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Sobald ich »ich« sage, ist mir nicht mehr zu trauen
Sobald ich »ich« sage, ist mir nicht mehr zu trauen
Sobald ich »ich« sage, ist mir nicht mehr zu trauen
eBook180 Seiten2 Stunden

Sobald ich »ich« sage, ist mir nicht mehr zu trauen

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Über dieses E-Book

Die jenische Schriftstellerin Jana denkt über ihren wenig erfolgreichen politischen Aktivismus nach und über die (Un-)Sichtbarkeit der Jenischen. Eine anstrengende Freundin taucht plötzlich und zu den unpassendsten Gelegenheiten auf – und unpassend ist es für Eva eigentlich immer. Die geltungssüchtige Mutter Thea, die den theatralischen Auftritt liebt, sabotiert gekonnt das weihnachtliche Familienfest. Alwine flüchtet vor ihrer missratenen Tochter, die mit Fußfessel ihr Haus okkupiert hat, und quartiert sich trotz der winterlichen Kälte im Wohnwagen am Fluss ein.
Simone Schönett blickt in ihren zehn Erzählungen in die feinen Zwischenräume der menschlichen Abgründe. Souverän seziert sie festgefahrene Beziehungen, lässt lustvoll Kartenhäuser zusammenfallen und treibt ihre Figuren aus der Komfortzone.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Atelier
Erscheinungsdatum5. Sept. 2022
ISBN9783990650868
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    Buchvorschau

    Sobald ich »ich« sage, ist mir nicht mehr zu trauen - Simone Schönett

    ABSTAND

    Soeben habe ich das Geschenk von Britt, einen Brief, den sie mir feierlich überreicht hat, geöffnet. In ihrer steil-klaren Handschrift, auf handgeschöpftem Papier, offeriert sie mir: eine gemeinsame Zugfahrt nach Triest, eine Übernachtung sowie, das eigentliche Präsent, Karten für ein Konzert von Patti Smith Ende November. Wenn ich wolle; sie wisse ja um mein Problem mit fixen Terminen, deswegen fühle sie in dieser Form einmal vor.

    »Na, Teresa«, fragt sie, »was meinst du dazu?«

    Patti Smith, die Punkpoetin, habe ich immer schon live erleben wollen, und dann noch in Triest. »Besser kann es doch nicht gehen.«

    Britt sagt, sie würde heute Nacht noch die Konzertkarten kaufen und die Fahrt organisieren und nach günstigen Hotels Ausschau halten. Doch hier, im verrauchten und für ihr Empfinden völlig überheizten Atelier, auf dieser feuchtfröhlichen Party, die ich zu meinem fünfzigsten Geburtstag schmeiße, würde sie bestimmt nicht lange bleiben.

    »Das ist meine Freundin Britt, sie ist Vogel-Fotografin.«

    Mit diesem Satz stelle ich ihr ungefähr jeden Mann auf dem Fest vor.

    Britt ärgert sich darüber, denn sie ist eben keine Vogel-Fotografin, sondern eine auf Ornithologie spezialisierte Fotografin. Das stellt sie auch gleich klar. Damit ruft sie die immer gleiche Reaktion hervor: Sie sei also keine Vogel-Fotografin, aber eine Fotografin von Vögeln.

    »Haha, wie wenig originell«, meint sie.

    Gleich nach der Vorführung des Rohschnitts meines neuen Kurzfilms – über Frauen und Spiegel – verabschiedet sie sich: »Mich nervt das immer sexuell Konnotierte, auch in deinen Arbeiten. Außerdem, ich halte so viele Menschen einfach nicht mehr aus.«

    »Zu viel Rückzug ins Schneckenhaus«, finde ich, »das führt zur Vereinsamung.«

    Allein, nicht einsam; wie oft hat Britt mir diesen Unterschied – erfolglos – erklärt?

    »Mein Alleinsein ist ein selbst gewählter Zustand, eine Art Lebensmodell, eines, für das in Südkorea ein wunderbarer Ausdruck existiert. Honjok, was übersetzt Ein-Personen-Stamm bedeutet.«

    Ein Stamm, der nur aus einem Menschen allein bestehen soll? Mir leuchtet das nicht ein.

    Britt und ich sind seit dreißig Jahren befreundet. Doch zu gemeinsamen Reisen oder gar Urlauben ist es nie gekommen. Denn Britt will immer alles ganz genau planen. Wenn der Plan über den Haufen geworfen wird, was unterwegs durchaus geschehen kann, muss sie jede noch so kleine mögliche Ursache, jeden eventuellen Fehler beleuchten, bereden, ausdiskutieren, und das bis ins kleinste Detail.

