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Wie Ameisen auf Zucker: Mein Weg aus dem Ghetto
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Wie Ameisen auf Zucker: Mein Weg aus dem Ghetto
eBook274 Seiten3 Stunden

Wie Ameisen auf Zucker: Mein Weg aus dem Ghetto

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Über dieses E-Book

Milton, 15 Jahre alt, sitzt in der Kapelle in East Oakland, Kalifornien. Seine Mutter hat sich erschossen. Während der Trauerfeier beobachtet er seine Verwandten, die meisten Drogenabhängige, Dealer, Prostituierte, Kriminelle, und allerhand Erinnerungen ziehen an ihm vorüber. Er beschließt, diese Kreise zu verlassen, sein altes Leben zu beenden und ein neues Leben zu beginnen.
Denn niemand wird zwangsläufig zum Kriminellen: "Du hast es in der Hand." Das ist Miltons Credo.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum31. März 2020
ISBN9783347040045
Wie Ameisen auf Zucker: Mein Weg aus dem Ghetto

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    Buchvorschau

    Wie Ameisen auf Zucker - Milton Miller

    »Unser Leben ist keine Privatsache. Eine Geschichte, die Du erlebt hast, kann auch für andere hilfreich sein, aber nur, wenn Du sie weitererzählst.«

    Dan Millman, in: Der Pfad des friedvollen Kriegers

    Was »macht« glücklich?

    Manchmal hört man Menschen über die Frage reden, was glücklich macht. Oft wird gesagt, glücklich zu sein habe nichts mit Geld zu tun oder damit, wieviel jemand verdient. Die glücklichsten Menschen lebten angeblich in den Slums in irgendwelchen armen Ländern.

    Ich glaube, dass dies Unfug ist, genauso wie Glücklichsein nichts mit dem Kontostand zu tun hat. Glück begründet sich auch nicht mit einer heilen Kindheit. Wie viele meiner deutschen Freunde haben eine heile und gesunde Kindheit und sind dennoch nicht glücklich!

    Glücklichsein ist eine tägliche bewusste Wahl, die man trifft. Und diese Wahl kann man treffen, losgelöst von Umständen und von materiellen Dingen, die einen umgeben. Glück ist kein Gefühl. Glück ist eine Einstellung, ein Standpunkt, den man wählen kann, genauso wie auch Unglück.

    Deshalb schreibe ich dieses Buch.

    Ich bin ein schwarzer Amerikaner, geboren 1971 in Oakland, Kalifornien und auch dort aufgewachsen bis ich 15 Jahre alt war. Meine Mutter war drogenabhängig. Sie hat sich das Leben genommen, als ich 15 war. Ich habe sie sterbend auf ihrem Bett gefunden. Ihr Bruder, mein Onkel Wayne, war Drogendealer und Zuhälter. Mein Onkel Irving war schwul und starb an AIDS. Meine Oma war die erste Frau in Oakland, die einen eigenen Puff geführt hat. Drive-by-shootings waren in meiner Gegend normal. Dass Menschen aus dem Auto heraus schossen und dabei andere Menschen töteten, mit denen sie in einem Konflikt standen, das war normal. Normal war es auch, dass dabei immer wieder Unbeteiligte sterben mussten. Einem Freund von mir, zwei Freunden sogar, ist das passiert. Und mein Halbbruder Ones war gerade auf dem Weg zu mir, als er bei einem Autounfall starb. Der Fahrer war bekifft mit einem LKW zusammengeprallt. Kriminalität war normal. Prostitution war normal. Drogenkonsum war normal. Dass Menschen eines unnatürlichen Todes starben, war normal.

    Also: Ich bin zwar aus dieser Welt ausgestiegen, aber ich bin bis heute stigmatisiert. Das finde ich unfair. Auf der anderen Seite verstehe ich es auch, etwas zumindest. Denn es ist eben auch normal, dieses Schubladendenken. Auch ich ertappe mich oft dabei. Aber es ist nun an der Zeit, mit einigen Klischees aufzuräumen.

