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Blicke durch Glasscherben: Werden Opfer einer Genmanipulation zu Tätern?
Blicke durch Glasscherben: Werden Opfer einer Genmanipulation zu Tätern?
Blicke durch Glasscherben: Werden Opfer einer Genmanipulation zu Tätern?
eBook395 Seiten5 Stunden

Blicke durch Glasscherben: Werden Opfer einer Genmanipulation zu Tätern?

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Über dieses E-Book

Der Einbruch bei Prof. Radloff bringt den Verdacht auf, dass er seine Patienten durch Genmanipulationen zu heilen versuchte. Obwohl es den Anschein hat, als hätte er damit Erfolg gehabt, weisen die Ereignisse darauf hin, dass unberechenbare Nebenwirkungen aufgetreten sein könnten. Schuf er Menschen mit Killerinstinkten? Müssen Menschen sterben, um das Geheimnis des Professors zu wahren? Oder stecken ganz andere Motive hinter den Verbrechen?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Aug. 2022
ISBN9783347703377
Blicke durch Glasscherben: Werden Opfer einer Genmanipulation zu Tätern?
Autor

Erwin Sittig

Erwin Sittig wurde 1953 in Güstrow geboren. Sein Studium an der TU Dresden schloss er 1977 als Dipl.-Ing. für Informationstechnik ab. Heute lebt der Schriftsteller mit seiner Frau in Ludwigsfelde. Da er auch Hobbyfotograf ist, erstellt er gelegentlich seine Cover selbst.

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    Buchvorschau

    Blicke durch Glasscherben - Erwin Sittig

    Blicke durch Glasscherben

    Kapitel 1

    Das schmiedeeiserne Tor, das den Zugang zum Park verwehrte, war ein Kunstwerk, das mit beeindruckenden Ornamenten bestach, die in höchster Präzision gestaltet waren. Um dieses Werk zu krönen, hatte der Künstler an den nach oben auslaufenden Stäben goldene Pfeilspitzen installiert. Eine Menge Fotografen waren dessen Charme erlegen und setzten diese Pracht seit vielen Jahren mit immer neuen Perspektiven in Szene.

    Verankert war das Tor in mit Sandstein verkleideten Pfeilern, die ihm mit warmen Beigetönen schmeichelten. Das goldfarbene Schild, das auf einem der Pfeiler verschraubt war, trotzte dem diesigen Wetter ein geheimnisvolles Leuchten ab. In schwarzen Lettern wies es darauf hin, dass sich hinter dem prachtvoll gestalteten Tor ein Heim für betreutes Wohnen eingerichtet hatte. Bei diesem ersten Eindruck drängte sich jedem vordergründig der Gedanke auf, dass man schon einigermaßen gut betucht sein musste, wenn man hier Angehörige unterbringen wollte. Die Sonne mühte sich gerade damit ab, sich vom Horizont abzuheben, doch ihre Kraft reichte noch nicht aus, den dichten Nebel zu durchdringen. Würde man das Tor öffnen, um das Grundstück zu erschließen, käme man nach ein paar hundert Metern zu einem alten, hervorragend instand gehaltenem Gutshaus. Die mit Kopfsteinpflaster befestigte Straße führte direkt vor das große Eingangsportal, das man über eine beeindruckende, geschwungene Treppe erreichen konnte. Über dem Portal präsentierten sich auf jeder Etage breite Vorsprünge mit aufwändig gestalteten Balustern. Die weit ausladenden Balkone spendeten dem Ankömmling ausreichend Schutz vor Sonne und Regen. Der Nebel zog vom nahegelegenen See herüber, doch auch die Wiesen des Parks waren noch gut gefüllt mit der Feuchtigkeit der letzten Tage. Man konnte keinen Meter weit sehen. Lediglich ein paar erleuchtete Fenster kündeten vom Erwachen des Morgens, der zur Arbeit rief.

    Leise drangen Wortfetzen vom Balkon der obersten Etage herab, obwohl die Türen geschlossen waren.

    Frau Fink, eine der Betreuerinnen, eilte forsch den Flur entlang. Sie hatte noch die Nacht im Gesicht und hätte gern etwas weitergeschlafen. Doch die Pflicht rief. Eine Pflicht, bei der sie die Dankbarkeit vermisste. Konnten ihre Schutzbefohlenen überhaupt einschätzen, was sie leistete? Sie bremste ihren Schritt, als sie die junge Frau im Bademantel erblickte, die auf sie zusteuerte.

    „Was schleichst du so früh hier herum? Frühstück gibt es erst in zwei Stunden", blaffte sie die Frau an.

