! Ich bin doch nicht blöd! Wer weiß, was da unten ist!", rief Franz und hob dabei abwehrend die Hände.

    „Du bist feige, riefen einige. „Ja, du bist feige!

    Keiner von den Kindern bemerkte, dass sich Karl sein Hemd und seine Hose auszog. Erst, als dieser sich vom Ufer aus ins Wasser ließ und auf die Stelle zuschwamm, an der Wilhelm verschwunden war, bekam er die Blicke der Kinder auf sich gerichtet.

    „Sei vorsichtig, Karl", rief Minni ihm zu.

    „Ja, pass auf", unterstützte Hannes die Besorgnis seiner Schwester.

    Karl tauchte unter. In dem trüben Wasser war nichts zu erkennen. Er durchpflügte mit den Händen das Wasser, konnte aber nichts ertasten. Er tauchte wieder auf, um Luft zu holen und gleich darauf wieder zu verschwinden. Dann ließ er sich tiefer hinab und streckte die Arme dem Grund entgegen. Da spürte er etwas Hartes an den Fingerspitzen und tastete darauf entlang. Es war ein großer Feldstein, den die Bauern beim Pflügen der Felder hier entsorgt hatten. Da er wegen seines Gewichts nur schwer zu bewegen war, war er nur vom Ufer herab ins Wasser geplumpst.

    Karl tastete sich seitwärts weiter vor und stieß bald auf etwas menschlich Weiches. Er musste noch einmal auftauchen, um Luft einzuatmen.

    „Ich habe ihn, rief er den Umstehenden zu. Einige klatschten in die Hände, einige riefen ihm erleichtert und freudig zu: „Hol ihn hoch, Karl!

    Karl holte tief Luft und ließ sich wieder in die Tiefe sinken. Er packte irgendwo an Wilhelms Körper zu und zerrte ihn an die Oberfläche. Zwei größere Jungen waren nun auch ins Wasser gesprungen und kamen Karl zu Hilfe. Andere standen am Uferrand und ergriffen Wilhelms Arme, so dass er auf festen Boden gezogen werden konnte. Das Ganze hatte nur wenige Augenblicke gedauert.

    Aus einer Wunde an Wilhelms Kopf trat Blut hervor. Er rührte sich nicht und die Kinder bekamen es mit der Angst zu tun, dass er tot wäre. Sie konnten die Situation in ihrem Gehirn nicht festmachen, zu surreal erschien sie ihnen. Gerade eben noch hatte Wilhelm dort oben auf dem Baum gehockt.

    „Was ist mit ihm?", fragte Minni. In ihrer Stimme lag die blanke Angst.

    Keines der Kinder konnte diese Frage beantworten. Wie auch. Alle starrten nur auf den leblosen Körper, der vor ihnen im Gras lag.

    Die Antwort gab Wilhelm selbst, indem er heftig zu husten begann, wobei er das Wasser wieder ausspuckte, das er bei seinem Tauchgang unfreiwillig geschluckt hatte. Dann stöhnte er laut und schlug die Augen auf. Eine Welle der Erleichterung erfasste die Kinderschar, einige von ihnen begannen freudig auf Wilhelm einzureden.

    „Mensch, Wilhelm, das war prima! Den Sprung kann keiner sonst!"

    Eines der Kinder war während der Rettungsaktion, so schnell es seine bloßen Füße vorwärtsbrachten, ins Dorf gelaufen und hatte Wilhelms Eltern benachrichtigt. Es stürzte in den Bäckerladen und rief völlig außer Puste: „Der Wilhelm … Der kommt nicht wieder hoch … im Kolk … Er ist mit dem Kopf zuerst vom Baum gesprungen …!"

    Wilhelms Eltern ließen alles stehen und liegen, was sie gerade taten oder in den Händen hielten. Nun kam Wilhelms Vater in seiner Bäckerkleidung über die Wiese gerannt, die Mutter im Schlepptau. Seine mehlbestaubten Haare sahen aus wie altersgrau. Sie sahen die Kinder im Kreis stehen, in dessen Mitte ein Körper lag.

    „Oh nein, Wilhelm!", schrie die Mutter von weitem.

    Die Kinder öffneten automatisch den Kreis, indem die vordersten zur Seite traten, als der Schrei bei ihnen angekommen war. Der Vater, der zuerst am Ort des Geschehens eintraf, erfasste schnell die entwarnte Situation, die sich sofort in seine Reaktionen legte. Während er im Laufen noch voller Panik und Verzweiflung war und mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, kam jetzt die Erleichterung zum Vorschein. Er kniete sich zu seinem Sohn nieder und sagte, doch noch mit zittriger Stimme, zu ihm: „Mensch, Junge, was machste denn für Sachen?"

    Inzwischen sackte auch die Mutter neben Wilhelm ins Gras. Sie nahm den Kopf des Jungen in ihre Hände und begann zu weinen. Ein aufatmendes Weinen. Doch urplötzlich hörte das Weinen auf und eine Tirade vorwurfsvoller und schimpfender Worte hagelte auf Wilhelm ein.

    „Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Was hast du dir denn dabei gedacht? Oder hast du gar nicht gedacht? Hast deinen Verstand abgeschaltet?". Fast schrie sie die Worte heraus. Eben noch hatte Wilhelm sich unter der fürsorglichen und ängstlichen Obhut seiner Eltern gewähnt, jetzt zuckte er schlagartig zusammen unter den harten Worten der Mutter, die nur auf diese Weise ihrer Erleichterung Luft machen konnte.