    Deshalb schreibe ich dieses Buch.

    Eben habe ich erzählt, in welcher Gegend und unter welchen Leuten ich aufgewachsen bin. Trotzdem war ich der glücklichste Junge auf der Welt. Ich wusste es nur noch nicht. Ich hatte die glücklichste Kindheit auf der Welt, genau wie übrigens auch alle anderen. Und genau wie viele andere wusste ich es nur noch nicht. Doch ganz so stimmt das nicht: Ich wusste es schon immer, doch es war die Art von Wissen, die nicht als konkret formulierter Gedanke existiert, sondern als Unbewusstes, Subtiles im Hintergrund der Gedankenströme. Vorhandenes Wissen, immer schon da, aber nie bewusst. Intuition. Es hat viele Jahre gedauert, bis aus dem verborgenen Wissen ein konkreter, bewusster Gedanke wurde.

    Dass dieses Wissen schon immer da war, das ist mein Geheimnis. Es ist das Geheimnis, weswegen ich überhaupt alles überlebt habe, was ich erlebt habe. Es war ein Wissen, das stärker ist als jeder Gedanke. Es war das Wissen, das den Gedanken erst ermöglicht, das tiefste und ursprünglichste Wissen, das Wissen, das der tiefsten Überzeugung gleicht, die möglich ist. Es war das Wissen, dass das Leben im Grunde gut ist und glücklich. Und dass alle Ereignisse drum herum geschehen und dem Leben dienen. Es ist die Überzeugung, dass alles für etwas gut ist und einen Sinn macht.

    Ich habe beschlossen, meiner Deutung der Ereignisse zu glauben, nicht derjenigen der anderen. Für manche scheint meine Interpretation verrückt. Vielleicht ist sie das. Bitte lesen Sie sie und entscheiden Sie selbst. Ich glaube, das ist das Geheimnis, weshalb ich alles überlebt habe, glücklich überlebt habe. Ich wusste einfach immer, dass alles für irgendetwas gut ist. Und dieser Standpunkt hat mein Überleben gesichert. Mit diesem Wissen kann ich heute auf meine Kindheit, meine glückliche Kindheit zurückblicken. Dass meine Kindheit glücklich war, das wusste ich schon immer, doch erst als Erwachsener habe ich mich bewusst entschieden, dazu zu stehen.

    Heute habe ich mehr Lebenserfahrung als damals. Mich trifft keine Schuld an den tragischen Ereignissen in meinem Leben. Aber ich lebe in einer Welt voller Deutungen, Klischees, Interpretationen, voller Erklärungsversuche und auch Vorurteile, und manchmal denke ich, ich muss von dieser Oberflächlichkeit loskommen und all die Gedankenspiele loswerden. Das ist sehr schwierig, weil die meisten Leute glauben, dass alle möglichen Erklärungsversuche auf ein »ist« hinauslaufen, dass wir also unsere Vergangenheit »sind«.

    *

    Bin ich, was ich war?

    Manchmal nähere ich mich diesem Ansatz, dann wieder entferne mich davon, obwohl ich der festen Überzeugung bin, dass ich nicht meine Vergangenheit »bin«, sondern dass ich vielmehr eine »habe«, sie also ablegen kann wie ein Kleidungsstück.

    Loswerden oder eliminieren kann ich sie nicht.

    Wir sind nicht unsere Vergangenheit. Wir haben eine Vergangenheit.

    *

    Meine Geschichte handelt davon, dass alle die Möglichkeit zu einer glücklichen Kindheit haben, egal wie alt sie sein mögen, was sie erlebt haben oder in welcher Situation sie sich befinden, ob sie in Alaska, in der Schweiz, in China, auf den Kiribati-Inseln oder in einer Großstadt wie Oakland bei San Francisco leben: Eine glückliche Kindheit zu haben, ist nicht eine Folge der Ereignisse, die wir erlebt haben, sondern Resultat der Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen, sowie der Deutungen, die wir daraus entwickeln.

