Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Mondsucherin: Eine Adoption und ihre Folgen
Die Mondsucherin: Eine Adoption und ihre Folgen
Die Mondsucherin: Eine Adoption und ihre Folgen
eBook426 Seiten5 Stunden

Die Mondsucherin: Eine Adoption und ihre Folgen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

An ihrem 21. Geburtstag erfährt die Studentin Magdalena von Vermes von einem Notar, dass sie adoptiert wurde! Sie erhält einen Brief der bereits verstorbenen leiblichen Mutter und ein geheimnisvolles Buch. Ihre junge kleine Welt gerät völlig aus den Fugen. Magdalena fühlt sich betrogen und bricht den Kontakt zu ihren Eltern ab, nur zur Großmutter hält sie die Beziehung aufrecht. Sie wird zu ihrer Verbündeten und Freundin bis über den Tod hinaus.Wild entschlossen nun auch die restlichen Wurzeln ihrer Herkunft zu identifizieren, beginnt sie die Suche nach ihrem leiblichen Vater. Diese entwickelt sich zur Suche nach der eigenen Identität. Eine schicksalhafte Rolle spielt dabei der Mond. Magisch angezogen folgt sie ihm in die Antarktis. Dort trifft sie auf den jungen Biologen Mikail, der ihren Blick auf die Welt komplett verändert. Doch dunkle Schatten der Vergangenheit verfolgen sie. Magdalena kann dem Leben und seinen Geschenken noch nicht vertrauen. Getrieben von der Sehnsucht nach Antworten auf ihre noch offenen Fragen reist sie weiter nach Afrika. Dort lernt sie einen Medizinmann kennen. Fasziniert von seiner Persönlichkeit folgt sie ihm zu seinem Stamm. Der Schamane führt für sie eine Heilräucherung durch. Was nun geschieht, hatte sich die junge Frau in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Geläutert, mit innerer Klarheit und einem Plan kehrt sie voller Tatendrang nach Haus zurück, wo sie von ihrer Freundin bereits sehnsüchtig erwartet wird.Dort angekommen erwartet sie noch jemand: Mikail! Das Glück scheint nun vollkommen.Doch noch sind nicht alle Schatten der Vergangenheit bereinigt. Ein düsteres Geheimnis von Mikails Vorgesetztem bedroht die Zukunft des jungen Paares. Es gilt noch eine alte Rechnung aus Studententagen zu begleichen, die tragischer nicht sein könnte. Doch dieses Mal ist das Schicksal nicht Gegner, sondern Verbündeter, hoffentlich?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Sept. 2013
ISBN9783849568702
Die Mondsucherin: Eine Adoption und ihre Folgen

Ähnlich wie Die Mondsucherin

Ähnliche E-Books

Persönliche & Praktische Leitfäden für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Mondsucherin

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Mondsucherin - Frederike Böhme

    Brief an mein geliebtes unbekanntes Kind Teil 1

    Mein geliebtes Baby, wenn Du diesen Brief liest, werde ich nicht mehr am Leben sein. Ich will dir hiermit sagen, wie sehr ich Dich liebe, auch über den Tod hinaus.

    Kein Tag verging, an dem ich nicht an Dich dachte oder Dich schmerzlich vermisste. Nur die Gewissheit, dass Du in einer guten Familie aufwächst, hat mir die Zeit bis zu meinem Tod erträglich gemacht. Ich weiß, dass Deine Adoptiveltern dir alles ermöglichen, was sie können. Auch das verdient Würdigung.

    Ich bestand darauf, als ich Dich zur Adoption freigeben musste, zu erfahren, zu was für Menschen du kommen solltest. Eine unübliche Bedingung, doch sie wurde mir gewährt.

    Ich erzähle Dir hier die Geschichte, meine, Deine, unsere. Vielleicht schaust Du ja, wenn Du alles eines Tages verarbeitet haben wirst, in den Himmel, zu den Sternen, zum Mond und spürst meine Liebe. Hoffentlich spüre ich auf der anderen Seite des Lebens, dass auch Du dieses Gefühl für mich empfindest.

    Wer weiß …

    Herzenswärme und Innigkeit sind unsterbliche Weggefährten. Sie existieren so lange wir Menschen uns diese Gefühle erlauben.

    Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden.

    Ich war 23 Jahre alt, studierte begeistert Philosophie und Psychologie. Ich genoss mein Studentenleben in vollen Zügen. Dazu gehörten, so wirst Du es hoffentlich auch einmal erleben, eine Menge Partys. Auf einer solchen lernte ich Deinen Vater kennen.

    Wir verliebten uns und ich wurde schwanger, aber nicht nur das, ich erhielt zeitgleich noch die verheerende Diagnose: Multiple Sklerose!

    Für mich war innerhalb eines Gespräches von 15 Minuten mit meinem Arzt meine ganze Zukunft zerbrochen. Noch schlimmer war, dass mein Papa zu diesem Zeitpunkt selbst schon seit längerer Zeit gegen den Krebs kämpfte. Meine Eltern boten mir an, wieder zu Hause zu wohnen, da es ja nun mit dem Studieren vorbei sei. Ich wollte davon zuerst gar nichts hören, weil ich den beiden nicht zusätzlich zur Last fallen konnte. Sie waren ja ohnehin schon durch die Erkrankung meines Vaters gebeutelt genug.

