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Irrgarten der Seelen
Irrgarten der Seelen
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eBook439 Seiten6 Stunden

Irrgarten der Seelen

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Über dieses E-Book

Gerd Paschek entdeckt, durch Studium des Taoismus, die Möglichkeit, andere Seelen zu bereisen. Fortan macht er es sich zur Aufgabe, in Not befindlichen Menschen zu helfen, indem er bei Tätern und Opfern, Manipulationen an ihrer Seelenwelt vornimmt. Während dieser Reisen verliert er die Kontrolle über seinen Körper, so dass er wiederholt ins Krankenhaus eingeliefert wird. Er weiht die junge Ärztin Wiebke ein, die ihm fortan zur Seite steht.
Gemeinsam gehen Sie Paschas Weg weiter. Überrascht stellen sie fest, dass ein Widersacher, mit gleichen Fähigkeiten und krimineller Energie, sein Unwesen treibt.
Sie nehmen sich auch der Menschen an, die von ihm psychisch unter Druck gesetzt werden, um Geld zu erpressen. Durch diese neuen Erfahrungen wird ihnen bewußt, wie gefährlich ihre Arbeit ist und welche Macht sie durch die Manipulation einer Seele erringen können. Sehr bald erkennen sie, dass auch ihre Fehlentscheidungen Schaden anrichten. Irgendwann müssen sie die Frage beantworten: Ist ein durch sie ausgelöster Tod einem Mord gleichzusetzen?
Durch eine weitere Fehlentscheidung wird eine kranke Seele freigesetzt, so dass es plötzlich nicht nur für sie ums nackte Überleben geht.
Es stellt sich ihnen die Frage, ob man eine mordende Seele durch einen Mord, der nicht nachweisbar ist, einfach auslöschen darf. Jedes Zögern kann Menschenleben kosten. Doch der Gegner hat mehr Fähigkeiten als ihnen lieb ist.
Die Geschichte lebt auch von den psychologischen Betrachtungen der Handlungen und Menschen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Dez. 2020
ISBN9783347123830
Irrgarten der Seelen
Autor

Erwin Sittig

Erwin Sittig wurde 1953 in Güstrow geboren. Sein Studium an der TU Dresden schloss er 1977 als Dipl.-Ing. für Informationstechnik ab. Heute lebt der Schriftsteller mit seiner Frau in Ludwigsfelde. Da er auch Hobbyfotograf ist, erstellt er gelegentlich seine Cover selbst.

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    Buchvorschau

    Irrgarten der Seelen - Erwin Sittig

    Irrgarten der Seelen

    Kapitel 1

    Die Jalousette war leicht angewinkelt. Mit Macht zwängte sich die Sonne hindurch und verlieh dem Raum ein freundliches Schattenmuster. Eine Palme reckte dankbar ihre Wedel zum Licht. Sie drängte dem Bett entgegen, in dem teilnahmslos ein junger Mann lag. Diverse Schläuche und Elektroden versorgten und kontrollierten seinen Körper mithilfe komplizierter Apparaturen, die über einen Computer Kontakt zum Ärztezimmer hielten.

    Seit vielen Monaten experimentierten die erfahrensten Ärzte an diesem Patienten herum.

    Sein Krankheitsbild war einmalig. Die Literatur bot keinen vergleichbaren Fall, an dem man sich orientieren könnte.

    Eigentlich brauchte der Mann unter der Palme diese Apparaturen nicht. Sie dienten der Forschung und sicherten einen eventuellen Notfall ab. Es war nicht das erste Mal, dass man Gerd Paschek in dieser Klinik versorgte. Immer waren es die gleichen Symptome.

    Das Herz verringerte seine Schlagfrequenz auf ein Minimum, die Atmung war kaum wahrnehmbar und es wurden keinerlei Hirnströme gemessen.

    Trotz des scheinbaren Hirntodes beobachtete man gelegentlich physische Körperreaktionen. Die heftigen Bewegungen der äußeren Extremitäten passten genauso wenig in dieses Krankheitsbild, wie die deutlich bewegte Physiognomie seines Gesichtes. Eine geheimnisvolle Kraft schien diesen Körper mit Energie zu versorgen.

    Die Ratlosigkeit stachelte die Ärzte an. Sie hatten die Chance etwas Neues, ganz Großes zu entdecken. Sie würden es herausfinden und koste es das Leben des Patienten, der für sie schon lange tot war.

    Gerd Paschek, den alle Pascha nannten, befand sich schon häufig in diesem Zustand, so dass in den Krankenhäusern der Umgebung haarsträubende Geschichten darüber erzählt wurden. Die Krankheit befiel ihn niemals daheim, nur wenn er unterwegs war.

    Immer löste sich das Problem nach einer gewissen Zeit in Wohlgefallen auf, ohne dass die Wissenschaftler je eine Erklärung dafür fanden. Pascha kehrte jedes Mal überraschend ins Leben zurück und war nie bereit, darüber zu sprechen. Doch diesmal lag der Fall anders. Noch nie hatte Pascha bei einem Ausflug in den Tod, wie es die Ärzte nannten, diese Ausdauer an den Tag gelegt. Es waren bereits mehrere Monate vergangen, ohne dass sich etwas am Zustand des Patienten verändert hätte. Gewöhnlich begnügte sich Pascha mit einem Tag dieser Krankheit.