    Dieses Buch handelt davon, wie ich wählte, eine glückliche Kindheit zu haben, und sie auf einmal tatsächlich hatte.

    Einfach so. Ja, das kann man so sagen.

    Diese Geschichte ist ein Liebesbrief an meine Kindheit.

    Hamburg, im März 2020

    1

    »Milton! Warum bist du so?«

    Hamburg im Sommer 2010. Mir gegenüber sitzt Anna. In der Mitte des Tisches liegt ein kleiner Haufen mit Münzen, und sie hat entschieden, sich darüber zu ärgern. Sie blickt mich böse an. Ihre Augen sind zusammengekniffen und sie atmet - Vorwurf ein, Vorwurf aus. Ihr Blick zielt scharf an mir vorbei durch das große Fenster hinaus auf die Straße. Das ist ihre Strafe: Dass sie mich nun ignoriert. Beim nächsten lauten Atemzug wechselt ihr Blick auf das kleine Häufchen Münzen. 5,37 Euro in zwei Ein-Euro-Münzen, der Rest in kleinen Cent-Münzen. Sie zieht eine Augenbraue hoch, um skeptisch und abschätzend zu wirken, bei mir kommt aber ihre Verzweiflung an, und es tut mir unglaublich leid, sie so zu sehen. Warum ist sie nur so unentspannt? Ich fühle mich unsicher. Nicht wegen des Geldes, sondern weil ich spüre, dass sie von mir erwartet, dass ich genauso aufgewühlt bin, wie sie es ist.

    Ich soll gleich reagieren, genau wie sie, nicht anders. Tu‘ ich aber nicht. Ich bin sehr anders, und es fällt mir schwer, künstliche Aufregung zu erzeugen, wenn ich eigentlich denke, dass nichts los ist. Das sieht sie anscheinend anders.

    »Okay. Was machen wir jetzt!« Was grammatikalisch eigentlich eine Frage wäre, ist von ihrem Ton in der Stimme her ein Vorwurf mit großem Ausrufezeichen. Ich sehe, wie sie fast ihre Zähne zusammenbeißt, während sie spricht.

    »Wir kaufen eine Pizza«, sage ich. Denn ich habe einen riesigen Appetit, und der ist noch größer geworden, seit wir uns in die Pizzeria gesetzt haben. Diese Pizzeria ist gut und sehr günstig und es riecht hier lecker. Für 5 Euro bekommt man schon etwas.

    »Haha!« Sie meint das ironisch. »Heute ist Freitag …« Sie blickt auf die Uhr, es ist 3.00 Uhr morgens, »… mittlerweile Samstag. Wann kommt deine Überweisung?«, fragt sie und antwortet dann selbst, bevor ich etwas sagen kann: »Mittwoch.« Noch ein Schnauben. »Das ist in fünf Tagen!« Eigentlich, denke ich, sind es nur vier Tage, weil praktisch schon Samstag ist, aber ich sage erst einmal nichts dazu. Normalerweise finde ich sie sehr attraktiv, aber immer wenn sie so vorwurfsvoll wird, dann finde ich sie nicht sehr schön - leider. Und ich fühle mich auch immer schlecht. Nicht, weil ich denke, dass sie recht hat, sondern weil ich merke, dass sie an mir zweifelt und nicht an mich glaubt. Zugegeben, ein wenig zweifele ich auch an mir.

    Wir waren an diesem Abend auf einem Geburtstag in einer Bar gewesen, es war schön, ein Freund hat gefeiert. Wir haben geknutscht und beschlossen, nach Hause zu gehen in unsere kleine Wohnung, und als wir draußen waren, sagte sie, sie hätte Lust noch etwas zu essen. In der Schanze¹ haben ein paar Läden lange auf. Wir sind also zur Bank auf dem Schulterblatt² gegangen, um Geld abzuheben, aber aus dem Automaten kam nichts. Wegen Überziehung. Dispo haben wir zurzeit keinen. Obwohl wir uns gut verstehen mit unserem Bankberater, Herrn Schlamann. Er ist etwas jünger als wir, vielleicht 25 Jahre. Wenn die Bank geöffnet ist, gibt er uns Geld, obwohl wir keinen Dispo haben, auch wenn das Konto leer ist.