    Meine Entzündungswerte lasen sich wie ein Kapitel aus einem Horrorheftchen und so blieb mir keine andere Wahl, als nach Hause zurückzukehren. Ich wurde mir mehr und mehr meiner ausweglosen Situation bewusst.

    Kein Arzt traute sich genau voraussagen, wie sich die Krankheit entwickeln würde, wie lange ich mich noch ohne fremde Hilfe würde bewegen können usw.

    Mit dem Gedanken, ein Baby zu bekommen, hatte ich mich schnell angefreundet und tiefes Glück für das Kleine, in mir heranwachsende Wesen empfunden. Es fällt Dir leichter, meine Situation im Nachhinein zu verstehen, wenn ich Dir die Krankheit so gut ich das als Laie kann, beschreibe. Deswegen hier ein paar Informationen:

    Die Multiple Sklerose (MS) wird als Encephalomyelitis disseminata (ED) bezeichnet und ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), deren Ursache trotz großer Forschungsanstrengungen noch nicht geklärt ist. Sie ist neben der Epilepsie eine der häufigsten neurologischen Störungen bei jungen Erwachsenen. Die Entzündungen verursachen Narben, diese führen zu, wie in meinem Fall, ausgeprägten Funktionsstörungen. MS ist eine Krankheit, die Gehirn und Rückenmark befällt. Im Zentralnervensystem gibt es über 20 Milliarden Nervenzellen, die untereinander mit einer noch viel größeren Zahl von Leitungsbahnen verbunden sind. Bei mir wurden und werden durch diese Entzündungen fast alle Bahnen zerstört. Es gibt Fälle, wo die Krankheit in Etappen/ Attacken verläuft. Dazwischen kommt es häufig wieder zu Besserungen des Befindens. In meinem Fall schritt sie jedoch von Beginn an stetig fort. Heilende Medikamente gibt es derzeit nicht, obwohl intensiv geforscht wird. Mir wird leider der medizinische Fortschritt nicht mehr zugutekommen.

    Mein Vater war, trotz seiner Erkrankung, sehr tapfer. Er löste meine Studentenwohnung auf und baute mit Freunden den Keller des Hauses zu einer kleinen Wohnung aus. Als wir beginnen wollten, sie einzurichten, verstarb mein Papa. Jetzt waren meine Mutter und ich auf uns allein gestellt. Zu dem Kummer über meine Situation kam die Trauer über den Verlust ihres geliebten Mannes.

    Gott sei Dank war mit Dir alles in Ordnung. Du entwickeltest dich prächtig, bestätigte mein Gynäkologe bei jedem Kontrolltermin.

    Meine Mutter jedoch, Deine Großmutter, ertrug die Trauer und Belastung, die meine Krankheit und der Tod meines Vaters verursachten, nicht. Sechs Wochen vor Deiner Geburt erlitt sie einen Herzinfarkt und verstarb.

    Ich glaube, dass ihr gebrochenes Herz und die Sorge um mich dazu geführt hatten.

    Ich saß zu dieser Zeit bereits im Rollstuhl. Der Krankheitsverlauf hätte durch die Einnahme von starken Medikamenten verzögert werden können. Dies hätte aber bedeutet, dass Du bleibende Schäden wegen der zu erwartenden Nebenwirkungen zurückbehalten würdest. Das wollte ich auf keinen Fall! Du solltest so gesund wie nur irgend möglich geboren werden.

    Da meine Eltern für den Umbau des Kellers ihr gesamtes Sparvermögen investiert hatten, reichte das Geld auf ihrem Konto gerade noch für die Beerdigung Deiner Großmutter. Ich stand nun völlig mittellos da. Arbeiten konnte ich nicht mehr. Auch nach der Schwangerschaft schlossen die Ärzte eine Berufsausübung aus. Also musste ich zum Sozialamt und Geld für meinen Lebensunterhalt beantragen. Um diese Unterstützung für Dich und mich zu erhalten, hätte ich allerdings das Haus Deiner Großeltern verkaufen müssen. Die Begründung lautete, wer Sozialhilfe bezieht, darf kein Wohneigentum besitzen. Das ging auf keinen Fall, denn die Wohnung im Keller war ja bereits für meine Bedürfnisse behindertengerecht umgebaut. Die Sachbearbeiterin vom Sozialamt ahnte, dass meine gesundheitliche Situation eine Versorgung von Dir unmöglich machen würde.

    Sie setzte sich umgehend mit dem Jugendamt in Verbindung. Kurze Zeit später, ich hatte indessen einen Mieter für den Rest des Hauses gefunden, erschien im Auftrag der Behörde eine Beamtin, etwas älter als ich, der Abteilung Familien- und Krisenintervention, die der Jugendbehörde zugeordnet war. Ihr Name war Xenia. Sie erkannte schnell, dass ich wohl eine der schwersten Entscheidungen zu treffen hatte, die einer werdenden Mutter widerfahren konnte. Nach einigen Beratungsterminen war klar, dass ich nur noch dafür sorgen konnte, dass Dich eine andere Familie in Freude und Liebe groß ziehen würde.