    „Ich konnte nicht schlafen. Dann habe ich Sie gehört."

    „Schön, dass du so ein gutes Gehör hast. Jetzt verschwinde wieder in dein Bett, aber zügig!"

    Ihrer Stimme war anzuhören, dass sie nicht ihren Traumjob gefunden hatte. Und das sollte jeder spüren. Besonders wenn sie vor Arbeitsantritt gestört wurde.

    „Frau Fink?", sagte die Frau in singendem Ton.

    „Was denn noch?"

    „Ich dachte, es würde Sie interessieren, wo Ihr Lieblingshalstuch ist, das Sie seit gestern vermissen."

    „Sag schon, wenn du es weißt. Ich habe meine Zeit nicht auf dem Jahrmarkt gewonnen!"

    „Wenn ich nicht irre, hängt es hier draußen auf dem Balkon."

    „Wie sollte es dahingekommen sein?", entgegnete sie mürrisch und warf einen zweifelnden Blick zur breiten Tür, die dort hinführte.

    Sie öffnete sie. Kalte Luft drang herein und sie fröstelte augenblicklich. Am liebsten hätte sie dem sofort ein Ende bereitet, um in die behagliche Wärme des alten Gutshauses zurückzukehren. Doch dieses Tuch liebte sie über alles. Es war ein Andenken aus einem weit zurückliegenden Urlaub, der sie vorübergehend an die große Liebe glauben ließ. Und obwohl sie damals unsäglich enttäuscht worden war, bewahrte sie sich den schönen Teil der Erinnerungen. Dieses Tuch symbolisierte ihre Hoffnung, dass das Leben für sie noch ein paar Tortenstücke bereithalten würde.

    Die Säulen, die hinter den Elementen der Balustrade hinauf strebten, um das Dach des Balkons zu stützen, waren mit rustikalen Lampen bestückt worden. An einer dieser Leuchten hatte sich ihr Tuch verfangen. Erreichen könnte sie es nur, wenn sie auf die Abdeckplatte stiege, die auf den Balustern lag.

    Sie zögerte. Sollte sie sich dieser Gefahr aussetzen?

    „Das ist doch bestimmt so ein dummer Jungenstreich. Oder bist du das gewesen?", fauchte sie die junge Frau an, die bei dem aggressiven Ton noch weiter unter ihre Kapuze des Bademantels kroch.

    „Warum sollte ich so etwas tun? Warten Sie ich hole Ihnen einen Stuhl", rief sie und kam nach ein paar Sekunden mit diesem zurück. Sie stellte ihn an die Balustrade.

    „Bitte", sagte sie freundlich.

    Frau Fink sah den Stuhl an, dann ihr geliebtes Tuch und entschloss sich endlich, den Balanceakt zu wagen. Dabei ließ sie ihrem Ärger freien Lauf und schimpfte vor sich hin.

    „Das wird ein Nachspiel haben. Wehe, wenn mir der Schuldige zwischen die Finger gerät!"

    Mit wackligen Beinen betrat sie den Stuhl und klammerte sich an die Säule. Dann stellte sie einen Fuß auf die Abdeckplatte und zog sich unbeholfen nach oben. Zitternd stand sie dort, immer noch die Säule mit beiden Armen umklammernd. Um an das Tuch zu kommen, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen und eine Hand emporstrecken. In dem Moment, als sie mit den Fingern das Halstuch berührt hatte, spürte sie einen kräftigen Stoß. Sie torkelte und versuchte krampfhaft wieder Halt zu finden, doch ein zweiter Angriff nahm ihr jede Chance. Sie sah entsetzt in das Antlitz der jungen Frau. Vielleicht war es die Überraschung, in deren Gesicht ein Lächeln gesehen zu haben, jedenfalls kam nur ein kurzer Schrei über ihre Lippen, der ungehört verhallte. Die Angreiferin hörte den dumpfen Aufprall auf den Steinen und beugte sich über die Brüstung. Der Körper ihres Opfers lag verdreht auf dem Boden. Auf Grund des Nebels erkannte sie nicht, ob sich eine Blutlache gebildet hatte. Sie sah jedoch, dass sich Frau Fink bewegte. Nicht besonders stark, doch es signalisierte ihr, dass die sich ins Leben zurückkämpfte. Aufgeregt lief sie, während sie jeweils zwei Stufen auf einmal nahm, die zwei Etagen hinunter.