    Aber um 3.00 Uhr nachts hat die Bank zu, und Herr Schlamann ist wahrscheinlich selbst in der Schanze oder auf dem Kiez. Wir haben dann also in unseren Taschen gekramt und zusammen eben die 5,37 Euro gefunden. In dem Augenblick hat Anna sich noch zusammengerissen. Hat sich bemüht, es romantisch zu finden. Hat ein Augenzwinkern produziert, kein echtes, leider. Zwei Verliebte ohne Geld, die schnell noch eine Pizza essen gehen und dann wirklich gar nichts mehr haben. Jedenfalls für fünf Tage. Nein vier. Man kann es ja so (romantisch) oder so (ganz schlimm) sehen, es ist eine Frage des Standpunktes und der Interpretation. Wie man will.

    Man hat doch immer die Wahl, wie man die Dinge betrachten will. Und Anna hat versucht, locker zu reagieren, aber es war nicht echt. In Wahrheit ist sie in Panik. Sie kennt das eben nicht, für sie sind andere Sachen als für mich schlimm, zum Beispiel ein paar Tage kein Geld mehr zu haben. Ich respektiere, dass sie anders tickt als ich - Menschen sind eben verschieden. Nur wünsche ich mir, dass sie mir auch diesen Respekt entgegenbringt und akzeptiert, dass ich wegen so etwas nicht gleich ausraste.

    Ich schaue Anna an und ich kann genau sehen, was sie fühlt. Zum einen ist sie mega wütend und - so schräg das klingen mag - ich weiß, dass sie dabei auch ein klein bisschen Spaß hat. Sie mag es, wütend zu sein. Gibt sie zwar niemals zu, aber ich habe eine Menschenkenntnis, die oft gut hinhaut. Würde es ihr absolut keinen Spaß machen, dann wäre sie nicht so oft wütend. Zum anderen ist sie ernsthaft verzweifelt. Und das zu sehen, tut mir weh. Sie weiß wirklich nicht, was sie von dem Gedanken halten soll, dass wir gerade pleite sind. Dass wir fünf Tage lang kein Bargeld haben, dass wir die Miete mal wieder zu spät überweisen werden, dass wir das Stromgeld zu spät überweisen werden und dass, wenn dann endlich alle Überweisungen gemacht sind, das Konto schon wieder Richtung Null tendieren wird. Verdammt, dann haben wir fast das gleiche Gespräch von heute wieder. Aber sie ist eine Frau, ist es da vielleicht normal, dass sie mehr solcher Existenzängste hat als ich?

    »Milton«, sagt sie und ihr Blick ist etwas neutraler, der Vorwurf ist aus ihrem Tonfall verschwunden, ihre Stimme klingt nett und freundlich. Sie muss in den letzten 10 Sekunden nachgedacht haben und zu dem Schluss gekommen sein, dass es gerade nichts ändert, wenn sie wütend ist. Wenn sie solche Erkenntnisse hat, kann sich ihre Stimmung von einer Sekunde auf die nächste ändern. Mal zum Guten, mal zum Schlechten. Es ist faszinierend. Hier und jetzt anscheinend zum Guten. Aus meiner Sicht jedenfalls. Sie gibt sich Mühe, sie ist aber auch wieder in ihrem DetektivModus. So nenne ich das, wenn sie den Dingen auf den Grund gehen will. Wenn sie nicht mehr nur verurteilt, sondern herausfinden will, was wirklich los ist. Ich spüre wieder etwas von ihrer Liebe.