    Der schönsten Aufgabe der Welt war ich nicht mehr gewachsen, so grausam dies auch für Dich klingen mag. Der Akt Adoption ließ sich nicht vermeiden.

    Hier half mir die Sozialpädagogin des Jugendamtes sehr einfühlsam und kompetent. Entgegen sämtlichen Vorschriften wählte sie mit mir zusammen eine passende Familie für Dich aus und übermittelte mir obendrein die Adresse. Das ist eigentlich bei einer Adoption strengstens verboten, aber sie drückte beide Amtsaugen für mich zu.

    Xenia besuchte mich bis zu Deiner Geburt zweimal wöchentlich. Wir freundeten uns an. Dieser Mensch steckte so voller Lebensenergie, von der ich in meiner Verzweiflung oft profitierte.

    Am 23.04.1987 erblicktest du um 11.22 h per Kaiserschnitt das Licht der Welt. Die Schwestern im Operationssaal, auf der Wöchnerinnenstation und die Ärzte wussten über meine gesundheitliche Situation und die Adoption Bescheid. Das Stationsteam kümmerte sich rührend um mich. Meinen Schmerz, meine Trauer konnten sie mir nicht nehmen. Entgegen sämtlichen Regeln und Gesetzen sorgte die diensthabende Hebamme dafür, dass ich mit Dir bis zur Übergabe zusammen sein konnte. Dich für Stunden als das größte Glück in meinem Leben zu erfahren, erfüllten sie mir. Es war wie ein Wunder, wie vom Schicksal geschenkte Gnadenzeit. Alle Schwestern und Ärzte hatten Dich sofort ins Herz geschlossen. Dich erlebte ich als das zauberhafteste Geschöpf auf Erden, das ich je kennenlernen durfte, Du mein allergrößter Schatz. Du beschertest mir die wunderbarsten Glücksmomente meines Lebens, ein engelsgleiches Wesen, das all meine Erfahrungen und Empfindungen, die ich bis dahin durchlebt hatte, unwichtig erscheinen ließ. Ich danke Dir dafür so sehr!

    Am Abend nach der Entbindung besuchte mich die Sozialarbeiterin Xenia. Sie sah mich im Krankenbett sitzen, Du schliefst friedlich in meinen Armen. Unser Anblick trieb der Beamtin Tränen in die Augen. Im Radio erklang eine Ballade: The dilemma of the brain and the heart. Der Zwiespalt zwischen Kopf und Herz bzw. Verstand/Vernunft und Gefühl), verbunden mit dem Klang der Geigen beschrieben exakt unser beider Zustand. Später fragte sie mich, ob ich mir einen Namen für Dich überlegen wollte, obwohl wir beide wussten, dass Deine Adoptiveltern Gebrauch von dem Recht machen würden, Dir einen Vornamen nach ihrem eigenen Geschmack zu geben. Dann sah sie Dein rosa Armbändchen mit dem Namen „Dorothee. Warum diesen Namen, willst du wissen? Der Name leitet sich von zwei griechischen Worten her. Der eine ist „Doron und meint Gabe oder Geschenk. Der andere, „Theos, bedeutet Gott. Zusammengesetzt heißt das so viel wie „Geschenk Gottes oder Gottesgabe. Außerdem hatte ich während meines Studiums über zwei Frauen mit diesem Vornamen gelesen. Die eine, Dorothea Viehmann sammelte Geschichten und war eine wichtige Quelle für die Gebrüder Grimm. Sie hatte ihnen zahlreiche ihrer gesammelten Märchen, Fabeln, und Sagen erzählt, die die Brüder anschließend niederschrieben und weltbekannt wurden. Du wirst sicher einige davon kennen.

    Die andere war Dorothea Christiane von Eixleben. Sie war die erste deutsche promovierte Ärztin.

    Beide Persönlichkeiten haben mir sehr imponiert, da sie mit unglaublicher Kraft ihren Lebensplan konsequent verfolgten und gesellschaftliche Widerstände überwanden. Die Geschichtensammlerin geriet in die Kritik, weil sie als alleinstehende Dame regelmäßig die Herren Grimm ohne Beisein einer Anstandsdame empfing. Ihr wurde vorgeworfen, die moralistischen Tugenden einer Frau, zu verletzen. Von Eixleben erstritt sich das Recht zu studieren, und zu promovieren, um Heilkunde als Beruf aktiv auszuüben. Das war eine Revolution, ein Meilenstein in der Entwicklung der Gleichberechtigung. Ich dachte, die Biografien dieser Pionierinnen könnten gute Vorzeichen für Dein Lebensglück, Deinen Lebensweg sein.

    Xenia fand Deinen Namen klasse. Allerdings bestünden die Adoptiveltern auf dem Passus der Namensänderung und hätten ihre Wahl bereits mitgeteilt. Sie wollten Dich Magdalena nennen. Magdalena, die Linderin von Leiden, die Strahlende, ein schöner Name. Die Wahl spricht für ihren geistigen Horizont. Für mich aber bleibst du Dorothee! Weißt Du, nur mit Geldleistungen erzieht man kein Kind. Eltern müssen Werte und soziale Aspekte kennen und vermitteln. Nur so kann eine Seele wachsen und reifen, Stärke neben Widerstandskraft entwickeln. Das ist ihre Aufgabe, ihre Herausforderung.