    Als sie die Tür öffnete, schaute sie in die ängstlichen Augen der Erzieherin, die um ihr Leben bettelten. Doch diese Frau hatte ihr schon genug Ärger eingebrockt. Und dem setzte sie jetzt die Krone auf, indem sie sich weigerte, zu sterben. Kurzentschlossen stürzte sie auf sie zu, fasste sie bei den Haaren und riss den Kopf ruckartig nach hinten. Sie hörte die Wirbel knacken und betrachtete mit einem erleichterten Seufzer ihr Werk. Der Tod hatte dieser Frau die Bosheit genommen. Die geöffneten Augen starrten hilfesuchend ihrem Schöpfer entgegen, vor dem sie sicher schon stand, um sich für ihr Leben zu rechtfertigen. Sie genoss den Augenblick einen Moment. Dann drehte sie sich um und rannte ins Haus zurück. Sie würde im Bett liegen, wenn ihre Mitbewohnerinnen sie zum Essen abholten. Später würde sie mit betroffenem Gesicht diesen schrecklichen Unfall bedauern. Genau wie alle anderen, die um die arme Frau Fink herumstehen und die feuchten Spuren der Tat verwischen würden.

    *

    Zwei Tage später schlich eine Gestalt durch die 20 Kilometer entfernte Stadt. Es war ein junger Mann mit einem schwarzen Kapuzenshirt, das er tief ins Gesicht gezogen hatte. Der nahezu vollständig ausgebildete Vollmond unterstützte das warme Licht der Straßenlaternen. Die milden Frühlingstemperaturen verleiteten den Mann nicht dazu, die Kapuze in den Nacken zu streifen. Sie gab ihm Sicherheit. Sie wahrte seine Intimsphäre. Niemand hatte ihn jemals, ohne diese Kopfbedeckung zu Gesicht bekommen, falls er das Haus verließ. Doch selbst wenn er unbeschwert durchs Leben gehen könnte, heute hätte er dieses Outfit gewählt. Sein Vorhaben sollte im Verborgenen bleiben. Noch war die Nacht still. Der Mann wusste, dass die Singvögel frühestens eine Stunde vor Sonnenaufgang ihre Konzerte anstimmten. Wenn alles gut ginge, würden sie vielleicht seine erfolgreiche Mission mit einem Ständchen belohnen, während er seinen Rückweg anträte.

    Er hatte das Villenviertel erreicht. Den Weg zu seinem Ziel hätte er blind beschreiten können. Unzählige Male hatten ihn seine Schritte hier hergeführt, ohne es selbst zu wollen. Ein Motorengeräusch verriet ihm das Nahen einer sehr langsam fahrenden Limousine. Er brauchte sich nicht umsehen, um zu wissen, dass sich ein Streifenwagen näherte. Ohne Hast verbarg er sich hinter einer schulterhohen Hecke, die selbstverständlich picobello gepflegt war und keinerlei Lücken im Bewuchs darbot. Vermutlich erledigte diese Arbeit ein Gärtner, denn diese Leute hatten keine Zeit für derart belanglose Tätigkeiten. Wer in dieser Gegend eine Villa ergattert hatte, war angesehen und oft auch stadtbekannt oder darüber hinaus. In diesem Viertel fuhr die Polizei fast stündlich Streife und das ohne erkennbaren Tourenplan. Für die meisten Hausbesitzer Grund genug, auf eine Alarmanlage zu verzichten. Ein Glücksfall für ihn. Denn Prof. Dr. Leopold Radloff, bei dem er einzubrechen gedachte, verzichtete ebenfalls auf zusätzliche Sicherheit. Den Einbruch hatte er bereits vor langer Zeit geplant, bevor er wusste, was er dort zu suchen hatte. Heute wusste er es. Schon als Jugendlicher hatte er sich einen Abdruck des Sicherheitsschlüssels angefertigt, während der Professor in einem anderen Raum mit seinen Eltern sprach. Es war ihm unverständlich, warum sie ihn ausgerechnet von diesem Mann behandeln ließen, den er wie die Pest hasste. Das war Jahre her. Hoffentlich hatte in der Zwischenzeit niemand das Schloss ausgetauscht. Als die Luft wieder rein war, bog er in die Sackgasse ein, an deren Ende die Villa des Professors lag. Die Außenbeleuchtung war eingeschaltet. Wer einen so exotischen Vorgarten hatte, verspürte offensichtlich den Drang, dass er selbst bei Nacht für jeden zu bewundern sein müsse. Besonders der Elefantenfuß mit seinen riesigen Puscheln und der Blauregen, dessen gewaltiger Stamm in beeindruckender Weise den Eingangsbereich einrahmte, stachen ihm ins Auge. Das bunte Blumenmeer, das der Frühling schon hervorgelockt hatte, war farblich fein abgestimmt. Die Villa selbst strahlte in makellosem Weiß, um zum Bewuchs einen deutlichen Kontrast zu bilden. Die knallig blauen Fensterrahmen drückten vermutlich die Sehnsucht nach dem Meer aus. Doch dafür hatte der Kapuzenmann keinen Blick übrig. Sein Zeitplan war straff. Eine Stunde, dann musste alles Geschichte sein. Der Streifenwagen würde spätestens zu dieser Zeit wieder vorbeifahren. Am Weg, dessen Basaltplatten zum Haus führten, war ein protziges Schild an einer weißen Holzkonstruktion installiert. Professor Dr. Radloff, Humanmedizin stand in großen chrombeschichteten Lettern darauf.