    »Milton?«

    »Ja?«

    »Warum bist du so?«

    »Wie bin ich denn?«

    »Dass du so ruhig bleibst in dieser Situation.«

    »Warum ich nicht ausflippe?«

    »Ich flippe auch nicht aus!« Das klingt wieder nach Vorwurf, ich muss wirklich aufpassen, wie ich die Dinge formuliere:

    »Du meinst, warum ich ruhig bleibe?«

    »Ja, wie kannst du ruhig bleiben?«

    »Weil doch gar nichts los ist.« Im Ernst, ich verstehe wirklich nicht ganz, was los sein soll. »Wir kaufen eine Pizza, das ist alles. Dann haben wir ein paar Tage kein Geld. Brauchen wir auch nicht. Ich habe eingekauft, alles ist zu Hause, okay?«

    »Was ist, wenn ich U-Bahn fahren muss?«

    »Du hast ein Fahrrad.«

    »Was ist wenn, ich einen Kaffee trinken will?«

    »Hör‘ zu, ich hab zu Hause noch ein paar Euro. Und wir haben Leitungswasser und Kaffee zu Hause. Wir können Montag Geld von Herrn Schlamann holen.«

    »Okay. Du bist komisch, Milton, weißt du das? Wieso nur? Ich will Thunfischpizza – bitte!« Und um noch schnell zu zeigen, wie blöd die Situation ist, weil wir uns nicht mal mehr eine Cola leisten können, schießt sie hinterher: »Und ein Leitungswasser – bitte!«

    Warum ich so bin? I will try to do my best, und ich werde es Ihnen auch gleich erzählen.

    ¹ Das Schanzenviertel ist ein Kiez- und Szeneviertel in Hamburg

    ² »Schulterblatt« ist eine Straße in Hamburg

    2

    Als alles anfing: Oakland/Kalifornien 1986

    An einem Freitagabend im September 1986 machte ich eine wundervolle Erfahrung. Die war so großartig und wunderbar, dass ich bei dem Gedanken an diesen bestimmten Moment noch heute ein warmes und seliges Gefühl in meiner Brust habe. Rhonda hatte mich auf ihre Party eingeladen, und ich war schon seit zwei Wochen, seit ich ihre Einladung erhalten hatte, in meinen Gedanken mit nichts anderem mehr beschäftigt, als an diesen Abend zu denken.

    Ich spürte eine starke Mischung aus Vorfreude und Aufregung in mir, und wenn ich stark genug daran dachte, konnte ich es richtig im Bauch spüren. Weil Rhonda super war und toll! Als Mädchen, meine ich. Und auch sehr schön.

    Ich war damals gerade in die 9. Klasse gekommen. Sie hatte den halben 9. und 10. Jahrgang der Skyline High School zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen. 50, 60 Leute wurden erwartet.

    Und ihre Eltern waren angeblich nicht da, was hieß, es würde eine legendäre Party werden. Waren Partys mit und ohne Eltern vergleichbar? Natürlich nicht, nicht mal im Ansatz. Ohne Eltern lief alles viel unverfänglicher ab, wilder, die jungen Menschen probierten mehr aus, mehr Gläser gingen kaputt, mehr Joints wurden geraucht. Das war überall so. Auch hier und jetzt.

    Es war Herbstbeginn in Oakland/ Kalifornien, und ich war 15 Jahre alt.

    Meine Mutter Judy und ich wohnten zusammen in einer Drei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss eines kleinen Mehrparteienhauses in der Brookdale Avenue in Oakland. Hier spielte unser Leben. Das Haus lag in einem Stadtteil von Oakland, der von Touristen und Einheimischen der besseren Gegenden gemieden wurde. Nach Meinung der meisten Bewohner Oaklands damals in den 80ern gehörte er zwar nicht zu den schlimmsten Stadtteilen, dennoch wurde den Leuten, die hier ihr Leben lebten, eine Mischung aus Respekt und Mitleid entgegengebracht - Respekt, weil wir es in dem kriminellen Umfeld schafften zu überleben; Mitleid, weil der gesellschaftlich verbreitete Konsens war, dass, wer in so einem Stadtteil lebte, ein vorherbestimmtes Leben hatte. War ja irgendwie auch so. Von außen betrachtet.