    Meine Liebe zu Dir überdauert alle Ereignisse. Sie verbindet uns miteinander, wo wir uns auch befinden. Dabei ist es egal, ob Du im Diesseits vor dem Vorhang des irdischen Lebens stehst und ich dahinter. Das Jenseits liegt nur eine Stoffbreite entfernt.

    Dich in „fremde" Hände zu geben, war eine Entscheidung, ja vielmehr ein Tribut an meine Liebe zu dir. Wäre ich gesund, so gäbe es diese Adoption nicht, Mann hin oder her.

    Zurück zu den Ereignissen: Am 24.04.87 kam früh morgens der Arzt, der Dich auf die Welt gebracht hatte. In jener Nacht hatte ich gar nicht geschlafen, weil ich mich von Deinem Antlitz nicht losreißen konnte und die Zeit mit Dir mir so unendlich viel bedeutete. Das Glück mit Dir war so kurz, wie hätte ich es da verschlafen können?

    Er lächelte. Genugtuung stand ihm ins Gesicht geschrieben, sich über alle Gesetze hinweggesetzt zu haben. Dr. Becker, so hieß er, bemühte sich rührend, mir den Abschied so wenig schmerzhaft wie möglich zu machen. Liebevoll nahm er Dich in die Arme und beugte sich zu mir vor, damit ich Dich ein letztes Mal küssen konnte. Dann verschwand er leise. Ich meine, auch Tränen in seinen Augen entdeckt zu haben. Mehr weiß ich über die Stunden Deiner Adoption nicht. Eine Woche später holte mich die Sozialarbeiterin ab und fuhr mit mir im Krankentransport nach Hause. Sie gab sich ungeheure Mühe, mich aufzumuntern. Ich spürte aber nur eine unendliche Leere und Einsamkeit in mir. In den darauffolgenden Wochen verschlechterte sich mein Gesundheitszustand rapide. Ich fühlte mich mut- und kraftlos, wollte nur schlafen, nur vergessen. Ich versuchte, dem Schmerz zu entfliehen, Dich für immer verloren zu haben.

    Xenia kam fast jede Woche. Die vielen Besuche zeigten mir ihre aufrichtige Anteilnahme verbunden mit selbstloser Fürsorge. Sie war das einzig Lebendige in meinem Leben, ein Krümel auf einem leer gegessenen Teller. Eines Tages kam sie wie häufig unverhofft vorbei. Ich saß teilnahmslos in meinem Rollstuhl und starrte durch das Kellerfenster hinaus in das kleine Stückchen Garten. Sie erzählte mir, dass sie ein letztes Mal Kontakt zu Deiner Adoptivfamilie aufgenommen hatte. Du würdest Dich prächtig entwickeln und wärest der Sonnenschein der ganzen Familie.

    So sehr ich mich über die schöne Botschaft freute, meinen Kummer milderte das nicht. Ich konnte die seelischen und körperlichen Schmerzen nicht mehr länger ertragen. Es gab keine Aussicht auf Genesung. Ich sah mich mit jedem neuen Tag dem Sterben näher als einem selbstbestimmten würdevollen Leben. Deswegen wollte ich meinem Zustand des Dahinvegetierens ein Ende setzen, dem Leiden, der Ausweglosigkeit entfliehen. Weg von dieser Welt, in der ich mich nutzlos, darüber hinaus überflüssig fühlte, in eine andere, die mir mittlerweile so verlockend erschien. Ich sehnte mich danach, hinter den Vorhang zu treten, auf eine süß duftende Blumenwiese.

    Ich bat Xenia um einen letzten Gefallen. Die Formalitäten, was Dich anging, waren ja geregelt.

    Sie sollte mir Medikamente besorgen, den Rest wollte ich dann selbst erledigen… Ich wollte Sterbehilfe von ihr.

    Erschrocken lehnte sie ab und drohte den Kontakt sofort abzubrechen. Xenia tobte. Ich gab nach.

    Xenia schlug mir stattdessen vor, meine Gedanken, Empfindungen, Erfahrungen, meinen Schmerz, meine Trauer für dich aufzuschreiben. Für den Fall, dass Du in einigen Jahren Nachforschungen anstelltest, riet sie mir, alles zu dokumentieren, was ich Dir weitergeben wollte oder was Du für Dein eigenes Leben benötigen würdest. Ich sollte mein geistiges Erbe formulieren, das was mir davon für dich bedeutungsvoll und wissenswert erschien. Jeder trüge Wissen und Weisheiten in sich, die es an geliebte Menschen weiterzureichen lohne. Darüber könnte ich mir Gedanken machen, nicht über das Sterben, forderte sie. Diese Idee entzündete ein Licht in der Dunkelheit. Trotzdem war ich hin- und hergerissen. Würde Dich denn interessieren, was ich zu sagen hatte? Woher sollte ich die Kraft dafür nehmen? Ich war doch nur ein jämmerlicher Schatten meiner Selbst! Nach Nächten des Grübelns und Zögerns rang ich mich dazu durch, es zu versuchen. Ich konnte nicht mehr laufen und nicht längere Zeit am Stück eine Tätigkeit ausüben. Schreiben und Telefonieren war Gott sei Dank kein Problem. Ich wusste, dass diese Fähigkeiten nur noch eine bestimmte Dauer mir gehörten, also legte ich los. So entstanden dieser Brief und die Geschichten in dem roten Buch, das ich Dir widmete. Ein Nachschlagewerk von Lebensaufgaben und Lösungen, ein Ratgeber.

