Wellenritt durchs Lichtermeer: Der faszinierende Blick einer Borderlinerin
Von Melanie Köbke
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Buchvorschau
Wellenritt durchs Lichtermeer - Melanie Köbke
EINLEITUNG
Dies ist mein drittes Buch, mein drittes Herzprojekt. Ich bin sehr froh, dass ich heute noch bin und die Chance habe, meine Welt aus meiner Perspektive noch ein weiteres Mal mit meinen Mitmenschen teilen zu können. Schon in früher Kindheit hatte ich das Talent, mir leuchtende Welten zu erschaffen, die mich von dem, was mich umgab, abschirmten. Meine innere Welt war mein sicheres Zuhause. Hier fand ich Worte und Bilder für das, worin ich mich eingebettet sah. Ich schrieb oft stundenlang Geschichten, in denen meine Protagonisten spannende Abenteuer in fantasievollen Kulissen durchlebten. Ich weiß nicht, wo ich mich wirklicher gefühlt hatte: in der echten Welt oder inmitten meiner geschriebenen Zeilen, die mein Leben mit Licht, Sinn, Tiefe und Gefühl versorgten.
Dieses Buch enthält einige berührende und kritische Geschichten und Gedanken, auch in Gedichte-Form, die insbesondere während und nach meiner 'exzessiven Borderline-Phase', in der ich das Licht in meinem Leben fast aus den Augen verloren hatte, entstanden sind. Es war mir, als ich schon vor vielen Jahren die ersten Kapitel dieses Buches zu schreiben begann, ein überaus wichtiges Anliegen, meine Gefühlswelt, so düster sie oft auch war, so vielschichtig wie möglich in Worte zu kleiden und jeden noch so kleinen hoffnungsvollen Lichtmoment nicht zu übersehen. Ich wünsche mir, den Leserinnen und Lesern dadurch nahebringen zu können, was hinter all dem steckt oder noch stecken kann, was Borderlinerinnen und Borderliner erzählen und fühlen und was sie hervorbringen können, wenn Destruktivität überwunden und (Selbst-)Vertrauen zu einem zuverlässigen Anker im Leben geworden ist. Die Merkmale einer Borderline-Persönlichkeit existieren meines Erachtens nicht für sich allein, es gibt einen Bezug zu größeren Zusammenhängen, zu den gravierenden Zuständen unserer Welt, zu den großen Fragen der Menschheit. Zumindest ist es bei mir so.
Für so vieles gibt es oft keine Worte, wir sind sprachlos, fassungslos. Oder keine Zeit, wir eilen nur dahin. Oder nicht den passenden Rahmen, wir übersehen und vergessen. Oder eben nicht den richtigen Zeitpunkt, wir sind noch nicht soweit. In den meisten Fällen geht es bei dieser Krankheit einfach nur noch ums nackte Überleben, wie die ersten Kapitel meines Buches aufzeigen, und die Innenwelt dieser faszinierenden Menschen, aus der heraus doch auch so viel Schönes entstehen und unsere Welt bereichern will, wird überdeckt von leidvollen Kämpfen gegen sich und gegen die Welt.
Ich hoffe, auch wenn ich kein Patentrezept zur Heilung anbieten kann, mit meinem Buch ein tieferes Verstehen und Mitfühlen von dem, was Borderline umfasst, zu ermöglichen und Anregung und Inspiration zu geben, um Menschen mit dieser Krankheit gezielter und vor allem einfühlsamer begleiten und unterstützen zu können.