    „Wenn ich dich noch einmal an den Kölkern sehe, dann gnade dir Gott! Und halb auch an die umstehenden Kinder gewandt: „Ihr wisst doch gar nicht, was da alles drin ist!

    Wilhelm stand schon wieder auf den Beinen, die Wunde am Kopf war von keiner weitreichenden Bedeutung; sie sah schlimmer aus, als sie war. Nun stand er im Mittelpunkt des Geschehens, jetzt genoss er die Bewunderung seiner Kameraden, lobte sich selbst und konstruierte seinen Sprung bis in die kleinsten Einzelheiten nach. Nicht ohne das Erlebte unter Wasser eine besonders gefährliche Note zu geben.

    „Geht jetzt nach Hause, Kinder! Und du …, die Mutter wandte sich direkt an ihren Sohn, „… sieh' zu, dass du das gleiche machst!

    Karl stand etwas abseits des Geschehens und hatte inzwischen sein Hemd und seine Hose wieder angezogen. Keiner hatte den Retter beachtet, alle hatten sich nur um das Opfer geschart.

    Als sich die Gruppe der Kinder allmählich auflöste, blieben nur Minni und Hannes bei Karl zurück.

    „Das war wirklich mutig von dir", sagte Hannes.

    „Find' ich auch, fügte Minni hinzu. „War es da unten ganz dunkel?

    „Hm, war es", erwiderte Karl. Mehr gab es von seiner Seite aus nicht zu sagen.

    „Der Bäcker hätte dir schon danken können, sagte Hannes. „Ohne dich wäre Wilhelm jetzt tot.

    „Ja, genau, pflichtete Minni bei, „ohne dich hätte der Bäcker jetzt ein Grab bestellen müssen.

    Karl bekam seine Anerkennung doch noch. Der Bäcker sprach gemeinsam mit seiner Frau am nächsten Tag bei der Baronin von Wolltersdorff vor und erzählte ihr von dem tragischen Zwischenfall bei den Kölkern, um ihr danach für die geistesgegenwärtige Tat ihres Sohnes zu danken. Die Baronin erfuhr hier zum ersten Mal von diesem Ereignis und war sichtlich gerührt. Später nahm sie ihren Sohn beiseite und schloss ihn in ihre Arme. „Ich bin stolz auf dich, sage sie. „Du warst sehr mutig und hast gezeigt, dass du bereit bist, anderen zu helfen.

    August und Rike hatten auch in diesem Sommer ein paar Morgen Land, auf dem Rüben ausgesät waren, von einem Großbauern aus einem der Nachbardörfer zur Pflege übernommen. Jedes Jahr verdienten sie sich mit dieser Arbeit ein paar Mark hinzu, die sie für besondere Anschaffungen ausgeben oder sparen konnten. Sie hackten Unkraut und lichteten die Rübenreihen, so dass immer nur eine Pflanze stehenblieb. Jetzt war die Zeit, wo die Feinarbeit begann, die Kontrolle, dass auch tatsächlich nur eine Rübe einzeln stand, damit sie beim Wachsen nicht behindert wurde und einen vollen Ertrag bringen konnte.

    August und Rike hatten ihre Kinder nie zu schweren Arbeiten herangezogen, sondern ihnen immer nur leichte Aufgaben gestellt. Doch sie waren beide der Meinung, dass sie mit dem Sinn nach Verantwortung und Pflichterfüllung aufwachsen sollen. So haben die Kinder ihre Zuständigkeiten übertragen bekommen. Hannes war für das Hereinholen des Brennholzes verantwortlich, dass Rike in der Küche benötigte. Minni erhielt die Aufgabe, in den Monaten, in denen die Natur ihre Blütenpracht entfaltete, dafür zu sorgen, dass in der Küche immer ein paar Blumen auf dem Tisch oder auf der Fensterbank standen. Beide Kinder waren im Wechsel dafür verantwortlich, dass die Ziege beaufsichtigt wurde, die Hühner ihre Körner bekamen und die Eier aus den Nestern geholt wurden.

    In der Zeit, in der August und Rike das Rübenfeld zu bearbeiten hatten, waren die Kinder auch hier dabei. Natürlich brauchten sie nicht mit der schweren Hacke durch die Rübenreihen zu gehen oder auf Knien die Pflanzen zu verziehen, doch sie bekamen die Aufgabe, vorauszugehen und sich auch zu bücken, um die Rübenpflanzen zu lichten, wenn es notwendig war, während August und Rike nach ihnen die Feinarbeit übernahmen. Ihnen war es wichtig, dass die Kinder von der Schwere der Arbeit erfuhren, ohne von ihr erdrückt und zerstört zu werden. Sie wollten, dass die Kinder ein Verantwortungsgefühl für alle und alles entwickeln, was ihr Umfeld ausmachte. Als sie noch ganz klein waren, spielten sie am Ackerrain, während August und Rike die schier endlosen Rübenreihen bearbeiteten. Jetzt, so waren August und Rike der Meinung, gehörten sie zu ihnen zwischen den Rübenfurchen. Natürlich nicht über die ganze Zeit, die für diese Arbeit am Tage vorgesehen war. Die Kinder sollten genügend Raum zum Spielen mit den anderen Kindern aus dem Dorf haben. Aus eigener Erfahrung wussten August und Rike nur zu gut, dass der Ernst des Lebens früh begann und lange dauern konnte.

    An diesem Tag erzählten Hannes und Minni eifrig vom gestrigen Ereignis an den Kölkern, während sie den Eltern in den Rübenreihen vorausgingen, und spielten dabei die Dramatik noch ein bisschen höher, als sie in Wirklichkeit war.

    „Der Wilhelm wäre jetzt tot. Ohne Karl wäre

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