    Das mein geliebter Schatz war nur durch Dich möglich. Die Liebe zu Dir hat mich beflügelt. Je mehr ich mich im Formulieren übte, desto größer wuchs die Überzeugung, dass ich das Richtige tat. Ich merkte: Schreiben ist harte Arbeit!

    Von Geschichte zu Geschichte fiel es mir leichter, meine Gedanken auszudrücken. Ich lernte, mir über den Sinn und die Kraft eines Wortes klar zu werden.

    Monatelang arbeitete ich daran, das Leben mit all seinen versteckten Weisheiten, die ich durch mein Schicksal entdeckte, verständlich aufzuschreiben, hoffe ich jedenfalls.

    Ich trage den brennenden Wunsch in mir, dass die Geschichten Dich trösten, Dir den richtigen Weg weisen, Dir den Mut verleihen, aufzustehen, wenn Du gefallen bist, auch wenn es Dir schwerfällt, Dir die Zuversicht geben, dass das Ende gut sein wird, dass Zweifel verjagt werden, Du Wunder erkennen und dankbar annehmen kannst, dass Du nicht eher aufgibst, bis Du wahre Liebe gefunden hast, dass Du Dich darin wiedererkennst, dass Begegnungen mit Menschen nie zufällig, nie unnütz sind, dass Du die Aufgaben und Rätsel löst, die das Leben für Dich bereithält. Ich trage den brennenden Wunsch in mir, Dir zu sagen, wie sehr ich Dich in meinem Herzen behüte!

    Ich komme langsam zum Ende. Sicherlich drängen Dich viele Fragen. Eine davon lautet vermutlich, warum Du die Hintergründe Deiner Adoption heute oder erst jetzt erfährst. Pass gut auf!

    Meine gesammelten Werke sowie meinen Brief bis hierhin an Dich, zeigte ich Xenia beim nächsten Besuch.

    Xenia weinte und lachte abwechselnd und schaute mich schweigend an, als sie fertig gelesen hatte. Es weit nach Mitternacht. Ich fühlte mich so munter wie seit langem nicht mehr.

    „Du kannst verdammt noch mal sehr zufrieden mit Dir sein. Ich bin glücklich, dass ich Dich kennenlernen durfte. Du behältst für immer einen Platz in meinem Herzen", lobte sie mich. Ich erzählte ihr, dass ich mich mit einem Notariat in Verbindung gesetzt, und um Verwahrung des roten Büchleins und dieses Briefes gebeten hatte.

    Nachdem der Notar von meiner Situation gehört hatte, war er gern bereit, mir zu helfen. Er besuchte mich am gleichen Tag meines Anrufes. Dieser Mann ist ein richtiger Gentleman, ein Frauentyp, vielleicht lernst du ihn persönlich kennen. Er war beauftragt, Dir diesen Brief, also Teil 1, an deinem 21. Geburtstag persönlich zuzustellen. Es gibt noch einen 2. Teil, aber dazu wird dir der Notar mehr sagen. Außerdem erhielt er mein Testament und einen Auftrag an die Friedhofsgärtnerei für meine Grabgestaltung und -pflege. Im Leben liebte ich rosa Zwergrosen so sehr! Ihnen obliegt die Pflicht, Hüter meiner sterblichen Überreste zu sein. Es sind zierliche und zugleich kräftige Pflanzen, von edler Anmut, zart leuchtend, genauso wie Dein Antlitz zu der Zeit, als ich Dich in meinen Armen halten durfte.

    Zurück zu jener Nacht. Nachdem Xenia die Geschichten im roten Buch gelesen hatte, wollte sie aufbrechen.

    Die Sozialarbeiterin lächelte, bemerkte aber sofort mein Zögern. Ich bemühte mich, zu sprechen, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. Einige Male öffnete ich den Mund und versuchte es erneut. Kein Ton verließ meine Lippen.

    Ich nahm den Block vom Tisch und fing an abgehackt und krakelig zu schreiben. Xenia bereitete das Entziffern einige Mühe: „Ich bin dabei zu sterben, jetzt!"

    Sie begriff sofort. Sie konnte es in meinen Augen lesen, besser als auf dem Papier! So blieb sie die ganze Nacht bei mir. Wir lauschten bereits dem Vogelgezwitscher, als Xenia den kleinen Prinzen zitierte: Der kleine Prinz sagt, als der Abschied naht: „Ich bin dankbar, Dich kennengelernt zu haben! Eines Tages sehen wir uns wieder!"

    Xenias Wangen waren feucht. Weinen konnte ich nicht, nicht mehr. Ich hatte die Meinen bereits für Dich verbraucht. Im Gegenteil, ich erlebte mich seltsam gefasst.