»Melanies Bücher sind in meinen Augen nicht nur Bücher für Betroffene, sondern auch für Fachkräfte. Schon von ihren ersten beiden Werken wurde ich regelrecht mitgenommen in den Strudel dieser Krankheit, in das Gefühl, wie sich ein Leben mit Selbstverletzung, Essstörung, Leere, Einsamkeit und Todessehnsucht anfühlt. Sie beschreibt auf eine Art und Weise, dass ich zum ersten Mal das Gefühl bekam, zu verstehen. Mit dem hier nun vorliegenden dritten Buch hat Melanie meines Erachtens ein Glanzstück zusammengestellt und ich freue mich sehr, dass sie ein weiteres Mal den Mut aufbringt, ihr Inneres so offen preiszugeben.« G. Wimmer, Dipl. Sozialpädagogin (FH)
Worüber ich mich ganz besonders freue, ist der glückliche Umstand, dass ich Druckerin gelernt habe und ich somit auch dieses Buch ganz individuell und unabhängig von den Vorgaben eines Verlages gestalten konnte. Von den Schriftarten bis zum Umschlag entspricht alles meinen Wünschen. Denn zuoberst, lange vor einer Veröffentlichung, dient mein Tun meinem Wohlbefinden. Und so habe ich auch dieses Mal versucht, ein Buch zusammenzustellen, das ich immer wieder gern zur Hand nehme.
DANKSAGUNG
Ich danke meiner Familie für ihre Liebe, die sie so beständig zu mir fließen lässt, ganz egal, ob mich gerade Dunkelheit verstummt und lähmt oder ob ich leuchte und tanze wie eine neue Sonne. Ich fühle mich von ihnen, auch von meinen engsten Freunden, in all meinen Facetten geliebt. Das ist so unermesslich wichtig, denn es hilft mir, immer dann, wenn es mir allein unmöglich ist, mich an meinen Wert zu erinnern. Vor allem an meine Liebe und meinen Dank für mein Leben.
Ein ganz besonderes Dankeschön gilt meiner lieben Freundin Britta. Diese leuchtende und reiche Persönlichkeit hat sich ihr Leben genommen. Ich habe keine Worte. Das hätte genauso gut auch mir passieren können. Britta nicht mehr in unserer Welt zu wissen, beraubt mich aller Gedanken, macht mich still und ich fühle nur noch meine Tränen, die, wenn sie nicht fließen, meinen ganzen Körper erzittern und erschauern lassen. Britta hat so unerschütterlich an mich geglaubt. Sie kannte mich sehr gut. 2007 war sie die Erste, die in den damals bereits fertig geschriebenen Kapiteln dieses Buches las. Sie konnte sich davon kaum losreißen. Ich sehe sie noch heute in dem Zimmer, das wir uns in einer psychosomatischen Klinik teilten, auf meinem Bett vor meinem Laptop sitzen, vertieft und erfüllt und mit der Bitte, an diesen Texten unbedingt weiterzuschreiben. Ja, wir teilten uns eine gemeinsame Welt, in der wir immer auf der selben Welle lachten und weinten. Wir waren nicht einfach nur schwarzweiß. Wir lebten bunt, ohne uns darüber wirklich bewusst zu sein.
FRAGT EIN KIND SEINEN VATER
2011 von meinem Vater erhalten
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Was wird morgen sein?«
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Wird es eine Zukunft geben?«
»Du wirst eine Zukunft haben.
So, wie es sich gehört.
Dafür werden wir jeden Tag kämpfen.
Damit auch du und alle Kinder auf der Welt glücklich leben können.«
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Gibt es denn den Kindertag überall?«
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Gibt es den Kindertag überall?«
»Nein, mein Kind, das ist nicht so. Leider noch nicht.
Viele Kinder kennen den Tag noch gar nicht.
Viele Kinder wissen es auch nicht.«
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Was war in Hiroshima?«
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Was war in Hiroshima?«
»Große Flugzeuge warfen eine Bombe.
Und diese Bombe vernichtete Leben.
Viele Tausend Kinder mussten sterben.«
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Wer hat das getan?«
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Wer hat das getan?«
» US-Flugzeuge flogen.
Und sie warfen Bomben ab.