    In ihrer Verzweiflung zogen die anwesenden Spezialisten einen operativen Eingriff in Erwägung, von dem sie sich Aufschluss über die Ursache dieses Zustandes versprachen, mit dem sie der Patient schon so lange in Atem hielt. In den nächsten Minuten würde die Entscheidung zur Vorgehensweise fallen.

    Die Schwestern lösten Pascha von den medizinischen Geräten und schoben ihn in den Operationssaal.

    Den Ausgangspunkt der operativen Forschung sollte das Gehirn bilden. Ein Eingriff, von dem Niemand vorhersehen konnte, was er bringen würde, zumal für einige Ärzte die Heilung eher sekundär war. Obwohl der Patient durch die Häufigkeit seiner Anfälle gewarnt sein müsste, hatte er für diesen Fall keine Vorsorge getroffen. Es lag kein Einverständnis zur Operation vor, so dass man die nächsten Verwandten aufsuchte, um dieses zu erwirken. Es war nur eine Frage der Darstellung, um den besorgten Eltern die Erlaubnis zu diesem Eingriff abzuringen. Die letzte Hürde war damit genommen, so dass nun ein hektisches Treiben voller Erwartungen losbrach, das alle Eventualitäten zu berücksichtigen versuchte.

    Eine junge Ärztin hatte verzweifelt darum gekämpft, ihre Kollegen von diesem irrwitzigen Vorhaben abzubringen. Seit ihrem ersten Kontakt mit dem Patienten verfolgte sie seine Entwicklung, in der Hoffnung einem Rätsel auf die Spur zu kommen, das die Wissenschaft umdenken lässt.

    Ausführliche, tiefgründige Gespräche mit dem „Pascha" der Krankenhäuser, verhalfen ihr zu umfassenden Erkenntnissen bezüglich der Macht der Seele, die scheinbar imstande war, den Körper zu verlassen, ohne den Kontakt zu ihm zu verlieren.

    Es hatte lange gedauert, bis Pascha sich ihr anvertraute. Ihm war bewusst, dass man ihn als Spinner verschreien würde, wenn er seine Erlebnisse der Öffentlichkeit mitteilte.

    Die kleine zierliche Ärztin Wiebke hatte schon längst die Gewissheit, dass Paschas Berichte Hand und Fuß hatten. Sie glaubte an die Fähigkeit der Seele, auf Wanderschaft zu gehen, seit Pascha ihr im eigenen Körper einen Besuch abgestattet hatte, um es ihr zu beweisen.

    Es war ein Erlebnis, das sie jede Regung ihres Inneren bewusster beobachten ließ. Ihr war, als ob sie erst seit diesem Augenblick erkannt hatte, was Leben ist.

    Betrübt verfolgte sie die Vorbereitungen zur bevorstehenden Operation, die sie nicht verhindern konnte. Um sich zu beruhigen, überflog sie noch einmal ihre Aufzeichnungen über den Lebensweg des Gerd Paschek, genannt Pascha.

    Paschas Kindheit war von Einsamkeit gezeichnet.

    Die Natur hatte ihn nicht mit Schönheit beschenkt, so dass er schon dadurch selten mit freundlicher Aufmerksamkeit bedacht wurde. Er hatte sogar das Gefühl, dass sich seine Eltern seinetwegen schämten. Es waren nicht nur die Segelohren, die ihm zu schaffen machten. Ein Übermaß an Sommersprossen, eine leuchtend rote Haarpracht, ein hagerer Körper und eine kleine Hasenscharte, hielten seine Sorgen auf Trab. Er erfuhr frühzeitig, dass der Mensch in erster Linie nach dem Aussehen beurteilt wurde. Glücklicherweise lernte er schnell, damit umzugehen, ohne psychische Störungen davonzutragen.

    Aus seiner Sicht beschränkte sich die Liebe seiner Eltern auf den Kauf von Geschenken, Kleidung und Nahrungsmitteln. Sie ließen ihn deutlich spüren, dass er ihnen lästig war.

    Bis zum siebenten Lebensjahr fanden sich zwar gelegentlich Spielkameraden, doch mit zunehmenden Alter wurden Äußerlichkeiten immer mehr zum entscheidenden Grund für eine Freundschaft.

    Es dauerte nicht lange und Gerd befand sich in besorgniserregender Isolation.

    Da er ein Mensch ohne Aggressionen war, flüchtete er sich nicht in Wutausbrüche, sondern zog sich mehr und mehr in sich zurück. Er schaute in sich hinein und suchte dort den Sinn des Lebens. Zuflucht und Zwiegespräche fand er in den Büchern, die seine einzigen Freunde waren. Anfangs hätte er diese liebend gern gegen solche aus Fleisch und Blut getauscht.

    Doch wer sprach schon seine Sprache, fühlte seine Gefühle und bemühte sich, mit seinen Augen zu sehen? Er war umgeben von egoistischen, hartherzigen und unbeherrschten Menschen, die sich nicht die Zeit nahmen, genauer hinzusehen und keinen Gedanken daran verschwendeten, was sie, mit ihren gleichgültigen oder aggressiven Worten und Handlungen, anrichteten. Selbst seine hilfeheischenden Vorwürfe, die er ihnen zaghaft nahe brachte, werteten sie als unberechtigte Kritik und Angriff, um danach ihre Attacken umso heftiger fortzusetzen.