    Mit einer schier endlosen Umarmung verabschiedete sich Xenia. Ich hörte ihr Schluchzen noch einige Augenblicke. In mir breitete sich eine Art von bisher nie gekannter Ruhe aus. Die Sonne ging auf, wunderschön wie nie zuvor.

    Jetzt schreibe ich den Brief, diesen Brief an Dich fertig. Ich fühle mich jetzt, glücklich, aber mehr und mehr kraftlos. Das war heute in der Morgendämmerung noch anders. Die Energie in meinem Körper schwindet, wie der Gesang eines Vogels, der sich immer weiter entfernt.

    P.S. Die Kanzlei:

    Morgen wird der Notar kommen, diesen Brief, das rote Buch abholen und für Dich aufbewahren. Einen Schlüssel für das Haus hat er bereits.

    Ich habe Dr. Wüstinghausen gebeten, als Vermögensverwalter, mein Haus zu vermieten. Er verwaltet die Mieteinnahmen bis zu Deinem 21. Geburtstag. Wenn du mein Grab besuchen willst oder sonst etwas brauchst, frag ihn. Vielleicht hilft dir dieser irdische Ort, mir zu begegnen, wer weiß!

    Ich bin mit mir im Reinen. Dies schenkt mir ein Gefühl von Klarheit. Die Bereitschaft zu gehen, erfüllt mich mit tiefer Freude. Sie bettet mich in Zuversicht. Ich werde diese Welt jetzt in Liebe loslassen. Die Zeichen des sich aus der irdischen Wirklichkeit Loslösens scheinen mir nun allzu verlockend. Ich freue mich, hinter den Vorhang zu treten, auf dem Weg zu spazieren, den ich zuvor einige Male im Traum leichtfüßig entlanggeschritten bin. Hin zu meiner duftenden Blumenwiese! Längst übte meine Seele das Hinübertreten in eine andere Existenz. Ich bin bereit. Leichten Fußes gehe ich Schritt für Schritt.

    Für denjenigen, der mit Frieden in der Seele diese Welt verlässt, verliert der Tod sein grausames Gesicht. Die Angst davor erscheint mir jetzt unnötig. Mein Körper bleibt hier, meine Liebe und Freude begleiten mich. Sie verwandeln sich in Engelsflügel, die mich zur grünen Aue tragen, von der uns der Herrgott ein Leben ohne Mangel verspricht.

    Dankbar schaue ich dem Licht entgegen. Sei unbesorgt, es geht mir gut.

    Ich liebe Dich und bin bei Dir. So baue ich Brücken über Zeit und Raum hinweg.

    Ich weiß, dass der Brief Dein Leben verändern wird. Ich hoffe, er gibt Dir Klarheit, Wahrheit und Rückhalt, zeigt die die Wurzel deiner Herkunft. Es täte mir leid, Dir damit Schmerz und Kummer zuzufügen. Aber Du, mein geliebtes Kind, hast die Wahrheit verdient, denn die Wahrhaftigkeit bedeutet immer Anfang, Neubeginn. Ich bin überzeugt davon, dass Du Erfüllung und Liebe in Deiner Lebenszeit findest. Doch vor dem Lohn steht das Mühen. Halte durch. Lies die Geschichten. Vertraue dem Zauber, der in ihnen wohnt.

    In Liebe Deine Mutter Elvira

    Kapitel 1 Der Geburtstag

    Thema: Philosophische Gesetzmäßigkeiten in unserer Gesellschaft: „Jeder Mensch bezahlt für das, was er durch sein Tun und Nichttun anrichtet. In einigen Fällen sogar mit dem Leben. Wer nicht an das Gesetz von Ursache und Wirkung glaubt, spürt es am eigenen Leibe in einer unerbittlichen Brutalität, die vernichtende Ausmaße annehmen kann."

    Geehrte Studenten,

    ich erbitte Ihre Hausarbeit bis zu unserem nächsten philosophischen Seminar in zwei Wochen zu oben genanntem Thema. Viel Spaß und gute Gedanken.

    Ihr Professor

    Magdalena starrte ratlos auf die Hausaufgabe. Was zum Kuckuck sollte sie denn zu so einem Text schreiben? Langsam kamen ihr Zweifel, ob sie tatsächlich das richtige Studienfach gewählte hatte…

    Plötzlich schreckte sie aus ihren Gedanken, weil es an der Tür klingelte. Wer konnte das sein? Ihre Eltern erwarteten sie erst morgen, da sie unbedingt noch die Hausarbeit beginnen musste, Geburtstag hin oder her! Victoria, ihre Freundin jobbte und konnte es auch nicht sein. Alle anderen Gratulanten waren ebenfalls zur großen Party zu Hause bei ihren Eltern einbestellt worden, die konnten es auch nicht sein.

    Es klingelte schon wieder, diesmal mehrmals.

    Scheint wohl was Wichtiges zu sein, dachte Magdalena, ging in den Flur und betätigte den Türöffner.

    „Bitte kommen Sie rauf, 2. Stock rechts, rief sie gelangweilt ins Treppenhaus."

    „Ja danke, ich komme hoch!"