All das Leben in der Stadt erlosch.«
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Sind die Amerikaner schlecht?«
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Sind die dort alle böse?«
»Nein, mein Kind, das ist nicht so. Alle sind es nicht.
Nur die Leute mit dem vielen Geld nehmen arme Menschen aus.
Viele Menschen leben an der Armutsgrenze.«
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Wann ist alles vorbei?«
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Wann ist alles vorbei?«
»Mein Kind, das weiß ich noch nicht.
Viele Jahre werden wir dafür kämpfen müssen.
Denn von heute auf morgen geht das nicht.«
Fragt ein Kind seinen Vater:
»Was wird morgen sein?«
ERDE – MENSCHHEIT – LEBEN
1994 | Ich bin 13 Jahre alt
Irgendwo in den Weiten des Weltraumes
Entstanden aus Massen des Staubes
Der das Leben schuf
Entstand eine neue Welt
Durch die Sonne erhellt und am Leben gehalten
Die Erde
Ein Schauspiel überwältigender Natur
Eine Spur
Die Spur des reinen Lebens
Des Strebens
Abhängig von diesem Planeten
Der allen schenkt das Leben
Nichts dafür verlangt
Aber um seine Existenz bangt
Die Schuldigen sind die Menschen
Bei ihnen gibt es keine Grenzen
Es wird getan, was sie für richtig befinden
Ein Netz aus Gewalt und Tod sie binden
Größer werden die Wunden
Doch sie werden nicht verbunden
An sich selber denken
Und andere verletzen und kränken
Kennen sie überhaupt etwas anderes?
Die Erde stirbt
Sie wissen es
Doch für Hilfe ist es längst zu spät
Auf einen anderen Planeten wollen sie ziehen
Ihre Heimat verlassen, wo einst sie gediehen
Die Erde
Zurückgelassen wie Abfall
Allein im Weltall
Sie werden zurück blicken
Und ganz normal ihre Pullover stricken
Wie früher auf ihrem Heimatplaneten
Sie werden für sich beten
Um nicht für das bestraft zu werden
Was ihre Vorfahren taten auf Erden
Sie werden wieder nicht merken, was sie tun
Und sie werden auch wieder nicht ruh’n
Bis ihr neuer Planet auch stirbt
Und wieder ziehen sie um
Und wieder erwerben sie Reichtum
Und wieder begehen sie den selben Fehler:
Sie denken nicht an ihre Umwelt.
Die Erwachsenen werden versuchen zu erklären:
»Wißt ihr Kinder, das liegt einfach im Menschen.
Es ist die Sucht nach Wissen und nach Fortschritt, was die Menschen
blind macht!«
Und die Kinder werden widersprechen:
»Gilt denn folgendes Sprichwort nicht mehr?
‚Tust du Fehler
Dann lerne aus ihnen
Und wiederhole sie nicht!‘«
Und doch werden auch sie den Fehler begehen.
DAS LEBEN, DIE ERDE, DER MENSCH
1994 | Ich bin 13 Jahre alt
Das Leben ist kurz
zu kurz, um es richtig genießen zu können
Das Leben ist schön
zu schön, um die Schönheit des Lebens sehen zu können
Das Leben ist hart
zu hart, um anderen Menschen Frieden zu geben
Das ist das Leben
zu dem wir alle verdammt sind
Das ist das Leiden
von dem wir alle wegsehen
Das ist das Töten
für das wir die Verantwortung übernehmen müssen
Die Erde ist groß
und doch zu klein für den Menschen
Die Erde ist grün
und doch nicht genug für die Tiere
Die Erde ist blau
und sie wird es immer mehr
Das ist die Erde
auf der wir alle leben
Das ist die Welt
die seit Jahren stirbt und leidet
Das ist der Planet
der vor Jahrmillionen das Leben schuf
Die Menschen sind klug
und doch nicht genug, um sich selber zu retten
Die Menschen sind gierig
zu gierig für ein Wesen wie sie es sind
Die Menschen sind gewaltsam
zu gewaltsam für diese Welt
Das ist der Mensch
den wir alle darstellen
Das ist das Wesen
das Gott erschuf
Das ist die Kreatur
die das Leiden brachte
Das Leben, die Erde, der Mensch
sie sind eins
Das Leiden, die Welt, die dritte Welt
sie sind eins
Das Töten, der Planet, die Tiere
sie sind eins
Durch den Menschen
der sich selber tötet
Durch ihn
der das Leiden brachte
Durch seine Gierigkeit
die er nicht einmal bemerkt
Nur durch ihn geht eine atemberaubende Welt zugrunde
Wie würde sie aussehen, wenn er nicht gekommen wäre?