    Pascha hätte sich damit arrangiert, wenn dieses absurde Spiel, das ihm das Leben fast unerträglich erscheinen ließ, nur auf seine Altersgenossen, beschränkt geblieben wäre. Was bei den Kindern vielleicht noch entschuldbar war, fand seine Fortsetzung, in gefestigter Form, bei den Erwachsenen. Selbst seine Eltern verhielten sich ihm gegenüber nicht anders.

    Gerd Paschek hatte berechtigte Gründe, mit den Menschen zu brechen, doch er hatte die Gabe, auf das Gute zu hoffen und zu verzeihen.

    Mit ca. acht Jahren fiel ihm durch Zufall ein Buch in die Hände, das ihn sofort faszinierte. Lesen hatte er schon vor dem Schulbeginn gelernt, so dass ihm diese Literatur keine Schwierigkeiten bereitete.

    Gerd studierte das Tao-System. Aus dem Wissen heraus, dass Körper und Geist eine Einheit sind, befasste er sich damit, beides bewusst zu steuern. Der Taoismus beherrschte von nun an seine gesamte Freizeit. Wer ihn bei seinen eigenartig anmutenden Übungen überraschte, hielt ihn für verrückt und sorgte dafür, dass die Hänseleien, denen er ohnehin schon ausgesetzt war, eine Steigerung erfuhren.

    Die Jahre vergingen.

    Gerd, der inzwischen mit den taoistischen Übungen weit vorangeschritten war, störten die Attacken seiner Mitmenschen nicht mehr. Er hatte seinen inneren Frieden gefunden. Er beherrschte es, nicht nur seine Körperfunktionen gezielt zu steuern, so dass er jede aufkommende Krankheit im Keim erstickte, er setzte seine geistige Energie auch so ein, dass er zu einem erfüllten Leben fand.

    Die philosophischen und gesellschaftlichen Theorien des Taoismus bestimmten sein Denken und verschafften ihm mit der Zeit Anerkennung. Diese wurde ihm jedoch nur vom Lehrkörper der Universität zuteil, wo er erfolgreich ein Studium der Biologie absolvierte.

    Doch das kostbare Gut einer Freundschaft, blieb ihm verwehrt.

    Gerd analysierte jede menschliche Regung, um auf ihre Ursachen zu stoßen. Die strengen Regeln, die er sich selbst auferlegte, versuchte er auch anderen nahe zu bringen. Doch er stieß nur auf Spott.

    Während dieser Zeit büßte Gerd Paschek seinen Familiennamen ein. Aus Paschek entstand sein Spitzname „Pascha".

    Da Pascha von sich behauptete, den erleuchteten Geist zu haben, schritt er auf seinem Weg zum Außenseiter weiter voran. Niemanden der Studenten bewegte er dazu, sich mit seinen taoistischen Ideen auseinanderzusetzen. Sie passten nicht in die mit Stress und Hektik gespickte Leistungsgesellschaft.

    Pascha schöpfte seine Kraft aus der Ruhe. Selbst bei größten Anforderungen fand er einen Moment, in dem er sich abkapselte und tief in sich drin für Ordnung sorgte.

    Nichts erschütterte ihn. Er wurde sein eigener Meister.

    Schließlich kam dieser denkwürdige Tag in seinem Leben. Pascha hatte sich in seiner Studentenbude zur Meditation zurückgezogen, um seine Übungen zur „Reinigung des Gehirns" durchzuführen. Dadurch werden die Energien im Körper vermehrt und bestehende Krankheitszustände erkannt. Er lenkte seine Energieströme durch alle Meridiane des Körpers. Dabei saß er vor dem geöffneten Fenster und hatte, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten, den Blick auf ein anmutiges, jugendliches Mädchen geheftet. Sie saß in einem Zimmer auf der anderen Straßenseite vor dem Spiegel und kämmte versonnen ihr langes, schwarzes Haar.

    Pascha spürte, wie sein Geist durch den Körper glitt. Unmerklich verschob sich seine Konzentration auf dieses faszinierende Bild. Er hatte das Gefühl, dass sein Geist zu dem Mädchen drängte. Immer mehr gewann er den Eindruck, dass sein Körper schwebte. Plötzlich stürzte er in eine undefinierbare Tiefe. Wie im freien Fall schoss Pascha durch einen schummrigen Tunnel, an dessen Ende ein bizarres Licht loderte.

    Von diesem Ereignis überrascht, entfuhr ihm ein greller Schrei, der die Nachbarschaft aufhorchen ließ.

    Dann tauchte er weich in eine ihm unbekannte Welt ein. Er landete in einem Raum, dessen Wände mit Glitter behaftet waren und der von sanfter, melodisch-mystischer Musik erfüllt war. Leichte Nebel schwebten zwischen zarten Häufchenwolken und eine angenehm helle, diffuse Lichtquelle warf ihre Strahlen wohltuend in diese Dekoration. Allmählich hob sich der Umriss eines menschlichen Wesens ab, das tanzend durch die Luft zu schweben schien.

    Pascha schritt langsam, wie gebannt, auf diese Erscheinung zu. Die Konturen des Gesichtes wurden deutlicher und er erkannte das Mädchen, das er eben noch vor einem Spiegel im Nachbarhaus wahrgenommen hatte. Mit staunenden Augen sah sie ihn an.

    Eine wütende Schimpftirade aus einem angrenzenden Raum brachte die Musik zum Stocken.

    Furcht beherrschte plötzlich die Augen des Mädchens. Wie von einem starken Sog wurden Wolken und Nebel fortgerissen und ließen einen kahlen Raum zurück, dessen Glitterwände nun völlig kalt wirkten, da sie ihrer stimmungsvollen Lichtquelle beraubt worden waren.