    Der Mann sah es sich verächtlich an. Ihm war ein Rätsel, was die Arbeit des Professors mit Humanismus zu schaffen haben sollte. Seine Augen huschten über die Gartenanlage. Jeder Zentimeter Erde war mit weißen und schwarzen Kieseln abgedeckt, je nachdem, was sie zur Geltung bringen sollten. Kein Platz für Pflanzen, die hier nicht hingehörten. Unkraut und Wildwuchs waren nicht willkommen. Er fühlte sich ebenso wie dieses Unkraut, dem hier keine Chance gegeben wurde. Genug der Gefühlsduselei. Seine Aktion duldete keine Verzögerung.

    Die Tür mit ihren Glaselementen, die durch kunstvolle Facettenschliffe aufgewertet wurde, nahm seinen Schlüssel widerstandslos in ihrem Schloss auf. Jetzt war alles Routine. Er kannte die Räumlichkeiten im Detail. Kunstgegenstände jeglicher Form schwebten an ihm vorbei. Er registrierte sie unbewusst aus den Augenwinkeln heraus. Sie waren für ihn nicht von Interesse. Zielstrebig bewegte er sich zu den Praxisräumen. Der Schrank mit den Patientenakten stand am gewohnten Platz. Die oberen Schübe waren nicht verschlossen. Während er einige Akten durchblätterte, gelangte er zu der Erkenntnis, dass er hier nicht fündig werden würde. Da er damit gerechnet hatte, dass die prekären Fälle besser gesichert waren, hatte er sich Werkzeug mitgebracht. Den Schrank des Professors hatte er noch vor Augen gehabt, als er sich im Möbelhaus das Modell vorführen ließ. Einen Experten zu finden, der solche Sicherheitsschränke mühelos knacken könnte, war nicht sehr schwer. Die Fähigkeit war ihm leicht zu vermitteln. Ein paar Handgriffe, ein kurzer, kräftiger Schlag, und das Fach sprang auf. Das Geräusch kam ihm intensiver als erwartet vor. Die gläserne Tür zum Praxisraum war nicht dazu geeignet, um die Schallwellen zu dämmen. Instinktiv hielt er die Luft an und lauschte. Er hoffte, dass der Professor einen guten Schlaf und ein schlechtes Gehör hatte. Hastig blätterte er durch die Patientenakten und atmete erleichtert aus, als er auf die gesuchten Namen stieß. Er nahm sie heraus und stopfte sie unter sein Shirt. Ohne das Fach wieder zu schließen, es war ohnehin ersichtlich, dass er aufgebrochen wurde, rannte er durch die Tür. Im Eingangsbereich sah er eine Person im Schlafanzug die Treppe herunterkommen. Er sah nur flüchtig hin, damit sein Gesicht durch die Kapuze verborgen blieb. Es gab jedoch keinen Zweifel, dass er den Professor vor sich hatte. Der Mann lebte schon viele Jahre allein hier. Seine Frau hatte er in ein Pflegeheim einweisen lassen, da ihm die Zeit fehlte, sich selbst um sie zu kümmern. Außerdem war es seinen Patienten nicht zumutbar, hier eine kranke Person erleben zu müssen. Schließlich suchten sie bei ihm Heilung. Womöglich würde der Gedanke aufkommen, dass er hier versagt hätte. Und so löste er dieses Problem mit Geld. Das war immer die sauberste Lösung.

    Der Kapuzenmann beschleunigte seine Schritte, doch der Professor zerrte an seinem Ärmel, um ihn aufzuhalten. Instinktiv senkte er den Kopf und rammte ihn auf die Brust des Professors. Der taumelte zurück, stolperte über die unterste Stufe und krachte rückwärts auf die Treppe. Ein kurzer Schmerzensschrei und ein klägliches Stöhnen nährten die Hoffnung, dass sein Opfer diesen Sturz überleben würde. Hastig öffnete er die Tür, orientierte sich in allen Richtungen und verschwand annähernd lautlos in der hell erleuchteten Straße. Er achtete darauf, stets an den etwas höher bepflanzten Grundstücksgrenzen entlangzuschleichen, um sich gegebenenfalls in ihrem Schatten verbergen zu können. Bei Erreichen der ersten Weggabelung hatten ihn immer noch keine Hilfeschreie des gestürzten Professors erreicht. Sorge beschlich ihn. War er vielleicht doch zum Mörder geworden. Als die ersten Vögel ihren fröhlichen Gesang anstimmten, wertete er dies als hoffnungsvolles Zeichen.