Menschen fragt euch das
Schaut in eure Herzen und seht eure Taten
Laßt nicht zu, daß eures Gleichen mit geschlossenen Augen handelt
Öffnet die Augen und laßt euch durch den Kopf gehen
Was die Erde für euch getan hat, was ihr für sie getan habt
Hat sie es wirklich verdient, so behandelt zu werden?
ICH INTERVIEWE MICH SELBST
1997 | Ich bin 16 Jahre alt
Glaubst du, daß du einzigartig bist?
Ja, natürlich. Ich bin genauso einzigartig wie jeder andere Mensch auch. Wir werden alle geboren, um etwas zu sein. Ob wir es dann auch werden, liegt an uns und unserer Umwelt. Bei unserer Geburt erstrahlen wir in hellem Licht. Die Einzigartigkeit ist noch zu sehen und wir werden geliebt. In unserem Innern bergen wir alle Geheimnisse des Universums und des Lebens. Doch mit jedem Atemzug verlieren wir sie wieder, um einen winzigen Teil davon während unseres Erdenlebens wieder in uns aufzunehmen. Das Einzige, was uns bleibt, ist die Einzigartigkeit, der Rest ist vergänglich. Aber unsere Unwissenheit verschließt uns die Augen, so daß wir das Licht des Besonderen verlieren. Es gibt aber auch Menschen, die sich das Licht bewahren können. Es ist viel leichter, als Kind einzigartig zu sein, als wenn man erwachsen ist. Wir lassen uns alle von dem Leben prägen, dabei ist auch das vergänglich. Einzigartigkeit hat nicht nur etwas mit Weisheit zu tun, sondern auch mit Toleranz, Güte, Liebe, den menschlichen Schwächen zu widerstehen und somit nie an sich denken bei dem, was man tut.
Glaubst du an Wunder?
Ja, ich erlebe jeden Tag welche. Es ist ein Wunder, oder besser ein Geschenk, daß meine große Familie gesund und am Leben ist. Ich habe einen Bruder und Eltern, die ich über alles liebe. Das Leben überhaupt ist ein Wunder. Ich sehe des Nachts die Sterne und erkenne, die Erde ist überwältigend. So viele Pflanzen und Tiere wurden ihr geschenkt, und der Mensch nimmt sie ihr einfach weg. Die Sonne ist bezaubernd schön und noch schöner ist das Farbenspiel am Abend zwischen ihr und der Erdatmosphäre. Dem Mond wurden diese Farben z.B. nicht geschenkt. Ebenso ist das unbeschwerte Lachen von Kindern ein Wunder. Das Leben hat ihnen dieses Geschenk noch nicht wegnehmen können. Um Wunder sehen zu können, muss man nicht erst welche suchen, denn während der Suche, die dich schwächt und dir das Leben aussaugt, entgehen dir die wahren kleinen Wunder, die in dir ein großes Wunder hervorrufen können, nämlich die Freude am Leben.
So wie du von dem Leben redest, scheint es wunderschön aber auch hart und verletzend zu sein. Glaubst du, sagen zu können, daß du schon viel durchgemacht hast?