    Das Mädchen stürzte hart auf den Boden und setzte sich vergeblich dem Sog zur Wehr, der auch sie erfasste.

    Während sich ihre verzweifelten Blicke an ihn hefteten, entfernte sie sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Ihr durchdringender Hilfeschrei bohrte sich durch die Leere des Raumes und vervielfachte sich in einem Echo.

    Dieses „Hilf mir, bitte hilf mir!", setzte sich in seinem Kopf fest und ließ ihn nicht mehr los.

    Der Sog erfasste auch Pascha. Er bräuchte sich nur fallen lassen und würde dem Mädchen folgen.

    Doch alles in ihm wehrte sich dagegen. Er befand sich an einem Ort voller Ungewissheit. Instinktiv kämpfte er gegen den Sog an und arbeitete sich dorthin zurück, von wo er gekommen war.

    Stück für Stück gelang ihm dies, bis er in eine kleine Nebelwolke eintauchte.

    Es folgte der freie Fall in die entgegengesetzte Richtung und Pascha schreckte hoch, als er in seinen Körper zu sich kam.

    Sofort lief er ans Fenster und presste seine Nase an die Scheibe, als könne er auf die Art seinem Ziel ein Stück näher kommen.

    Das Mädchen hatte aufgehört, ihr Haar zu kämmen. Im Nachbarzimmer schlug ein betrunkener Mann, der offenbar ihr Vater war, auf sie ein. Ihre Mutter versuchte, ihn weinend von diesen Grausamkeiten abzuhalten. Vergeblich. Es brachte ihr ebenfalls ein paar Schläge ein.

    Endlich ließ er von ihnen ab und verließ torkelnd die Wohnung. Schluchzend lagen sich Mutter und Tochter in den Armen.

    Plötzlich hob das Mädchen den Kopf und schaute intensiv und ausdauernd zu Paschas Fenster hinüber.

    Pascha kam es vor, als höre er wieder ihre Hilfeschreie.

    Lange konnte er den Blick nicht abwenden. Wie sollte er dieses Vorkommnis einschätzen? Gab es eine logische Erklärung dafür?

    Pascha war geübt, in der Analyse von Ereignissen. So unwahrscheinlich es auch klang, es gab nur eine Schlussfolgerung: Paschas Seele hatte sich auf Wanderschaft befunden und war in die eines anderen Menschen eingetaucht.

    Ihm war bewusst, dass es für immer sein Geheimnis bleiben müsste, um nicht als vollständig verrückt abgestempelt zu werden.

    Um seine letzten Zweifel zu beseitigen, war es zwingend erforderlich, das ungewollte Experiment, das mit seiner Meditation eingeleitet worden war, zu wiederholen. Er würde dieses Mädchen noch einmal besuchen. Doch vorher galt es zu überlegen, welchen Sinn diese Aktion haben könnte.

    Wieder drängten sich ihm die Hilfeschreie auf und erneut sah er das Bild vor sich, wie der Blick des Mädchens sein Fenster suchte.

    Sein Entschluss war unumstößlich. Gleich am nächsten Morgen würde es geschehen.

    Die Nacht plagte ihn mit Träumen. Teile seiner Erlebnisse, kehrten wieder und mahnten zur Eile. Der morgendliche Blick durchs Fenster sagte ihm, dass die Wohnung verlassen war.

    Das erinnerte ihn daran, dass ein langer Tag an der Uni auf ihn wartete.

    Lustlos schlang er sein Essen hinunter und begab sich auf den Weg zur Vorlesung.

    Er hätte sich diesen Tag an der Uni sparen können. Obwohl er früher niemals seine Selbstbeherrschung verloren hatte, ertappte er sich nun dabei, wie er vollkommen unkonzentriert, den Ausführungen des Dozenten folgte. Er nahm es zwar akustisch wahr, doch kein Wort erreichte ihn wirklich. „Hilf mir!", hallte es in seinem Kopf und alle Gedanken arbeiteten nur noch in diese eine Richtung. Auf welche Art und Weise war eine Hilfe für dieses Mädchen realistisch?

    Pascha beschloss seine sinnlose Anwesenheit im Hörsaal, die heute nur der Statistik diente, zu beenden. Er packte seine Mappe zusammen und schlenderte in den Stadtpark. Die frische Luft, am kleinen Bach hinter der Wiese, belebte ihn. Pascha konstatierte, wie sich sein Gehirn beruhigte.

    Gesetzt der Fall, seine Theorie stimmt, so war erwiesen, dass eine akustische Verständigung mit der Kontaktperson möglich ist. Weiterhin fühlte er sich darin bestätigt, dass sein Eindringen in die fremde Seele nachhaltige Spuren hinterlassen hatte. Was sonst hatte das Mädchen dazu bewegt, den Blickkontakt zu ihm zu suchen.

    Die Tatsache, dass ein Ebenbild des Mädchens, in ihrer Seele scheinbar physisch existierte, sprach dafür, dass sie den Kern aller Empfindungen darstellte. Am eigenen Körper, bzw. an der eigenen Seele, hatte er gespürt, dass der Sog, der durch die Bedrohung vom Vater, heraufbeschworen worden war, bei ihm körperliche Wahrnehmungen ausgelöst hatte. Das verdeutlichte ihm, wie verletzlich die Seele war.