    *

    Pia Liebig hatte im Sprechzimmer Platz genommen. Sie war der Einladung Ihrer Therapeutin, Frau Helene Dorn, gefolgt. Es war Routine, dass alle Schutzbefohlenen des Wohnheimes in regelmäßigen Intervallen zum Gespräch geladen wurden. Auch wenn die meisten Bewohner freiwillig hier lebten, so waren sie doch Patienten. Überwiegend waren es deren Eltern, die den kostspieligen Aufenthalt in dem luxuriösen Heim für betreutes Wohnen finanzierten. Man erwartete eine umfassende fachliche Betreuung und turnusmäßige Berichte zur Entwicklung der Angehörigen.

    Pia, eine junge Frau von 24 Jahren, schaute lächelnd durch eine gelbliche Glasscherbe, um den Raum zu analysieren. Als das Skelett in ihr Blickfeld geriet, verfinsterte sich ihr Blick. Sobald sie es als harmlos eingestuft hatte, fand sie zu ihrem Lächeln zurück. Obwohl sie sehr häufig in diesem Büro saß, vollführte sie diese Prozedur jedes Mal. Es war ein Spleen von Pia, ihre Welt, egal ob Mensch, Tier oder Pflanze, durch eine Scherbe zu betrachten. Sie behauptete, dass sich dadurch das Wesen der Dinge offenbart. Sie erkannte augenblicklich, ob etwas gut oder böse, harmlos oder gefährlich war. In ihrer Hosentasche führte sie stets drei bis vier dieser Glasscherben mit sich. Die Kanten hatte sie zuvor an rauen Steinen glattgeschliffen, um Schnittverletzungen zu vermeiden. War ihr erster Blick mit Zweifeln behaftet, holte sie eine zweite Scherbe heraus, um ihr Urteil zu überprüfen.

    In Kombination mit ihren weinroten, struppigen Haaren, die nur bis zum Nacken reichten, wirkte sie etwas verrückt. Doch ein Blick in ihre Augen und die sanftmütigen Gesichtszüge überzeugten jeden, dass mit ihr alles in Ordnung war. Es gab sogar erste Nachahmer, die voller Überzeugung behaupteten, durch eine Scherbe nun auch die Menschen erkennen zu können. Sie sahen, was sie hinter der Maske versteckten.

    Pia hatte sich angewöhnt, entweder weite Pluder- oder Palazzohosen anzuziehen, damit die Scherben genug Bewegungsfreiheit hätten. Gewöhnlich trug sie lockere Blusen dazu und gelegentlich einen Loopschal. Als Schuhwerk kamen nur Sportschuhe infrage, die einen lautlosen Gang ermöglichten.

    Frau Dorn kündigte sich schon von weitem an. Ihre harten Hacken hallten über den Flur. Erwartungsvoll wendete Pia ihren Blick zur Tür.

    „Wie immer pünktlich, Pia, begrüßte sie die junge Frau. „Kannst du das nicht auch den anderen beibringen?, sagte sie scherzhaft.

    „Sie hatten nur Glück, dass ich nichts Wichtigeres vorhatte", konterte Pia und lächelte ihre Therapeutin an. Erneut hob sie die Scherbe und sah hindurch.

    „Werde ich deiner Prüfung standhalten?"

    „Sie haben heute Schatten auf der Seele. Sie sollten sie abstreifen. Das macht krank."

    „Fein beobachtet Pia. Leider ist das nicht so einfach. Du weißt, was vor ein paar Tagen geschehen ist."

    „Es ist geschehen. Doch heute ist heute. Die Sonne hat die Schatten längst ausgelöscht. Wo haben Sie ihre her?"

    „Einen Menschen zu verlieren, ist nicht angenehm. Sie war eine Kollegin. Es ist tragisch, wegen eines Halstuchs zu sterben."

    „Ich habe sie durch meine Scherbe angesehen. Es war nichts Gutes, was da zum Vorschein kam."

    „Willst du sagen, dass sie den Tod verdient hat?"