    Aber so ist Britt eben; eine, die allem auf den Grund gehen muss. Sie kann nicht anders.

    »Zusammen weggefahren sind wir eigentlich immer nur auf Konzerte«, sage ich zu Paul, meinem Mann. Wir liegen schon im Bett, es ist spät geworden an diesem Abend, es ist die Nacht vor der Triest-Fahrt.

    »Und wenn ich mich nicht irre, sind diese gemeinsamen Ausflüge alle schlecht ausgegangen.«

    Paul kennt Britt auch schon seit den gemeinsamen Studientagen, also wahrlich lange genug. Und genau deshalb fragt er mich, ob ich morgen wirklich fahren oder es mir noch anders überlegen werde.

    »Fürchtest du dich gar nicht?«

    Gerade vorhin habe ich Britt, die mich am Telefon mit »Na, du fröhliche Chaotin« begrüßt hat, versprochen, morgen pünktlich zehn Minuten vor Abfahrt des Zugs am Bahnsteig zu sein, habe ihr mein Wort gegeben und gehört: »Na gut. Dein Wort in Gottes Ohr, Teresa!«

    Mein Wort, im Ohr meines Gottes, an den sie aber so was von nicht glaubt.

    »Es ist doch ein Kurztrip, nur die paar Stündchen im Zug, und bloß eine Nacht. Ich sehe keinen Grund, mich zu fürchten.«

    Paul erinnert mich an das Konzert dieses Sängers, vorigen Sommer am Lago di Fusine mit Britt und Yoko, ihrer Tochter: »Das war sogar nur ein Tag.«

    »Ein halber.«

    Der ihm aber völlig genügt habe.

    Beim Frühstückskaffee zeige ich Paul, wonach ich in der Nacht lange gesucht habe, ein Foto, von früher, ungefähr zu der Zeit aufgenommen, als wir uns kennenlernten; in meinem ersten Semester an der Akademie, da war Britt bereits Mutter.

    »Wir mit der kleinen Yoko auf dem alten Römerweg, als wir zur Quelle spazierten. Das Bild hat Britt mit Selbstauslöser gemacht, was früher noch recht kompliziert war. Ich, damals ein sonnengebräuntes Mädchen mit noch dunklem Haar – und noch nicht aus dem Leim gegangen. Und Britt mit ihrem Kelten-Afro, dem immer noch hellen Drahthaar, diesen herrlichen Locken, und blass und dünn wie heute noch.«

    Es ist kalt, nebelig, wie seit Wochen, mir bleiben noch fünf Minuten bis zur Abfahrt des Zugs. Ich bin zwar schon am Bahnhof, aber gerade erst dabei, aus dem Auto zu steigen, mich von Paul zu verabschieden.

    Britt wird mit meiner Verspätung sicher rechnen, sie kennt ja mein, wie sie es nennt, sprunghaftes Wesen. Das Unbekümmerte, Oberflächliche, Ungenaue, Ziellose. Alles, was sie zunehmend stört. Wie mein Erfolg; Britts Kommentar zu meiner letzten Auszeichnung war: Dass man es als Kunstfilmerin mit so wenig Perfektion auch schaffen kann.

    Ich bin etwas außer Atem, als ich Britt umarme. Und mir dann doch noch schnell eine Zigarette anstecke. Und so hastig rauche, dass Britt meint, sie sei froh, damit endlich aufgehört zu haben.

    Als der Zug ruckartig anfährt, fällt mir mein Reisepass ein. Während ich danach suche, meint sie, ich sei noch immer so chaotisch und planlos wie früher, unterwegs auf einem Weg, von dem ich nie wisse, wohin genau er mich bringen werde. Und als ich das Reisedokument endlich in einem der vielen Fächer meiner vollgestopften Handtasche finde, kommentiert sie das mit: Ihr sei schleierhaft, dass ich es trotzdem immer an mein Ziel schaffe.

    Es geht immer irgendwie, sage ich.

    Aber genau die Art von schlampigem Sein kann sie gar nicht nachvollziehen.

    Am grauen, kalten, hässlichen Bahnhof Tarvisio Boscoverde sind wir uns dann aber einig im Ärger über die Carabinieri am Bahnsteig, die nur die Papiere dunkelhäutiger Leute kontrollieren, genau wie die Uniformierten, die durch den Zug marschieren und uns keines Blickes würdigen. Wegen der österreichischen Pässe in unseren Händen? Oder weil wir fast schon alte Schachteln sind? Wir tippen auf beides.

