Weiterleben!: Viele Wege führen aus der Depression
Von Jonas Enkogia
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Über dieses E-Book
23 Jahre wurde er belogen und im Glauben gelassen, die Mutter sei bei seiner Geburt gestorben. Diese Lüge wurde zur Basis für einen mächtigen Schuldkomplex und sollte sein ganzes Leben überschatten. Wäre ich nicht geboren worden, würde meine Mutter noch leben – so lautete die kindliche Logik. Vermeintliche Schuld war der Nährboden für jahrzehntelange Depressionen.
Die LeserInnen begleiten den Autor auf seinem äußerst wechselhaften Lebensweg und erfahren, wie er gegen die Depressionen kämpft und schließlich gewinnt. Er nimmt sie mit in Einzel- und Gruppensitzungen und lässt sie intensiv am Alltag einer psychosomatischen Klinik teilhaben.
Weiterleben! ist sein mutmachendes Motto und zugleich Plädoyer für einen offenen, kreativen und aufrichtigen Umgang mit einer Krankheit, an der inzwischen etwa vier Millionen Deutsche leiden.
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Buchvorschau
Weiterleben! - Jonas Enkogia
Vorgeschichte
Die Idee zu diesem E-Book entstand Anfang 2013. Anstoß gab die positive Resonanz auf neun Beiträge, die im Herbst in meinem Blog erschienen waren. Seit vor fünf Jahren mein erstes Buch mit Erzählungen und Kurzgeschichten veröffentlicht wurde, blogge ich auf eigener Webseite. Bisher erschienen dort knapp 600 Texte, die neben politischen und persönlichen Themen oft auch gesellschaftskritische Fragen behandeln.
Im Oktober 2012 ging ich für vier Wochen in eine Rehabilitationsklinik, Diagnose Gleichgewichtsstörungen und Depressionen. Schreiben ist seit etlichen Jahren ein wichtiger Teil meines Lebens – Leidenschaft, Hobby und vielleicht auch Therapie. Weil Geschichten aus Indien, Nepal oder Neuseeland meinen LeserInnen gefielen, beschloss ich, einen ausführlichen Bericht über den Klinikaufenthalt zu schreiben. Diese Reha-Homestory schilderte auf unterhaltsame Weise den Alltag auf der psychosomatischen Abteilung einer neurologischen Rehabilitationsklinik, stets aus subjektiver und oftmals ironischer Sicht. Gleichzeitig waren die Texte ein Plädoyer für mehr Aufrichtigkeit und einen offenen Umgang mit Depressionen und seelischen Problemen.
Das Interesse an der Homestory hält an, auch heute bekommen die Texte an manchen Tagen noch über hundert Klicks. Daher der Entschluss, sie für dieses E-Book zu überarbeiten und in neuer Form zu veröffentlichen. Depressionen und seelische Erkrankungen sind ein Thema, das immer noch viel Unsicherheit und Scham auslöst. Falsche Tabus lassen sich am besten durch Ehrlichkeit überwinden. Daher habe ich der Homestory um meine Lebensgeschichte ergänzt. Um sie geht es im ersten Abschnitt, während Teil zwei über die Reha berichtet. Der letzte Abschnitt des Buches handelt vom Überleben und den Vorurteilen, die seelisch kranke Menschen ertragen müssen, von Vergebung und Hoffnung, und vom kreativen Umgang mit Depressionen.
Dass Charaktere in Romanen und Erzählungen sich anders als geplant verhalten und beim Schreiben für Überraschungen sorgen, kenne ich. Doch auch dieses eher trockene Thema verselbständigte sich immer mehr, bis irgendwann ein Punkt erreicht war, wo mir der Text zu ehrlich und intim erschien. Aber ich glaube fest daran, dass Aufrichtigkeit heilt und befreit. Also schrieb ich weiter und sah die Arbeit an dem E-Book als Teil meiner Gesundung. Die Dinge beim Namen nennen, den Blick ins Dunkle richten, nicht länger dem Schatten ausweichen – hoffentlich lassen sich dadurch jene Dämonen bannen, die jahrzehntelang Macht über mich und mein Leben ausübten.