    „Niemand verdient den Tod. Uns wurde das Leben geschenkt und Geschenke sollte man in Ehren halten. Haben sie es denn verdient, den Schatten dieser unangenehmen Frau weiter mit sich herumzutragen?"

    „Meinst du nicht, dass dir die Scherben auch falsche Bilder vermitteln können?"

    „Nein. Ich habe mehrere Scherben. Sie sagen die Wahrheit. Sie haben auch Ihre Schatten gezeigt. Achten Sie darauf, dass Sie sich nicht noch mehr Schatten einfangen. Daraus schlüpft das Böse."

    Pia hatte das voller Überzeugung vorgetragen, die von jedem Gesichtsmuskel unterstützt wurde.

    *

    Frau Dorns Gedanken schweiften ab. Das Mädchen hatte schon immer in den abstrakten Testbildern die unmöglichsten Sachen gesehen. Gelegentlich erkannte sie darin sogar Gefühle. Der Fall Pia Liebig war jedem Arzt, jedem Therapeuten ein Rätsel. Ursprünglich hatte man sie als Autistin eingestuft, die auch ADHS-belastet war. Die Akten aus Kindertagen waren eindeutig. Alle Symptome waren vorhanden. Ihre Konzentrationsfähigkeit war gestört, Unpünktlichkeiten und Trödeln waren dominierend, die Feinmotorik ließ zu wünschen übrig und emotional war sie instabil. Der Zugang zu einem normalen Gefühlsleben war ihr nicht möglich, so dass soziale Kontakte immer mit Schwierigkeiten behaftet waren. Irgendwann gab es einen unerklärlichen Knick zum Besseren, denn diese Krankheit galt als unheilbar. Den Einsatz von Medikamenten lehnte die Familie strikt ab. Doch selbst nach diesen positiven Veränderungen blieb Pia unzuverlässig. Da es nicht absehbar war, dass sie je in einem Beruf Fuß fassen könnte, bezahlten die Angehörigen diesen Heimplatz für betreutes Wohnen. Wohlwissend, dass dies für ihr gesamtes Leben so sein würde.

    Das Mädchen hatte sich dahingehend stabilisiert, dass sie eine umfangreiche Gefühlswelt entwickelt hatte und zu sozialen Kontakten fähig war, was nicht ins Krankenbild passte. Dennoch blieb sie unzuverlässig, da spontane Eingebungen, jede vorherige Planung über den Haufen warfen.

    Nun saß sie vor ihr. Ein liebenswertes Mädchen, das im Heim anerkannt war. Ihre ganze Art führte dazu, dass sie die Menschen entwaffnen konnte, sei es mit Worten oder einem unschuldigen Lächeln.

    Pia sorgte sich um ihre Therapeutin, dass die Last der Schatten sie erdrücken könnte. Sie teilte ihr dies mit. Frau Dorn lächelte sie an.

    Das Mädchen fühlte sich zu ihr hingezogen. Sie war schon 63 und wirkte fast wie eine junge Frau. Obwohl sie ergraut war, hatte sie ein nahezu faltenfreies, schmales Gesicht. Ihre Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, was den aufkommenden Eindruck des Alters verscheuchte. Manchmal wünschte sie sich, Frau Dorn käme in ihr Zimmer und würde sie in den Schlaf singen. Die eigene Mutter hatte sich das Leben genommen, als Pia 12 Jahre alt war. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass sie der Wunsch nach mütterlichen Kontakten gelegentlich hinwegtrug. Die Stimme ihrer Therapeutin riss sie aus ihren Tagträumen. Frau Dorn saß nicht mehr auf ihrem Bett, sondern auf dem Bürostuhl im Sprechzimmer.

    „Mal davon abgesehen, dass du mir meine Schatten nehmen möchtest, was hättest du Frau Fink gewünscht?"

    „Dass sie etwas realistischer ist, entgegnete Pia. „Sie hatte sich eingebildet, ein Schmetterling zu sein und zu spät bemerkt, dass sie nicht fliegen kann.

    „Es war ein Unfall, Pia. Sie hatte nicht versucht zu fliegen. Ihr Seidenschal war vom Wind weggetragen worden und an der Lampe hängengeblieben. Beim Versuch, ihn zu fassen ist sie abgestürzt."

    „Wer zu sehr an seinem Besitz hängt, kann schnell mal vergessen, dass man nicht fliegen kann. Sie würde noch leben, wenn ihr das Tuch egal gewesen wäre."

    „Du meinst sie hätte die Gefahr besser eingeschätzt, wenn der Schal nicht diese Bedeutung für sie gehabt hätte?"