    Hier sollte Pascha einsetzen. Das Mädchen hatte sich in seine heile Traumwelt geflüchtet, als er bei ihr eindrang. Um ihre Seele zu schützen, hätte er ihr folgen müssen, als das bedrohliche Ereignis einsetzte. Doch da er noch keine Erfahrung mit den Gesetzen der Seelenwelten besaß, konnte er nur abwarten und der Situation entsprechend reagieren.

    Es war für Pascha nicht nachvollziehbar, was einen Menschen zu derartigen Gewaltausbrüchen treiben konnte. Sicher wurden auch ihm als Kind kleine Prügeleien aufgezwungen, doch ein Erwachsener hatte nie Hand an ihn gelegt.

    Seine eigenen Probleme erschienen ihm vergleichsweise unbedeutend. Wie könnte ein unerfahrener Mensch, wie er, hier helfen? Wenn er schon nicht verstand, wie es zu solch extremen Reaktionen kommen konnte, wie will er dann einen gewaltbereiten Menschen davon abhalten?

    Durch seine taoistische Lebensweise war Hass für ihn ein Fremdwort. Wieso hatte der sich dort eingenistet? Oder war es gar kein Hass? War es Hilflosigkeit? Lag die Schuld unter Umständen bei diesem Mädchen? Welcher Anlass könnte so etwas rechtfertigen?

    Je länger Pascha darüber nachdachte, umso verwirrter wurde er. Die erlebte, friedvolle Atmosphäre im Innern des Mädchens bestärkte ihn in der Überzeugung, dass von ihr keine Ursache für die Ausschreitungen gesetzt worden war.

    Er verabscheute ungelöste Probleme. Seine Überlegungen sagten ihm, dass er bei der Begegnung mit unbekannten Menschen, auf alles gefasst sein müsse. Eine gründliche Vorbereitung war unumgänglich.

    Pascha sehnte den Abend herbei. Schon am frühen Nachmittag setzte er sich ans Fenster, um die Wohnung des Mädchens zu beobachten. Der Vater war noch nicht zuhause.

    Zusammen mit ihrer Mutter bereitete die Kleine das Abendessen vor. Zwischen beiden schienen keine Spannungen zu bestehen. Die gemeinsame Angst vor der zu erwartenden Heimkehr des „Hausherren" war vermutlich ein starkes Bindeglied.

    Die Seelenwanderung wollte Pascha erst einleiten, wenn der Vater zuhause eingetroffen wäre.

    Die Wartezeit war kurz. Der Vater öffnete die Tür und begrüßte seine beiden Hausfrauen mit einem flüchtigen Kuss. Dann ergriff er eine Flasche Bier und ließ sich erschöpft in den Sessel fallen. Mutter und Tochter deckten den Tisch.

    Nachdem alle Platz genommen hatten, beschloss Pascha, die Reise anzutreten. Er kannte die Situation, die anwesenden Personen und würde nun Ereignisse zuordnen können.

    Er setzte sich in entspannter Haltung vor das Fenster und leitete die Meditation ein. Die angespannte Erwartungshaltung erschwerte es ihm, den richtigen Einstieg zu finden. Doch dann spürte er, wie gewohnt, seine Energie durch die Meridiane fließen und er verlagerte seine Konzentration auf das Mädchen.

    Das Schwebegefühl wechselte wiederum in einen ausgedehnten freien Fall. Diesmal unterdrückte Pasche den Schrei. Er war darauf vorbereitet.

    Er hatte erwartet, die gleiche Umgebung vorzufinden, wie beim letzten Besuch.

    Doch er täuschte sich gewaltig. Die Landung erfolgte auf einem kleinen Felsvorsprung.

    Vor ihm tat sich ein riesiger Abgrund auf, über den ein breites Drahtband führte, so dass er bequem zwei Füße nebeneinandersetzen könnte. In der Tiefe brodelte eine rote Flüssigkeit, die kochend heiß zu sein schien. In gewissen Abständen platzten gewaltige Blasen, deren dampfende Spritzer fast bis zum Drahtband emporgeschleudert wurden.

    In einiger Entfernung entdeckte er das Mädchen, das sich ängstlich auf dem Band, über dem Abgrund, vorwärtsbewegte, um das rettende Ende zu erreichen. Pascha rief nach ihr, doch die zischenden und grollenden Geräusche aus der Tiefe übertönten ihn.

    Was hatte das zu bedeuten?

    Eine kurze Analyse war nötig, bevor er handelte.

    Der erste Besuch hatte ihm eine romantische, fast kitschige Traumwelt geboten, als er das Mädchen allein vor dem Spiegel angetroffen hatte. Diese Welt wurde bei Eintreffen des betrunkenen Vaters sofort durch eine chaotische, gefährliche Umgebung ersetzt, die er nicht zu erforschen gewagt hatte.

    Diesmal war ihm bekannt, dass die Familie am Tisch sitzt und sich über die Gefühlswelt des Vaters nicht im Klaren ist. Der Mann schien nicht betrunken zu sein, aber offenbar rechneten sie mit seinem Jähzorn. Von diesem Gefühl der Ungewissheit wurde die Seele des jungen Mädchens geplagt. Sie versuchte, alles zu tun, um einen Absturz zu vermeiden. Übertragen auf die Situation hieß das, nichts Falsches zu tun und nichts Falsches zu sagen. Jeder Schritt musste wohl bedacht sein.