Seit meiner Jugend leide ich an Depressionen. Das ist nicht außergewöhnlich. Derzeit sind etwa vier Millionen Deutsche depressiv, die Hälfte von ihnen verleugnet allerdings, dass sie von dieser Volkskrankheit betroffen sind. Jeder fünfte Mitbürger wird im Laufe des Lebens mit Depressionen zu kämpfen haben. Es ist ein zäher Kampf, der nicht immer gewonnen wird, wie die Selbstmordstatistiken belegen. Aber der Kampf ist nicht aussichtslos. Je mehr wir über diese Krankheit wissen und je weniger wir verschweigen, desto eher lässt sie sich überwinden. Dieses E-Book soll unterhalten, aber vor allem Mut machen. Mut zur Ehrlichkeit. Mut, um neue Wege zu beschreiten. Mut, damit depressive Menschen nicht verzweifeln und aufgeben. Das Leben ist kostbar und oftmals wundervoll, das wissen wir. Trotzdem gibt es Phasen, in denen wir nicht weiterleben wollen. Gebt nicht auf, helft einander und seid aufrichtig. Wir sind viele und du bist nicht allein.
Erster Teil
Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Das Licht der Welt erblickte ich 1958 an einem Septembermorgen in Hamburg. Mein neunmonatiger Werdegang von der befruchteten Eizelle bis zum gut acht Pfund schweren Baby mit erstaunlichem Dickschädel verlief weitgehend normal. Fotos aus jenen Tagen zeigen meine Mutter als fröhliche Schwangere, die sich zweifellos auf ihr erstes Kind freute. Doch fünf Wochen nach meiner Geburt vergiftete sie sich mit E 605, einem mittlerweile verbotenen Insektizid, das der Volksmund auch als Schwiegermuttergift bezeichnete.
Was war geschehen, wieso nahm sie sich das Leben? Ende September wurde meine Mutter vom Arzt ins Krankenhaus eingewiesen, weil der errechnete Geburtstermin deutlich überschritten war. Sie kannte den Doktor kaum, war ihm erstmals sechs Wochen zuvor begegnet, als mein Vater sich einen Zeh gebrochen hatte. Ob die Einweisung sinnvoll und medizinisch notwendig war, lässt sich nicht nachprüfen. Sie erfolgte jedenfalls an einem Sonntagnachmittag und somit zum ungünstigen Zeitpunkt, denn fast alle Ärzte hatten am Wochenende frei und kehrten erst Montagfrüh ins Krankenhaus zurück. Bis dahin wurde meine Mutter – das entnahm ich Briefen, die sie ihrer Schwester nach England schickte – mehr schlecht als recht von einer grimmigen alten Hebamme betreut. Die Frau hatte schon im Dritten Reich praktiziert und hielt wenig von menschlicher Zuwendung, dafür umso mehr vom Zähnezusammenbeißen. Sie hängte die Erstgebärende an den Wehentropf und parkte sie auf einer Liege im zugigen Flur vorm Kreißsaal. Dort fror meine werdende Mama unter dünnen Laken, ertrug stundenlang brav die künstlich ausgelösten Wehen und wartete, dass sich der Muttermund weit genug öffnen würde, um mich hindurch zu lassen.
In der Morgendämmerung brachte die mürrische Geburtshelferin uns in den Kreißsaal und befahl, meine Mutter solle kräftig pressen. Sie tat wie geheißen, aber alles Schimpfen half nicht, denn ich steckte fest. Erst als meine Herztöne schwächer wurden, weckte die Hebamme den Bereitschaftsarzt und beide zerrten mich mit vereinten Kräften ans Tageslicht. Allerdings war es draußen um 5:45 Uhr noch dunkel, ich blinzelte also nach neun in schummriger Geborgenheit verbrachten Monaten ins grelle Licht der Kreißsaallampen. Ob die schwere Geburt am Kopfumfang von 38 Zentimetern oder an den 4170 Gramm lag, über 54 cm Körperlänge verteilt, bleibt ungewiss. Tatsache ist, dass es für sie und mich ein traumatisches Erlebnis war. Mein Vater wartete übrigens daheim auf den erlösenden Telefonanruf, denn damals war es unüblich, dass Männer ihre Frauen zu Geburten ins Krankenhaus begleiten.