    Wie sich beim Weiterfahren zeigt, liegt das Kanaltal unter einer dichten Nebeldecke.

    Es ist Winter, der 25. November 2019, und Britt zeigt mir gerade, dass sie Badesachen dabeihat. Sie wird heute ganz gewiss noch im Meer schwimmen, das hat sie sich fest vorgenommen. Egal, welches Wetter uns in Triest erwartet.

    »Bei dem Nebel, in der versifften Adria? Ganz ehrlich, Britt, du spinnst doch!«

    »Dann spinne ich eben. Aber du wirst schon sehen!«

    Um ihr beleidigtes Schweigen zu brechen, bringe ich Britts Lieblings-Hassthema ins Spiel, ihr aktuelles Projekt, ein aufwendiges, langwieriges Buchvorhaben über heimische Vogelarten, das Britt an den Rand der Verzweiflung treibt, weil sich die Pläne der Autoren ständig ändern, sie aber gerne alles akribisch plant. Und weil leider niemand so perfekt sein kann oder will, wie sie es ist, macht das Zusammenarbeiten Probleme. Wobei sie, wie ich meine, gerne übersieht, dass sie in ihrem Perfektionsdrang oft erst Probleme schafft, die ohne all ihre komplizierten Sinnfragen vielleicht gar nicht auftauchen würden. Aber so ist sie nun einmal, kompliziert, manchmal anstrengend, aber liebenswert.

    Britts empörter Monolog endet erst, als die Berge längst hinter uns liegen und wir eine Art Wunder erleben: die völlige Auflösung des Nebels.

    Drei Wochen lang hat er uns ständig begleitet. Jetzt haben wir endlich wieder einmal die Sonne im Gesicht. Wie schön.

    Dazu den Tagliamento im Sichtfeld, mit dem für mich als Kind immer schon das Meer begonnen hat.

    »Man nennt ihn auch König der Alpenflüsse. Weil er der letzte mit ursprünglichen Kiesbankstrukturen ist. Voller Flussbankbrüter. Dort findest du Brutvögel, die weltweit gefährdet sind, wie Ziegenmelker, Brachpieper, Zwergdommeln, Eisvögel. Und dann noch die ganz seltenen Neuntöter, und Schwarzvögel sowieso.«

    Bald unterhalten wir uns über die Kinder, bald über aktuelle Projekte; wir haben uns im vergangenen Jahr kaum und zuletzt zu meinem Geburtstag gesehen, auch selten telefoniert, aber mühelos und vergnügt finden wir von einem Thema zum anderen, um dann zu einem gemütlichen Schweigen zu finden, das zu der Landschaft passt, an der wir vorbeiziehen.

    Landschaften als Motiv interessieren mich in meiner Arbeit nicht, doch jetzt ist mein Blick gierig nach der Weite, dem so anderen Licht. Die brachliegenden Felder, Häuser, Fabriken werden registriert, während Britts Aufmerksamkeitsfokus schon berufsbedingt immer etwas höher liegt.

    Das lange nicht mehr vernommene Italienische am Bahnhof von Udine, das laute Stimmengewirr, der hektische Trubel, in dem Britt die Fahrscheine nach Triest und retour, domani, kauft. Voller Hast, ohne Kaffee und ohne Zigarette – beides hätte ich gerne gehabt – geht es jetzt gleich weiter zum Bahnsteig. Und nun hinein in einen echten Bummelzug.

    Es ist eine bezaubernde Strecke, vorbei an kleinen alten Dörfern, in Richtung der Weinberge des Collio. Diese Ausblicke lassen die Zeit bis Görz im Nu vergehen. Der wolkenlose Himmel. Die gemächliche Fahrt.

    Und jetzt, der erste Blick auf die Adria, wie sie da unten funkelt und glitzert.

    »So ein feines Geschenk, ich dank’ dir, Britt.«

    »Das eigentliche Geschenk kommt ja erst am Abend.«

    »Aber ich genieße es schon jetzt.«

    Es ist Ende November, aber wir erleben die Hitze eines Sommertags, als wir gegen halb zwei den Triestiner Bahnhof verlassen.