    Sie hatte die Mitte des Bandes erreicht. Um mit ihr zu reden, müsste er ihr folgen. Jetzt erst entdeckte Pascha am anderen Ende des Bandes einen schlafenden Hund, der eine Kreuzung zwischen Rottweiler und Orang-Utan darstellte. Vermehrte Aktivitäten der brodelnden Lava, waren immer mit einer Unruhe im Schlaf des Hundes verbunden.

    Pascha verstand nicht, warum sich das Mädchen ausgerechnet in diese Richtung bewegte. Zitternd tastete er sich vor. Jetzt erst lernte er das Gefühl der Geborgenheit, in seiner eigenen Seele, zu schätzen.

    Wie war es möglich, dass ein Mensch täglich diese Ängste erträgt? Er sah dem Mädchen an, dass es eine gewisse Routine bei diesem Balanceakt aufwies. Pascha nahm allen Mut zusammen und beschleunigte seinen Schritt. Bald hatte er an die 20 Meter zurückgelegt. Der Mut kehrte zurück.

    Plötzlich erfuhr das Drahtband eine Veränderung. Es schrumpfte merklich.

    Die Breite des Bandes bot nur noch für einen Fuß Platz, so dass Pascha unwillkürlich in die Knie ging, um sich abzustützen. Dabei zitterte er so intensiv, dass er das Band zum Schwingen brachte. Diese Welle übertrug sich spürbar auf das Seil und erreichte das Mädchen. Überrascht drehte sie sich um. Sie erkannte ihn sofort.

    Freudestrahlend kam sie auf ihn zu. Doch ein erneutes Schrumpfen verwandelte das stabile Drahtband in ein dünnes Seil, so dass beide abrutschten und sich mit Händen und Beinen hangelnd weiter bewegten. Er verdrängte die Frage, was bei ihrem Absturz geschähe.

    Pasche durchfuhr der Gedanke, dass seine Anwesenheit Schuld an der gefährlichen Situation war. Durch die Freude über seinen Besuch wird das Mädchen eine Unbedachtheit begangen haben, die den Vater reizte. Zu dumm, dass er die Vorgänge im Zimmer nicht wahrnehmen konnte. Nicht einmal die Worte drangen ins Innere. Jeder Impuls schien in ein bildhaftes Symbol umgewandelt zu werden.

    Beide Seelen kamen sich immer näher. Das Mädchen hatte sich gefangen. Das Drahtband nahm wieder die ursprüngliche Dimension an. Ja, es schien so, als ob es sogar breiter geworden war.

    Unter ihnen brodelte es weiter. Die emporgeschleuderten, rot glühenden Blasen nahmen die Form von Krokodilköpfen an, die nach den Seiltänzern schnappten.

    Das Mädchen ließ sich dadurch nicht irritieren und strebte zügig vorwärts.

    Dann standen sie sich gegenüber. Pascha überlief eine Gänsehaut. Das Mädchen hatte eine Vielzahl von Narben davongetragen, die ihr Gesicht und andere Körperteile verunstalteten. Ihm fiel eine frische Wunde an deren Hals auf, die noch nicht vollständig verkrustet war. Vermutlich eine Folge der Ereignisse um den gestrigen Strudel.

    Es war eine arg geschundene Seele, der sich nun die Sehnsucht nach Trost und Beistand bemächtigte. Beide lagen sich in den Armen und Pascha spürte, wie sich ihr kalter Körper langsam erwärmte. Aber auch für ihn war diese Begegnung wohltuend, da er zum ersten Mal der Einsamkeit entronnen war, die seine Seele so ausgebleicht hatte. Ein Hauch von Röte legte sich über seine Haut. Doch dies blieb ihm verborgen.

    Pascha hatte viele Fragen und das Mädchen stand dem nicht nach. Es wurde eine lange Unterhaltung auf dem Drahtseil, das in seiner Breite weiterhin unbeständig war.

    Auf diese Weise erfuhr Pascha ausführlich vom harten Leben der Kleinen.

    Nur die alkoholarmen Tage des Vaters brachten etwas Ruhe in ihren Kampf gegen die Angst. Da ihre Mutter nicht die Kraft fand, sich von ihm zu trennen, war ein Ende dieser Tragödie nicht abzusehen.

    Pascha würde es nie gelingen, diese Horrorwelt, in der sich die Seele des Mädchens bewegte, zu zerstören. Die Ursache dafür, lag außerhalb von ihr.

    Ein großartiger Gedanke bemächtigte sich seiner. Warum nimmt er diese gemarterte Seele nicht mit, in seine Welt?

    Langes Reden war nicht nötig, um sie zu überzeugen. Nach kurzer Zeit hatten sie den Rand des Abgrunds erreicht, der der Übergang in eine vielversprechende Zukunft sein könnte. Ein letztes Mal schnappten die lodernden Krokodilköpfe nach ihnen und erwischten Pascha leicht am Bein. Er nahm den Schmerz nur unbewusst wahr.

    Der freie Fall brachte beide in Paschas Körper. Als er wieder zu sich kam, bemerkte er sofort, dass etwas Ungewohntes in ihm war. Ein Blick aus dem Fenster gab ihm Gewissheit.

    In der Wohnung des Mädchens herrschte große Aufregung. Sie lag regungslos neben dem Tisch, während sich ihre Eltern ratlos um sie bemühten.