Die Freude meiner Mama, einen strammen Jungen gesund zur Welt gebracht zu haben, währte leider nicht lang. Das Wesen der patenten, selbstbewussten und beruflich erfolgreichen Fremdsprachenkorrespondentin veränderte sich innerhalb weniger Tage stark. Sie grauste sich plötzlich davor, mich zu stillen oder wickeln zu müssen, und befürchtete, ich könnte ihr aus den Händen gleiten oder sie würde andere dumme Fehler machen. Dazu kam eine Heidenangst, mich nicht genug lieben und mir keine gute Mutter sein zu können – typische Anzeichen einer schweren Wochenbettdepression. Zwei Tage nach der Geburt wurde meine Mama aus dem Krankenhaus entlassen, danach verschlimmerte sich ihr Zustand. Sie weinte viel und verbrachte ganze Tage im Bett, war kraft- und mutlos, total verzweifelt. Freunde und Verwandte versorgten sie und wechselten sich dabei täglich ab. Sie betreuten die Depressive daheim, damit sie sich nichts antun konnte, solange mein Vater beruflich unterwegs war. Als meine Mutter sich schließlich ein auffälliges Interesse für Waffen und Munition zeigte – ihr Mann ging in der Freizeit zur Jagd und hatte Gewehre im Haus – wurde ein Psychiater alarmiert. Er verschrieb wenige Tage vor ihrem Tod Protactyl, ein Beruhigungsmittel, das gegen Schizophrenie und bei psychotischen Zuständen angewandt wird.
Ob es das falsche Medikament war oder nur zu spät zum Einsatz kam, bleibt unklar. Jedenfalls beschaffte meine Mutter das damals frei verkäufliche Insektizid, um sich zu vergiften. Stunden vor dem Freitod rief sie ihre Mutter an und erklärte, sie bräuchte heute nicht zu kommen, denn eine Freundin würde uns beiden Gesellschaft leisten. Diese List verschaffte den nötigen Freiraum, um ihr Vorhaben ungestört umzusetzen. Dann trank sie das Gift. Mich ließ sie zum Glück am Leben, obwohl es nicht ungewöhnlich ist, dass Selbstmörder ihre Kinder töten. Man nennt es dann einen erweiterten Suizid. Mein Vater – jung verwitwet und völlig verzweifelt – wollte sich anfänglich zusammen mit mir vor einen Zug werfen. Er kam aber rechtzeitig zur Vernunft und gab mich bei seiner ältesten Schwester in Pflege, zum Glück! Somit war ich innerhalb kurzer Zeit gleich zweimal dem Teufel von der Schippe gesprungen. Aber das Thema Selbstmord spielte nicht nur in den ersten Wochen meines Lebens eine Rolle, sondern begleitet mich bis heute.
23 Jahre lebte ich allerdings in dem Glauben, dass meine Mutter an den unmittelbaren Folgen meiner Geburt verstorben sei. So lautete jedenfalls die Antwort auf Fragen, was denn zu ihrem Tod geführt habe. Es war eine gut gemeinte und verständliche Halbwahrheit, sie hatte jedoch ungeahnte Folgen. Ursprünglich sollte diese Notlüge die einzige Schwester meiner Mutter schonen, die in England lebte. Sie war damals hochschwanger und hatte bereits ein Kind verloren. Die bittere Wahrheit über den Tod ihrer Schwester wollte ihr niemand zumuten, um ihr seelisches Gleichgewicht nicht zu gefährden. Außerdem schämte man sich in den bürgerlichen Kreisen meiner Familie, denn Selbstmord war und ist ein Tabuthema. Seltsam – vier Millionen Menschen in unserem Land leiden aktuell an dieser Krankheit und etwa 10.000 von ihnen sterben jedes Jahr von eigener Hand – aber große Teile der Gesellschaft möchten das Thema am liebsten totschweigen. Das ist unsinnig und klappt natürlich nicht. Auch weil es so unsinnig ist entstand dieser Text.