    Also die Zeugen Jehova kann ich jetzt gar nicht brauchen und erst recht nicht irgendeinen Vertreter, murmelte sie, den Türgriff in der Hand haltend und sich an den Türstock lehnend.

    „In meinem Alter sollte ich definitiv mehr Sport treiben!" keuchte er, während er die letzten zwei Stufen auf einmal nahm.

    „Guten Tag, mein Name ist Dr. Wüstinghausen. Sind Sie Magdalena von Vermes?"

    „Ja, die bin ich." Magdalena war unsicher. Was konnte dieser zugegebenermaßen sehr gut aussehende ältere Herr von ihr, er ähnelte etwas George Clooney, wollen?

    „Ich freue mich, Sie hier und heute anzutreffen. Ich bin Notar und müsste Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen." Lächelnd, als würde er Magdalenas Misstrauen bemerken, hielt er ihr seine Visitenkarte hin.

    Magdalena betrachtete sie kurz und wippte unentschlossen hin und her.

    „Äh, Herr Wüstinghausen, ich habe irgendwie gar keine Zeit, es ist, äh, es passt mir gerade nicht so gut." Krampfhaft überlegte sie, wie sie den Mann wieder loswerden könnte. Sie musste doch an ihrer Hausarbeit arbeiten und konnte sich zudem überhaupt nicht vorstellen, was ein Notar von ihr wollen könnte!

    „Verzeihen Sie junge Dame, aber ich habe eine Beauftragung erhalten, mich mit Ihnen genau heute in Verbindung zu setzen. Es ist wirklich dringend und für Sie von großer Bedeutung, dass wir uns kurz unterhalten."

    Na ja, wie ein Halunke sieht der wirklich nicht aus. Außerdem, wenn er ein Verbrecher wäre, hätte er mich schon längst abmurksen können, überlegte Magdalena, noch immer zwischen Tür und Türstock stehend.

    „Also gut, kommen Sie rein!" Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung einzutreten und schloss die Tür.

    „Hier entlang bitte."

    Der Notar ging durch den Flur in den kleinen Raum und bewegte sich auf das kleine Bistrotischchen zu.

    „Nehmen Sie Platz, ich hol mir nur noch einen Stuhl aus der Küche, -ist halt nur ein winziges Appartement."

    „Oh, es ist nett, wirklich nett, erinnert mich an meine eigene Studentenzeit! Ist allerdings schon ein paar Jährchen her," seufzte er.

    „Glaub ich gleich", murmelte Magdalena leise, kam mit einem Klappstuhl unter dem Arm aus der Küche und setzte sich dem Notar gegenüber.

    „Tja, Frau von Vermes, lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Ich habe hier für Sie einen Brief und ein Buch, beides soll ich Ihnen heute übergeben."

    „Wie, was? Von wem? Ich verstehe nicht!"

    „Nun ja." Magdalena entging nicht, wie angespannt er beide Hände ineinander verschränkte und auf den Tisch drückte.

    „Frau von Vermes, dies sind Unterlagen einer ganz besonderen Frau, der Sie sehr am Herzen lagen. Sie ist bereits seit gut zwanzig Jahren tot. Sie war trotz ihres jungen Alters eine starke Persönlichkeit. Als ich Sie kennenlernte, bzw. sie Kontakt zu mir aufnahm, war sie bereits von ihrer Krankheit und dem bevorstehenden Tod deutlich gezeichnet. Trotzdem, und das war es, was mich sehr berührt hat, strahlte sie Ruhe und Liebe aus. Es war vermutlich die Liebe zu Ihnen, die sie ihren Weg in einer mir niemals wieder begegneten Würde und innerem Frieden hat gehen lassen. Ich spreche hier von Ihrer leiblichen Mutter, die mich beauftragt hatte, heute, an Ihrem Geburtstag diese Unterlagen zu überbringen."

    „Was? Sie müssen sich irren, Meine Eltern wohnen nur eineinhalb Autostunden von hier entfernt!" Entsetzt schaute sie zu ihrem Gegenüber.

    „Wie leibliche Mutter? Was soll das heißen?"

    „Verzeihen Sie, darf ich Ihnen berichten, was ich weiß? Alles Weitere wird in diesen beiden Dokumenten stehen, die ich Ihnen hiermit übergeben habe." Während der Notar Magdalena freundlich anschaute, griff er neben sich nach seiner Aktentasche und holte eine weitere Mappe heraus.

    „Soweit ich informiert bin, sind Sie kurz nach Ihrer Geburt adoptiert worden. Der Grund wird wohl die unheilbare Krankheit Ihrer Mutter gewesen sein, aber wie gesagt, Näheres dürften diese beiden Unterlagen erklären. Ich verstehe gut, dass das jetzt alles ein bisschen viel für Sie ist. Wenn Sie die Dokumente gelesen haben, sollten wir uns noch einmal treffen. Ich denke, ich gebe Ihnen jetzt erst einmal Zeit, dass Sie sich mit den Nachrichten in Ruhe auseinandersetzen und mit den Unterlagen vertraut machen.