    Pascha beherrschte zwar ein wohliges Gefühl, aber ebenso der ständige Drang aus dem Fenster zu sehen. Dies wurde sicher durch den Wunsch des Mädchens ausgelöst, ihren Körper zu schützen. Pascha hatte keine Ahnung, welche Auswirkungen ein längerer Ausflug der Seele hat. Da die Gefahr bestand, dass die Seele der Kleinen ihren Körper verlieren könnte, entschloss er sich, das Mädchen zurückzuschicken.

    Sein Tunnel schoss vor und nach einer kurzen Ankopplung und einem herzlichen Abschied zog er sich sofort wieder zurück.

    Gleich darauf sah er, wie sich der Körper des Mädchens erhob. Ihm fiel ein Stein von der Seele. Vermutlich hätte er seinen inneren Frieden nie wieder gefunden, wenn ihr etwas passiert wäre.

    Eine neue Frage drängte sich auf. Was hatte sie erlebt?

    Zu gern hätte Pascha erfahren, mit welchen Räumlichkeiten seine Seele das Mädchen empfangen hatte.

    Es war wieder mal spät geworden. Im Zimmer gegenüber sah er das schüchterne Winken des Mädchens, als sie Blickkontakt aufgebaut hatten. Ihr makelloses Gesicht hatte einen Hauch von Glück aufgelegt. Von Narben gab es keine Spur. Dann löschte sie das Licht.

    Pascha schaute noch lange zum dunklen Fenster hinüber.

    Wollte er dem Mädchen helfen, müsste er in die Höhle des Löwen. Doch was würde ihn erwarten, wenn er die Seele eines gewalttätigen Alkoholikers besucht? Bestehen für ihn Gefahren, die seine Seele vernichten können? Die Narben der Tochter ließen es vermuten.

    Die gepeinigte Seele des Mädchens gab ihm mehr Mut, als er sich zugetraut hatte. Es gab für ihn nur diesen Weg.

    Pascha schaute weiterhin zum Fenster des Mädchens. In ihrem Zimmer war die gleiche, verschwiegene Dunkelheit wie vorhin. Eine Welle von wohltuender Wärme durchströmte Paschas Körper, wenn er daran dachte, dass er den dunklen Räumen auf der anderen Seite zu etwas Licht verholfen hatte. Dieses Licht hieß Hoffnung. Die Blicke des Mädchens hatten diese Hoffnung getragen und wiegte sie nun in einen befreienden Schlaf. Zum ersten Mal war ein Mensch auf ihn angewiesen. Zum ersten Mal spürte er die Kraft der menschlichen Wärme, die ihren Weg durch dicke Mauern und über ungastliche Straßen fand. Zum ersten Mal war das Leben lebenswert, weil er fremdes Leid teilte. Zum ersten Mal erfasste auch ihn begründete Hoffnung, dass es Menschen gibt, für die es sich zu leben lohnt. Aber es war nur ein Gefühl, das Bestätigung suchte. Dort drüben lebte eine Leidensgefährtin. Zog es ihn darum zu ihr hin?

    Sind vielleicht nur die Menschen zu echten Gefühlen fähig, die selbst den Weg des Leids beschritten hatten? Wie dem auch sei, es war ein bewahrenswertes Gefühl, eine Seele kennengelernt zu haben, die in ihm etwas Stolz auf das Wesen Mensch erwachen ließ.

    Am nächsten Tag schlenderte Pascha durch die Straßen. Es war Wochenende. Fast alle Studenten nutzten es, um zu ihren Familien zu fahren. Dieses Verlangen quälte ihn nicht. Was würde er dort schon verpassen? Streitereien der Eltern und Vorhaltungen über seine Albernheiten, wie sie seine taoistischen Übungen nannten, hatte er nicht auf seinem Wunschzettel. Also blieb er hier.

    Hinzu kam das Gefühl, gebraucht zu werden. Gab es einen besseren Grund, die Heimfahrt auf später zu verschieben? Als er zuhause anrief, um sein Ausbleiben anzukündigen, war seiner Mutter deutlich die Erleichterung anzumerken. Oder bildete er es sich nur ein?

    Pascha hatte dieses Gespräch bald wieder vergessen. Erneut sann er über die letzten Ereignisse nach.

    Nie hätte er gedacht, dass eine Seele so verunstaltet werden kann. Diese bewegenden Bilder, im Innern des Mädchens, machten ihm erneut bewusst, wie empfindsam eine Seele ist.

    Auch jetzt, während er durch die Straßen schlenderte, fiel ihm auf, wie gedankenlos die Menschen miteinander umgingen. Der barsche Ton dominierte das Leben vieler von Ihnen.

    War es die Angst, Gefühle zu zeigen, die andere in den Schmutz ziehen könnten? War es die Befürchtung, als Nächster seinen Job zu verlieren, oder auch nur, nicht geachtet zu werden? Der Mensch versteckt sich hinter einer eisernen Maske. Eine Maske, die ihn vor scheinbaren Gefahren schützen soll und doch die Seele verkümmern lässt.

    Pascha wäre gern in den einen oder anderen hineingehuscht, um zu sehen, wie es tatsächlich in ihm aussähe, doch er durfte sich nicht verzetteln. Vorrang hatte sein Mädchen.

    Wie es der Zufall ergab, lief ihm der Vater des Mädchens über den Weg. Er hatte sich herausgeputzt und steuerte zielstrebig auf eine Gaststätte zu. Frühschoppen war angesagt.

    Pascha folgte ihm unauffällig und suchte sich einen Tisch in der Nähe des Mannes und seiner Stammtischrunde.