Lügen haben kurze Beine
Gibt es einen Grund, sich für seelische Erkrankungen zu schämen? Wer schämt sich für Kopfschmerzen, ein gebrochenes Bein oder den entzündeten Blinddarm? Kreislauferkrankungen oder Krebs sind ähnlich verbreitet wie Depressionen, aber wir gehen viel offener damit um. Warum? Weil man Depressionen nicht durch Bluttests oder auf Röntgenbildern nachweisen kann, weil seelische Erkrankungen unfassbar sind? Wieso hält sich auch in unserer aufgeklärten Gesellschaft der Irrglaube, Depressionen hätten etwas mit Wahnsinn zu tun? Würden man depressive Menschen weniger ausgrenzen und besser verstehen, wenn die Seele operiert, bestrahlt oder wie ein Gelenk ersetzt werden könnte? Die Psychotherapeutin Andrea Jolander schrieb nach über dreißig Jahren Berufserfahrung ein Buch über die Stigmatisierung von seelisch Erkrankten. Der Titel ‚Da gehen doch nur Bekloppte hin’ fasst ein einem Satz zusammen, was viele Leute auch heute noch über Psychotherapie denken. Schade!
Dieses Buch soll Vorurteile abbauen und mehr Verständnis für die Ursachen von Depressionen schaffen, denn sie sind eine Volkskrankheit. Ich weiß seit über dreißig Jahren, dass ich depressiv bin und habe gelernt, mit dieser Krankheit umzugehen. Kürzlich erfuhr ich von meiner Stiefmutter, dass ich schon als Schulkind längere Phasen unerklärlicher Schwermut und Lebensunlust durchmachte. Jeder fünfte Deutsche leidet im Laufe des Lebens unter Depressionen. Die statistische Wahrscheinlichkeit ist sogar dreimal so hoch, wenn ein Elternteil depressiv ist oder war. Wie ich heute weiß, durchlitt meine Mutter schon als junge Frau mehrere depressive Episoden. Wenn ihre Familie und mein Vater mehr über das Wesen dieser Krankheit gewusst hätten und offener damit umgegangen wären – auch den beiden Ärzten gegenüber, die sie in den Wochen vor ihrem Tod behandelten – würde meine Mutter heute vielleicht noch leben. Aufrichtigkeit kann heilen, das habe ich spätestens 1980 erfahren, als ich zum ersten Mal psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nahm. Lügen machen krank, und das gilt auch für gut gemeinte wie jene Notlüge, mit der ich aufwuchs.
Lügen haben kurze Beine – diesen Satz hat wohl jeder schon einmal gehört. Es kostet Aufwand, die Wahrheit zu verheimlichen, und viele Lügen fliegen auf, aber manche halten sich hartnäckig und jahrzehntelang. Nach dem Tod meiner Mutter lebte ich bei einer Schwester meines Vaters. Sie hatte bereits zwei Söhne und dazu ein Herz voller Liebe, nahm mich bei sich auf und wurde meine Mama. Nach ihren Schilderungen und den Babyfotos zu urteilen war ich ein Wonneproppen, immer hungrig und gutgelaunt, das absolute Gegenteil eines Problemkindes. Zusammen mit Papa, dem Onkel und zwei Cousins lebte ich in einem kleinen Haus am Waldrand und wunderte mich nicht, dass Mama mit meinem Onkel verheiratet war, statt mit Papa. In einem Anfall von Eifersucht behauptete der jünger Cousin einmal, meine Mama sei in Wirklichkeit seine Mama. Ich hätte gar keine Mama, denn meine Mutter sei tot. Doch ich glaubte ihm kein Wort und ließ diese grausame Wahrheit nicht an mich heran.