    Viele Bewohner hier machten große oder kleine Karrieren als Drogendealer oder Zuhälter. Je nach Verlauf wurden sie reich, also für unsere Verhältnisse reich, oder sie landeten im Gefängnis. Oder lebten als Kleinkriminelle vor sich hin. Oder sie starben früh.

    Mit diesem Vorurteil lagen die Leute nicht weit daneben. Aber es gab schlimmere Stadtteile, das darf man nicht vergessen. Das waren die, in denen sich nicht mal die Polizei traute, ihre Runden zu drehen.

    Es war Frühherbst 1986. Ronald Reagan war in der Mitte seiner zweiten Amtszeit, Kalifornien wurde von einem republikanischen Mann mit dem unaussprechlichen Namen Courken George Deukmejian Jr. regiert, der durch seine »Law-and-Order«-Politik die kalifornischen Gefängnisse füllte, und Run DMC hatten gerade Doppelplatin für ihre Platte »Raising Hell« bekommen, was für mich wesentlich bedeutender war als der Präsident und die Politik. Ich bewunderte Hip-Hop. Hip-Hop sprach meine Realität damals an. Hip-Hop bedeutete etwas für mich. Die Musiker haben über ihr eigenes Leben Lieder geschrieben, und die waren teilweise so ähnlich wie mein Leben. Die haben was geschafft, und ich könnte das vielleicht auch - und ganz normal sein.

    Es war die Verbindung der Songs zu den alltäglichen Problemen, die man als Afro-Amerikaner hatte. SONY-Walkman mit den Schaumkopfhörern, mit diesem Gerät die Geschichte von jemand anderem hören, der ähnliche Dinge erlebte wie ich. Rassismus, nicht gewollt sein, solche alltäglichen Dinge. Deswegen bedeutete es etwas für meine Freunde und mich. Unser Ziel war es, die Worte auswendig zu lernen, so dass wir sie auf dem Weg von der Schule nach Hause nachsprechen, nein, nachrappen, sie imitieren konnten. Wir haben die Platte Raising Hell tausend Mal gehört. Das war immer etwas für uns, die Platte zu hören.

    Der Abend, an dem Judy eine Entscheidung traf und ich das erste Mal ein Mädchen küsste

    Mit Judy hatte ich bis zum Abend noch nicht über Rhondas Party gesprochen, aber ich war gelassen und glaubte, dass sie mich gehen lassen würde.

    Es war früher Abend. Ich saß in meinem Zimmer auf dem Bett und sah durch die Tür meine Mutter im Flur, wie sie sich ziellos und unruhig in der Wohnung bewegte. Sie war halbnackt, trug ein weißes Unterhemd und eine Unterhose. Im Haar trug sie Lockenwickler, und sie hatte ein dunkelrosa Tuch mit einer Schleife über der Stirn um den Kopf gebunden.

    Sie redete mit sich selbst, wirres Zeug. So, als ob ich gar nicht da wäre. Immer wieder kamen Wortfetzen bei mir im Zimmer an. Aber das störte mich nicht, ich nahm es ja kaum wahr. Ich war in meinem eigenen Gedankenfilm, aufgeregt und voller Vorfreude auf die Party. Und im Hintergrund Judy, die redete und redete, über Probleme und dies und das. Ich nahm es kaum wahr. Und wenn doch, dann dachte ich über das alles nur: traurige Worte einer traurigen Person, die hartnäckig versuchte, mir irgendwie mein Leben wegzunehmen.

    Das waren meine Gedanken an dem Abend. Ich war Judy gegenüber heute hart eingestellt. Und in dieser seelischen Verfassung war es für mich unmöglich, Mitleid oder Mitgefühl für sie aufzubringen. Sie hatte gerade vor wenigen Wochen

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