Nein, das darf ich auch nicht. Was hilft es, herum zu jammern. Das Leben geht trotzdem weiter. Schau einfach nie zurück (obwohl das natürlich nicht immer funktioniert). Ich habe keine todbringende Krankheit, meine Eltern leben noch und die Sonne scheint ebenfalls noch. Es sind Kleinigkeiten, die ich durchgemacht habe und noch durchmache. Sie dienen zur Stärkung und zur Vorsicht. Aber ich bin froh, daß ich das erlebt habe. (Meine Mutter wurde in ihrem Leben bestimmt noch mehr verletzt.) Dadurch denke ich viel nach und versuche, Dinge nicht einseitig zu betrachten. Ich lerne Menschen kennen, die ebenso verletzt worden sind, und ich kann ihnen helfen. Im Großen und Ganzen haben mir die Probleme geholfen, etwas reifer und erwachsener zu werden, zwar ein bißchen zu früh, aber ich habe es überlebt.
ÜBER DAS LEBEN UND DIE LIEBE
1998 | Ich bin 16 Jahre alt
Welche Kraft treibt uns an, weiter zu leben?
Warum wird die Einfachheit,
sich das Leben zu nehmen,
einfach weggestoßen und das
Balancieren auf einem seidenen Faden bevorzugt,
um kämpfend und zitternd
ins Leben zurück zu finden?
Obwohl wir wissen, daß unser eigenes Leben
angesichts der vielen Millionen von Jahren,
in die es eingebettet ist,
nur den Hauch eines Kerzenflackerns darstellt,
verliert es für uns nichts an seiner Bedeutsamkeit.
Vielen Menschen fehlt die Intensität,
mit der ein einziges Leben gewürdigt werden sollte,
aber trotzdem lieben sie ihr Leben nicht weniger.
Auch wenn sie sich keine Gedanken darüber machen,
so wissen sie doch von Geburt an,
daß ein Leben genauso bedeutsam ist wie
der Auf- und Untergang der Sonne und ebenso
beständig wie der Lauf der Dinge.
Die Schaffenskraft eines einzigen Menschen
kann das Leben aller um mehr Dimensionen erweitern und
dem Leben einen viel größeren Wert verschaffen als
alle Ressourcen, die uns unsere Mutter Erde bieten kann.
Ob es nun eine Sekunde, ein Tag oder ein Jahr ist,
in dem wir unser Leben mit all den Dingen füllen,
die es lebenswert machen,
ist völlig belanglos.
Gelebt ist gelebt.
Wie gering erscheint uns die Bedeutung von Zeit
neben dem Leben und der Liebe,
deren magische Kraft uns allen in die Wiege gelegt wurde
und die in uns schlummert,
bis dieser eine bestimmte Mensch kommt und
sie in voller Pracht erblühen und gedeihen lässt
wie ein zartes Veilchen.
Weder Sturm noch Flut
werden ihm einen Schaden zufügen können,
solange sich Leidenschaft und Feuer im Herz und
Schmetterlinge im Bauch befinden.
Was wir Liebe nennen,
ist der größte Schatz der Erde,
nach dem so viele Menschen suchen,
schon gesucht haben und scheiterten.
Aber Liebe ist nicht materiell und
kann nur im Unsichtbaren mit dem Herz,
sei der Verstand auch dagegen,
gefühlt und gehalten werden.
Und das ist es, warum wir leben;
nur wegen diesem magischen Gefühl,
dessen Kraft und Sinnlichkeit uns die Stärke
für den langen und einzigen Lebensweg unserer Seele
zuteil kommen läßt,
den wir zu erleben scheinen.