    Würden Sie mir nur noch diese Empfangsbescheinigungen unterschreiben? Eine Ausfertigung davon ist für Ihre Unterlagen. Ich weiß, dass das jetzt eine schwere Stunde für Sie ist." Mitfühlend sah Dr. Wüstinghausen in Magdalenas erbleichtes starres Gesicht. Er sah ihr an, dass die junge Frau einen Schock erlitten hatte. War ich vielleicht doch nicht einfühlsam genug gewesen, überlegte er, während er seinen Montblanc Füller aus der Innentasche seines Sakkos zog. Magdalenas Hände zitterten, als sie die beiden Blätter näher zu sich heranschob.

    „Frau von Vermes, hier bitte." Er drehte seine Mappe zu Magdalena, öffnete sie und deutete mit dem Füller auf die Stelle, wo sie unterschreiben sollte.

    Geistesabwesend unterzeichnete sie die beiden Blätter und legte den Stift darauf ab. Schockiert schaute Magdalena Dr. Wüstinghausen an.

    „Das ist kein Scherz, nicht wahr?"

    „Nein Frau von Vermes, das ist es nicht. Es wäre wenn, dann auch ein sehr Geschmackloser! Trotzdem gratuliere ich Ihnen herzlich zu Ihrem Geburtstag."

    „Äh, danke."

    „Ich finde allein hinaus. Es ist gut denke ich, wenn Sie jetzt Zeit für sich haben und auch wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen auch für die Dokumente, die ich Ihnen zugestellt habe. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Melden Sie sich bei mir in der Kanzlei, wenn Sie nach Lesung der Unterlagen noch Fragen haben, oder ich irgendwie behilflich sein kann. Ich bin sicher, wir sehen uns wieder. Ich empfehle mich. Auf Wiedersehen."

    Dr. Wüstinghausen steckte den Füller wieder in sein Sakko und griff nach der Mappe und einem unterschriebenen Blatt auf dem Bistrotisch. Magdalena war unfähig, sich zu bewegen. Noch einmal betrachtete er die junge Frau. Überbringer solcher Nachrichten zu sein, war auch für ihn kein Alltagsgeschäft. Die feinen Züge um ihre Mundwinkel, die Augen! Für einen kurzen Augenblick hatte er das Gefühl, noch einmal seine Mandantin vor sich sitzen zu sehen. Diese junge Frau war unverkennbar ihre Tochter! Er fühlte Sympathie aber auch Mitleid für sein Gegenüber. In was für ein emotionales Chaos er sie gestürzt hatte, machte ihm trotz seiner langjährigen Erfahrung ziemlich zu schaffen. Er konnte zu seinem Bedauern vorerst nicht mehr für die junge Frau tun, als Zeit zu geben, um sich neu zu ordnen und dann da zu sein, wenn sie ihn brauchte.

    Entschlossen griff er nach seiner Aktentasche, verstaute die Unterlagen darin und hielt Magdalena die Hand hin. Sie streckte die Ihrige aus, verfehlte aber die Hand des Notars und nickte ihm nur noch zu.

    Ein paar Sekunden später hörte Magdalena, wie die Tür ins Schloss fiel. Sie hob den Blick und schaute aus dem Fenster. Die Sonne schien. Sie aber nahm die gegenüberliegende Häusersilhouette nur schemenhaft wie im dicken Nebel wahr.

    Alles verschwamm vor ihren Augen. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und hielt sich mit beiden Händen den Kopf, so als könne dieser den Tumult an Gedanken nicht allein tragen. Einige Minuten verharrte Magdalena in dieser Pose, dann wanderten ihre Augen in die Küche. Dort lagen auf dem Tisch noch Victorias Gauloises von ihrem letzten Besuch. Sie hatte sie vergessen, als sie wieder mal drohte, zu spät zur Arbeit im Supermarkt zu kommen.

    Magdalena rauchte eigentlich nicht, aber jetzt, in diesem Moment, konnte sie nicht anders. Sie ging in die Küche und zündete sich eine davon an. Für einen Augenblick wurde ihr schwindelig. Nachdem sie das Küchenfenster geöffnet und den Weg der blauen Nikotinschwaden nach draußen verfolgt hatte, wanderte ihr Blick wieder zurück zu den Gegenständen, die der Notar auf dem Bistrotisch abgelegt hatte. Der Brief schien wirklich alt zu sein, so vergilbt wie der aussieht, dachte sie. Was sollte sie tun? Dieser Mann hatte gerade den Glauben über ihre Herkunft zerstört, ihr die Wurzeln genommen, die sie bis zu dieser Stunde ins Leben getragen hatten!

    Langsam ging sie ins Zimmer zum Tisch zurück und berührte zaghaft erst den Brief, dann das blassrote Büchlein und blieb dann mit den Augen an der Aufschrift „Teil 1" des Umschlags hängen. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie erschreckte und ging einen Schritt zurück. Was um Gottes Willen läuft hier, was soll das alles, schoss es ihr in den Kopf.

    Nach einigen Augenblicken hatte sich Magdalena wieder einigermaßen unter Kontrolle. ‚Es bringt ja nichts die Sachen anzustarren,‘ überlegte sie. ‚Ich muss was tun, irgendwas muss ich jetzt tun,‘ forderte sie sich auf.

    Als wäre es die letzte Gelegenheit

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1