    Während Pascha ein paar Säfte trank, versuchte er dem Gespräch der Männer zu folgen. Jeder berichtete von der Arbeit und den häuslichen Ereignissen. Es war ein gemeinsames Band, das alle zusammenhielt. Die übermäßigen Pflichten, denen sie nicht entrinnen konnten, schien sie zu ersticken. Stress und Mobbing im Betrieb und ein Privatleben, das durch Ansprüche der Familie eingeschränkt wurde, machten das Maß voll. Die Autorität, die sie in der Firma nicht waren, wollten sie mit Gewalt in den heimischen vier Wänden erkämpfen.

    Der Alkohol steigerte ihr Mitteilungsbedürfnis. All ihren Frust redeten sie heraus. Da jeder den anderen dabei zu übertrumpfen versuchte, gab es bald die ersten scharfen Worte. Nur die unermüdlichen Beschwichtigungsversuche des Wirtes verhinderten Schlimmeres.

    Angewidert beobachtete Pascha die Szene. Das hagere Gesicht des Vaters zeichnete sich in so scharfen Konturen ab, dass es ein Abbild seiner Seele sein musste, grob und unnachgiebig.

    Das Verständnis, das die Männer anfangs füreinander aufgebracht hatten, war vollkommen verschwunden. Niemand von ihnen ertrug es, dass seine Probleme geringer, als die eines anderen sein sollten. Niemand von ihnen erwähnte auch nur andeutungsweise, dass ihre Frauen und Kinder ebenfalls Probleme haben könnten. Sie zerflossen im Selbstmitleid und ersetzten ihre Hilflosigkeit durch Aggressionen.

    Es war beeindruckend, welche Macht der Wirt über sie hatte. Ihm waren sie hörig. Seinen Worten folgten sie. Er war der Herr ihres letzten „gemütlichen" Zufluchtsortes. Ohne ihn hätten sie gar nichts mehr.

    Pascha stellte sich vor, wie dieser Tag, nach der Heimkehr des Vaters, für sein Mädchen werden wird. Es war abzusehen, dass heute neue Wunden an ihrer Seele entstünden. Wollte er ihr das ersparen, musste er sofort handeln.

    Es fiel ihm nicht schwer, zu meditieren, wenn andere Menschen um ihn herum waren, und so beschloss er, seinen Plan sofort in die Tat umzusetzen. Er konzentrierte sich auf die Zielperson und tauchte bald in den bekannten schummrigen Tunnel ein, der ihn ans Ziel bringen würde.

    Pascha merkte nicht mehr, wie sein Körper zusammensackte und in den komaähnlichen Zustand fiel. Einige Zeit später geriet die ganze Kneipe in Aufruhr. Auch der Vater des Mädchens sorgte sich um ihn.

    Es dauerte nicht lange und der herbeigerufene Rettungswagen brachte Pascha in ein Krankenhaus. Die Ärzte bemühten sich redlich und standen vor einer unlösbaren Aufgabe. Die verantwortliche Ärztin, Wiebke, gab nicht auf. Stunden verbrachte sie damit, die Ursache für dieses Krankheitsbild herauszufinden.

    Inzwischen war Pascha in die Seele des Vaters eingetaucht.

    So wie er vermutet hatte, sah es in diesem Menschen nicht gastlich aus.

    Ein großer, freier Platz empfing ihn. Kühler, heftiger Wind fegte allerhand Unrat über ihn hinweg. Am Rande des Platzes stand eine Reihe überquellender Mülltonnen, gefolgt von einem Fabrikgelände, dass sich hinter, mit Stacheldraht bewehrten Zaunfeldern, versteckte.

    Am Rande des Platzes bewegte sich ein kleines Wesen, das sich bequem hinter einer dieser Mülltonnen verstecken könnte. Beim Näherkommen bemerkte Pascha, dass diese Person im Groben die Gesichtszüge des von ihm besuchten Vaters trug. Bekleidet war es mit zerrissenen Jeans und einem beschmierten Boxershirt.

    Der Körper sah dem eines Bodybuilders täuschend ähnlich, was ihm, durch seinen Zwergenwuchs, ein kurioses Aussehen verlieh.

    Pascha war noch nicht bemerkt worden. Aufgeregt lief das Männchen hin und her. In seiner Hilflosigkeit wirkte es noch kleiner. Wie Pascha später erfuhr, war es der Moment, als sich der Mann eifrig um den zusammengebrochenen Körper von Pascha bemühte.

    Er sprach das Männlein an und im gleichen Augenblick schlugen zwei Hunde an, die das Fabrikgelände sicherten. Dabei sprangen sie erregt am Gitter hoch und versuchten, die vermeintlichen Störenfriede zu verjagen.

    Entsetzt starrte das Männchen auf die kläffenden Tiere und stürzte übereilt davon. Pascha folgte ihm durch unzählige, verwinkelte Gassen.

    Nachdem der Krankenwagen gerufen worden war, verließ der Vater die rauchdurchzogene Kneipe. Leicht schwankenden Schrittes strebte er seiner Wohnung entgegen. Ein aufkommendes Hungergefühl ließ ihn die Vorkommnisse in der Gaststätte bald vergessen.

    In der Wohnung angekommen, stellte er mit einem Blick fest, dass er noch eine geraume Zeit auf sein Essen zu warten hatte. Seine Frau und seine Tochter arbeiteten fieberhaft daran. Sie hatten

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