1 | Glasglockenleben
Tag 1 | Der Anfang vom Anfang
Der Tag beginnt für mich als Abergläubische und leidenschaftliche Pessimistin mit einem schlechten Zeichen: Ich habe verschlafen. Aber das ist keine Überraschung, bin ich doch erst gegen drei Uhr zu Bett gegangen, weil ich mit meinen besten Freundinnen meinen Abschied gefeiert habe, natürlich nicht, ohne dabei ausreichend Alkohol zu konsumieren, wie so oft in den letzten Wochen und Monaten. Nur zweieinhalb Stunden später erwache ich mit Schrecken durch das schrille Läuten meines Weckers und muss durch den Sumpf meines Alkoholspiegels erst einmal nach der Realität suchen. Ich finde sie und ich spüre urplötzlich: Ich will nicht in diesen Tag! Also bleibe ich liegen und schlafe wieder ein. Erst das Klingeln an der Haustür katapultiert die Tragweite dieses Tages in meinen Kopf zurück: Heute ist der Tag meiner Aufnahme in einer psychosomatischen Klinik. Hastig verwandle ich mein von der durchzechten Nacht geprägtes Äußeres mithilfe von Wasser, Haargel, Haarlack, Kajal, Maskara und Creme in einen ausgehfertigen Zustand und verabschiede mich von diesem Mädchen, das mich unschlüssig im Spiegel anstarrt und am liebsten in dessen Glas eingeschmolzen werden will. Gegen sieben Uhr fahren wir los, vor uns über 500 Kilometer, eine nicht ohne Grund hoch gewählte Kilometerzahl, denn ich will weg. Ich muss weg, weit weg, eine Auszeit nehmen, von meinem bisherigen Leben Abstand gewinnen und eine neue Persönlichkeit wie eine Decke über mich werfen, aber dieses Mal eine Decke, die mich wärmt und stärkt. So hoffe ich zumindest.
Kurz vor ein Uhr mittags erreichen wir das nach außen sympathisch erscheinende Klinikgebäude am Rande eines kleinen, ländlichen Städtchens. Vollgepackt, nervös und neugierig zugleich betreten wir die mit unzähligen Menschen gefüllte Empfangshalle. An diesem Punkt beginnt das Bombardement auf meine Person mit Unmengen an Informationen, Formularen, mich in Augenschein nehmenden Ärzten, Psychotherapeuten, Psychologen und des Pflegepersonals. Ich werde von Arzt zu Arzt herumgereicht als schwerer Fall und verstehe diese Aufregung, dieses Fokussieren meiner Person überhaupt nicht. Die Ursache dafür soll mein übermäßiger Alkoholkonsum der letzten Wochen und Monate sein, was ich natürlich nicht als wirklich ernstzunehmend betrachte.
Der Ablauf meiner ersten Stunden im Alltag eines beginnenden Kliniklebens sieht folgendermaßen aus: Erhalt meines Zimmerschlüssels und der Hausordnung sowie meiner Telefonnummer in meinem Zimmer, Inaugenscheinnahme meines Zimmers, Aufnahme meiner Personalien und meiner Krankheitsgeschichte im Stationszimmer plus Photoaufnahme von mir für die Akte, ...
..., Aufnahmegespräch mit meiner Therapeutin, Krisensitzungen mit ihr beim Ober- und Chefarzt aufgrund der Befürchtungen, Entzugserscheinungen könnten bei mir auftreten, und zuletzt ein Aufnahmegespräch mit meiner Körperärztin, die mir sofort Medikamente verschreibt, die ich unter den strengen Blicken des Personals im Stationszimmer einzunehmen habe, sowie eine Salbe für meine Verbrennungen am linken Unterarm. Zusätzlich verordnet sie vier Mal pro Tag Blutdruck- und Puls- messen, ein Mal pro Woche den Gang zur Stationswaage, unregelmäßig durchgeführte Alkoholkontrollen durch Blutabnahmen und Alkoholtestgerät mehrmals pro Woche, unregelmäßige Besuche des Pflegepersonals in meinem Einzelzimmer zur Kontrolle meines Ess- und Autoaggressionsverhaltens sowie Zuteilung an den Esstisch für Patienten mit einer Essstörung. Des Weiteren erstellt sie für mich einen Therapieplan, in dem jede Therapie, an der ich teilzunehmen habe, von dem entsprechenden Therapeuten zu unterzeichnen ist. Dieser Plan umfasst: Einzel-, Gestaltungs-, Tanz- und Borderlinetherapie je zwei Mal pro Woche, Gruppentherapie drei Mal pro Woche, ärztliche Sprechstunde, Visite und Stationsversammlung je ein Mal pro Woche, unregelmäßige Laborkontrollen, Cotherapie beim Pflegeteam und Wechselgüsse je zwei Mal pro Woche, Krankengymnastik (Gruppe und einzeln) je ein- oder mehrmals pro Woche, Sozialberatung ein Mal pro Woche.