    Das Meer stinkt hier am Hafen. Dennoch wird Britt heute schwimmen gehen. Natürlich nicht hier, sondern ganz weit draußen. Da kennt sie eine Stelle. Womöglich gehe ich mit ihr hinein, aber davor brauche ich einen Kaffee, einen Nero, dringend.

    Weil wir uns gerade auf Höhe der Piazza befinden und die Tische vor dem Caffè degli Specchi in bester Sonnenlage stehen, will ich jetzt dorthin.

    »Ins teuerste Lokal? Typisch Teresa!«

    »Egal, ich lade dich ein.«

    Bei dem einen Kaffee bleibt es dann nicht, in der Sonne, an diesem Fast-Sommertag im November bestelle ich einen Aperol Sprizz und Britt ein Glas Weißwein. Die dazu servierten Minitramezzini, Oliven, Mandeln, Patatine schmecken herrlich. Britt findet alles viel zu ölig, das vertrage sie schlecht. Aber gegen ein zweites Glas hat sie nichts einzuwenden. Wir genießen die Sonne. Sind unbeschwert. Und noch ein Drink. Und noch einer, bis Britt bemerkt, dass sie schon lange nicht mehr so gelacht hat; mit Tränen, bis hin zum Bauchweh. Aber das komme sicher von diesen fetten Snacks.

    Als ich die Rechnung begleiche, stelle ich fest, dass es kühl geworden ist. Selbst Britt findet, dass es jetzt zu spät zum Schwimmen sei; bedauerlich, aber nicht so schlimm, sie werde das morgen machen, allerdings sei es zu früh, um in unserem Quartier, bei einer Freundin ihrer Mutter, aufzukreuzen.

    Deshalb spazieren wir herum, begutachten ein paar Auslagen, aber weder in Schuhfragen noch in Sachen Mode kommen wir auf einen grünen Zweig.

    Ich liebe ausgefallene Modelle, mit denen man höchstens dekorativ herumstehen kann, während Britt festes Schuhwerk, bequem, wasserfest und atmungsaktiv bevorzugt.

    Während ich stets Kleider trage, steckt Britt meistens in Cargohosen, die sind einfach praktisch. So wie ihr Parka samt Kapuze, den sie jetzt anzieht, wegen des Windes, der aufkommt und klarmacht, dass es Winter und nicht mehr Sommer ist. Und dass es bald dämmrig sein wird.

    »Wenn du die Fotos noch machen willst, müssen wir uns beeilen.«

    »Das will ich unbedingt. Ich mit James Joyce, das muss sein.«

    Raschen Schrittes geht es zum Canal Grande, zu der hässlichen lebensgroßen Bronzestatue auf der Brücke, wo ich mit dem Schriftsteller albern posiere und erst stillhalte, als Britt schimpft, weil das Licht doch immer schlechter werde.

    Als wir endlich vor der gesuchten Adresse stehen und Britts Finger suchend die Namensschilder entlangfährt, finde ich es plötzlich unhöflich, die alte Dame, die Freundin ihrer Mutter, ganz ohne Blumen zu überfallen.

    Sie sei ja vorgewarnt, meint Britt, klingelt, und nach dem Öffnen der Tür und einer Stimme, die sagt: »Dritter Stock«, stellt sie fest: Blumen können wir ihr ja morgen auch noch bringen.

    »Trotzdem, ein Hotel wäre mir lieber gewesen.«

    Sie habe Lotte ja auch nur wegen eines günstigen Hotels fragen wollen, aber die habe darauf bestanden, sie zu beherbergen. Das sei doch ganz normal.

    Sicher, ich würde Yoko samt Freundin auch immer aufnehmen.

    Britt würde meinen heute erst elfjährigen Sohn samt Begleitung später auch stets beherbergen.

    Lotte mag ich auf Anhieb, ein fester Händedruck, eine herrlich raue Stimme: »Die Schuhe bitte anbehalten, der Boden ist kalt, bitte sag Du zu mir. Und in der Küche wird geraucht.«

    Keine Spur von alter Dame, jugendliche siebzig, blondiert, groß, dünn, und nach einem kleinen Badeunfall vor Wochen nun wieder fit; sie sei gerade vorhin vom Strand gekommen, FKK-Strand natürlich, mit waghalsigem Abstieg. Nackt in der Sonne liegen und schwimmen, herrlich. Aber im November, das sei selbst für Triest ungewöhnlich.

    Weil sie so spät vom Meer weggekommen ist und weil wir ja eh schon wieder bald zum Konzert müssen, gebe es eben nur Minestrone,

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