    „Schmetterlinge können fliegen, weil sie nichts mit sich herumschleppen. Darum sind sie so leicht und der Wind trägt sie überall hin. Sie müssen nur ihre Segel richtig setzen. Ich brauche auch nichts. Manchmal lasse ich mich vom Wind treiben. Wo ich hin möchte, werde ich immer weich landen."

    „Also leidest du nicht unter diesem schrecklichen Unfall?"

    „Unter welchem Unfall? Frau Fink ist an ihrer Dummheit gestorben. Sie wird daraus gelernt haben."

    Es war offensichtlich, dass es sinnlos wäre, das Gespräch weiter auszudehnen. Erfreulich war, dass dieses Ereignis keine Psychose bei dem Mädchen auslösen würde. Pia ruhte in sich selbst. Es hätte sie gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Das Mädchen war in ihrem Kokon sicher. Man erwartete vom Fachpersonal, dass alle Gefahren von ihren Schützlingen ferngehalten werden. Bei ihrem nächsten Termin sah das schon kritischer aus. Ida Stuwe war ein komplett anderer Fall. In ihren Augen zeigte die Frau schizophrene Krankheitssymptome, die ihre Eltern nicht wahrhaben wollten. Die Entwicklung einer Angstpsychose wäre bei ihr nicht auszuschließen.

    „Dann danke ich dir für deine Zeit, Pia. Bleib schön vorsichtig und fliege uns nicht davon."

    „Keine Sorge, ich werde immer zu ihnen zurückfinden."

    Pia verabschiedete sich lächelnd mit einem kräftigen Händedruck und verließ den Raum. Auf dem Flur wartete Ida. Augenblicklich erstarb Pias Freundlichkeit. Sie hatte Ida schon oft durch die Scherben betrachtet. Welche davon sie auch verwendet hatte, es versetzte sie in Angst, was sie dann sah.

    „Na du Freak. Hat dir die Dorn deine Hirngespinste ausgetrieben?", fragte Ida mit voller Verachtung.

    Pia starrte sie an. Sie war nur ein paar Jahre älter, wirkte aber schon wie eine alternde Frau. Ihre strähnigen, ungewaschenen Haare verstärkten diesen Eindruck. Ohne auf sie zu reagieren, rannte Pia davon. Sie fühlte sich am wohlsten, wenn ein möglichst großer Abstand zwischen ihnen bestand.

    Kapitel 2

    Der Streifenwagen parkte direkt vor der Villa des Professors Radloff. Die Polizisten betrachteten ehrfurchtsvoll den Vorgarten mit all seinen seltenen Pflanzen. Sie kannten kaum eine davon und fühlten sich in eine andere Welt versetzt. Beide waren sich einig, dass der Mann hierfür einen sündhaft teuren Gartenarchitekten engagiert haben musste. Vermutlich wird der mehr gekostet haben, als sie zusammen in einem Jahr verdienen. Zaghaft beschritten sie den fast steril wirkenden Natursteinweg, der zur Haustür führte. Einbruchspuren waren nicht zu erkennen. Sie klingelten. Den Professor kannten sie aus einigen Pressemitteilungen, die ihn als einen der führenden Genforscher auswiesen. Bei der Herfahrt hatten sie schon gewitzelt, ob sie sich auf einen genmanipulierten Kampfhund einstellen sollten. Jetzt, da sie die Schritte des nahenden Professors hörten, spürten sie doch ein unwohles Gefühl in der Magengegend. Durch die Facettenscheiben zeichnete sich ein verzerrtes Bild des alten Mannes ab. Ihnen waren Fotos bekannt, auf denen er immer schnittig und herrisch aussah. Davon war nicht mehr viel übrig. Er wirkte wesentlich älter und das Weiß der Haare hatte inzwischen die dunklen Partien fast vollständig verdrängt. Dennoch stand eine gepflegte Erscheinung in sportlicher Kleidung vor ihnen, die auf das Preisschild verzichten konnte. Selbst das ungeübte Auge erkannte, dass nur edelste Stoffe diesen Mann einhüllten. Sein Auftreten stellte von Anfang an klar, dass er etwas zu sagen hatte, mehr als seine Besucher.

    „Da sind sie ja endlich. Ich hatte bereits vor einer Stunde angerufen", maulte er.

    „Wir waren gerade im Einsatz, als wir informiert wurden. Wir mussten den Fall erst abschließen", rechtfertigten sie sich.

    Radloff brabbelte etwas in seinen Vollbart, was sich anhörte wie „Sie sind ja nie da, wenn man sie braucht" und lief voraus.

    „Folgen sie mir. Ich zeige Ihnen alles."

    „Vielleicht sollten wir erst mit der Spurensuche an der Einbruchstelle beginnen. Ist der Täter durch ein Fenster eingedrungen?"