Einen Hoffnungsschimmer, nach dem Gefühl, hier in einem Gefängnis gelandet zu sein, erblicke ich, als ich meinem mir zugeteilten Paten begegne. Patienten, die bereits länger in der Klinik therapiert werden, können sich nach einiger Zeit neuen Patienten widmen, um diesen das Gebäude zu zeigen, Fragen zu beantworten, Bekanntschaften mit anderen Patienten zu erleichtern – kurzum: in den ersten Tagen einfach immer zur Seite zu stehen. Mein Pate Alfred, ein kräftiger, sanftmütiger Mann Anfang 40, und ich verstehen uns auf den ersten ausgesprochenen Satz. Schnell entdecken wir Gemeinsamkeiten und eine gewisse Zuneigung füreinander. Abends nimmt er mich zusammen mit anderen Patienten mit in ein italienisches Restaurant in der Nähe der Klinik. Wir trinken Bier, natürlich alkoholfrei, reden und lachen. Ich bin ernsthaft überrascht, wie schnell ich mich in diese Gruppe eingliedern kann, mich innerlich auch integriert fühle. Ich lache ehrlich aus tiefstem Herzen, zeige meinen Humor zum Besten und stelle mich damit nicht selten in den Mittelpunkt. Nach allem Stress klingt dieser Tag im Endeffekt gut aus.
Wieder in der Klinik angekommen, pflichtbewusst pünktlich um zweiundzwanzig Uhr dreißig, erwarten mich natürlich ein Alkohol-(Blas-)Test sowie das Messen meines Blutdruckes und Pulses. Aufgrund meiner verordneten Tabletten und des Defizits der letzten Nacht falle ich in einen Schlaf, der so ruhig und sorgenfrei ist, wie ich ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehabt habe.
Tag 2 | Fluchtgedanken
Heute ist ein Tag mit unglaublich vielen Terminen, an denen ich zeitweilig glaube, zusammen zu brechen. Kaum eine Minute des Vormittags kann ich für mich allein sein. Das ganze Team äußert große Besorgnis, da sie für das Wochenende erwarten, dass ich unter starken Alkoholentzugserscheinungen leiden würde. In ihrem Haus könnten sie dafür nicht den geschützten Rahmen bieten. Daher bitten sie mich immer und immer wieder, mich für die kommenden Tage in einer geschlossenen Psychiatrie unterbringen zu dürfen. Noch immer verstehe ich ihre Befürchtungen nicht und glaube nicht daran, dass mein Alkoholkonsum Entzugserscheinungen hervorbringen könne. Wieder bestimmen zahllose Arztvisiten meinen Tag. Ich lehne jegliche Empfehlung der Ärzte einer angeblich dringenden Psychiatrieeinweisung rigoros ab, indem ich damit drohe, dort endgültig durchzudrehen und dadurch überhaupt nicht mehr in ihre Klinik zurückzukommen. Man versucht mir einzureden, dass ich dem ganzen Team durch meine Einwilligung, das Wochenende auf einer geschützten Station zu verbringen, eine große Last abnehmen würde. Dies wiederum schürt in mir unbehagliche