Im April 1961 heiratete mein Vater erneut, eine junge Frau aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie war erst dreiundzwanzig und damit zehn Jahre jünger als ihr Ehemann. Auch meine Stiefmutter zog nach der Hochzeit in das Haus am Wald, weil sich der Bau unseres neuen Domizils verzögerte. So lebten wir fast ein halbes Jahr zu siebt unter einem Dach, heute würde man wohl von einer Patchworkfamilie sprechen. Kurz vor meinem dritten Geburtstag war ein Reihenhaus, das mein Vater gekauft hatte, endlich bezugsfertig und ich musste mich von der Mama-Tante verabschieden. Das wird uns beiden nicht leicht gefallen sein, schließlich hatte sie mich fast drei Jahre liebevoll umsorgt. Damit ich die Trennung hinnahm und um meiner Stiefmutter die neue Rolle leichter zu machen, erklärte mein Vater Folgendes: Deine Mama ist nicht deine Mutter, sondern deine Tante. Deine Mutter ist tot, aber jetzt bekommst du eine neue Mutter, die Mutti Karen. Verwirrend für mich, wenn auch verständlich aus Sicht der Erwachsenen, sollte diese seltsame Offenbarung meine Zukunft prägen. Urvertrauen und Geborgenheit, die Fähigkeit zu verlässlichen Bindungen – das und mehr fehlte mir. Die Sehnsucht nach Liebe war groß, aber der Baum meines Lebens trug kaum Früchte, weil die Wurzeln verletzt waren.
Nein, ich mache niemandem Vorwürfe. Die zweite Frau meines Vaters – sie wurde bereits auf der Hochzeitsreise schwanger und brachte im Februar 1962 meine Schwester zur Welt – hat mich an Mutterstelle angenommen und gut für mich gesorgt. Sie war noch recht jung und sicherlich auch überfordert, denn nach der Geburt meines Bruders im Februar 1964 musste sie drei Kinder aufziehen. Die ungewohnte Mutterrolle, Probleme mit dem aufmüpfigen Stiefsohn und dazu die hohen Erwartungen eines anspruchsvollen Gatten, der in Wirtschaftswissenschaften promovierte und rasant Karriere machte – all das unter einen Hut zu bringen, stelle ich mir schwierig vor. Insofern überrascht es wohl kaum, dass die zweite Ehe meines Vaters scheiterte und die beiden 1982 geschieden wurden.
Doch ich möchte noch auf eine wichtige Phase eingehen, die fünf Jahre zuvor begann. Nach dem Abitur im Jahr 1977 – ich war zwar nicht dumm, hatte aber weder genug Ehrgeiz noch konkrete Berufspläne, und beendete meine Schulzeit mit einer Durchschnittsnote von 3,0 – jobbte ich und reiste durch halb Europa bis nach Marokko. Im Herbst begann ich eine landwirtschaftliche Lehre und brach sie noch in der Probezeit ab. Grund waren Zwistigkeiten mit meinem Lehrherrn. Er und seine Frau bewirtschafteten den Hof mit je zwei landwirtschaftlichen und hauswirtschaftlichen Lehrlingen plus zwei Praktikanten. Täglich wurden uns unbezahlte Überstunden abverlangt. Wir sechs kamen alle von weither aus großen Städten, denn in der Umgebung war längst bekannt, wie schlecht der Bauer mit Auszubildenden umging. Als ich ihn schließlich höflich darauf ansprach, dass im Lehrvertrag täglich acht Stunden Arbeit vereinbart waren, wir aber meist zwölf Stunden arbeiten würden und daher Anrecht auf mehr Geld oder Freizeitausgleich hätten, schmetterte er mich auf Platt ab: „Verträge, datt sünd Städtermanieren. Datt gifft et bi us nich." Anders gesagt: Nix da, auf dem Land gelten andere Regeln. Als ich eine Woche später das heikle Thema erneut anschnitt und wieder eine schroffe Abfuhr bekam, packte ich meine Sachen und kündigte.
Meine Begeisterung für Ackerbau und Viehzucht war sieben Jahre zuvor entstanden. Als Dreizehnjähriger fand ich eine Ersatzfamilie, einfache und bodenständige Leute, bei denen es sehr herzlich zuging. Heinz und Lene Oltmann hatten drei Kinder und bewirtschafteten einen kleinen Bauerhof in jenem niedersächsischen Dorf, wo mein Vater Mitpächter des Jagdreviers war. An einem langweiligen Ferientag saß ich dort am Stoppelacker und beobachtete den Bauern und seinen Sohn, wie sie goldgelbes Stroh zu eckigen Ballen pressten und auf einem schwankenden Anhänger immer höher aufstapelten. Irgendwann sprachen mich die beiden an, ich durfte auf den Hänger klettern und im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten mithelfen. Das war der Beginn einer herzlichen Beziehung, die lange anhielt und