    „Nein. Durch diese Tür."

    „Stand sie offen?"

    „Gott bewahre. Der Kerl muss einen Schlüssel gehabt haben. Weiß der Teufel, woher."

    „Wer besitzt alles einen Schlüssel zu ihrem Haus?"

    „Niemand."

    „Und ihre Reserveschlüssel? Haben Sie schon nachgeschaut?"

    „Halten sie mich für senil?"

    „Sie haben den Mann gesehen? Ist auszuschließen, dass es eine Frau war?"

    „Mein Gott, was schickt man mir hier für Leute. Sie bezweifeln, dass ich Männlein und Weiblein unterscheiden kann? Haben sie noch alle beieinander?"

    „Einbrecher tarnen sich ja gern. Und nicht immer ist eindeutig, ob die Statur zu einem bestimmten Geschlecht passt. Sie haben sein Gesicht gesehen?"

    „Nein. Er hatte eine Kapuze auf, die er tief herunter gezogen hatte. Als er mich angriff, hielt er den Kopf gesenkt. Und stieß ihn gegen meinen Brustkorb. Hab mir einige Prellungen zugezogen. Ich kann mir aber denken, um wen es sich handelt."

    „Wie das?"

    „Kommen Sie mit, dann wird es Ihnen klar."

    Sie folgten ihm durch das Foyer, das mit Kunstschätzen übersät war, und konnten diesen Überfluss gar nicht fassen.

    „Hat er Wertgegenstände gestohlen?"

    „Nein. Der Kerl hatte es nur auf ein paar Akten abgesehen."

    Radloff zog den unteren Schub auf.

    „Wir würden Sie bitten, nichts zu verändern. Das muss sich erst die Spurensicherung ansehen."

    „Das können Sie sich sparen. Er hat Handschuhe getragen. Außerdem gehe ich davon aus, dass er seine eigene Akte ebenfalls mitgehen ließ."

    „Das werden wir überprüfen."

    „Hab ich schon. Es fehlen die Akten von Pia Liebig, Ernst Schäler und Paul Weber."

    „Sie haben schon die Schränke durchsucht?"

    „Bevor ich Sie rufe, muss ich doch klären, was fehlt. Die Frage hätten Sie mir doch sowieso gestellt."

    „Wir dachten, Sie haben gleich nach dem Einbruch angerufen?"

    „Und darum sind Sie so überaus schnell gekommen, um den Täter noch vor Ort zu stellen. Richtig? Wollen Sie mich verarschen? Sie lassen sich alle Zeit der Welt, aber dem Opfer gestehen Sie keine Zeit zu?"

    „Wann fand der Einbruch denn statt?"

    „Weiß nicht mehr. So gegen 5 Uhr. Oder etwas früher."

    „Wir haben es jetzt 10 Uhr."

    „Der Einbruch war gestern gegen 5 Uhr."

    „Sie haben einen ganzen Tag gewartet?"

    „Ich musste meine Verletzungen behandeln. Außerdem wollte ich sicher sein, was entwendet wurde und welche Auswirkungen das haben kann. Die drei Fälle habe ich zuerst auf dem Computer durchleuchtet."

    „Worum geht es dabei?"

    „Das geht Sie gar nichts an. Ist geheim."

    „Wir können Ihnen nur helfen, wenn wir in alles eingeweiht sind."

    „Würden Sie das dem Verteidigungsminister auch sagen? Wie naiv sind Sie eigentlich? Hier haben Sie die zwei Adressen, wo die Patienten zur damaligen Zeit gewohnt haben. Schreiben Sie die zur Fahndung aus, wenn nötig."

    „So viel kann ich Ihnen schon mal sagen, dass wegen eines so geringfügigen Deliktes keine Fahndung ausgelöst wird. Es ist nichts Wertvolles gestohlen oder beschädigt worden. Wir werden die Verdächtigen aufsuchen und alles daran setzen, sie zu finden, falls sie ihren Wohnort gewechselt haben. Aber ohne Einsatz der Spurensicherung werden wir dem Täter unter Umständen nichts nachweisen können, zumal Sie ihn nicht erkannt haben."

    „Sind Sie geistesgestört? Es wurde nichts von Wert gestohlen? Meine Akten sind außerordentlich wertvoll. Nur, weil Ihr Spatzenhirn das nicht zu fassen vermag, können Sie den Fall nicht bagatellisieren."

    „Überlegen Sie, was Sie sagen, Professor Radloff. Zwingen Sie mich nicht, wegen Beamtenbeleidigung gegen Sie vorzugehen."

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