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Was du nicht siehst: Diagnose Borderline – zwischen Todesangst und Lebenstraum
Was du nicht siehst: Diagnose Borderline – zwischen Todesangst und Lebenstraum
Was du nicht siehst: Diagnose Borderline – zwischen Todesangst und Lebenstraum
eBook286 Seiten3 Stunden

Was du nicht siehst: Diagnose Borderline – zwischen Todesangst und Lebenstraum

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Über dieses E-Book

„Ich sterbe und keiner sieht es.“ Solange sie sich zurückerinnern kann, lebt Franzi mit Angststörungen, später kam die Diagnose Borderline dazu. Wovor sie sich nicht fürchtet, ist, sich verletzlich zu zeigen. In ihrem Buch erzählt sie nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern bricht auch mit dem Stigma psychischer Krankheiten und legt schockierende Missstände in unserem psychiatrischen System offen.

Wer den Instagram-Account von Franziska Elea besucht, sieht Bilder einer schönen jungen Frau: Sie trägt hübsche Kleider, führt eine glückliche Beziehung, zeigt sich verträumt in Blumenfeldern oder lachend am Urlaubsstrand – und über 200.000 Leute schauen ihr dabei zu. Doch kaum jemand weiß, was sich hinter der nur scheinbar perfekten Fassade verbirgt:

Eine Kindheit und Jugend, die von emotionaler Vernachlässigung geprägt war, mehrere stationäre Therapie-Aufenthalte, der Wunsch, einem perspektivlosen Umfeld zu entfliehen, in dem Franzi immer die Aussätzige war. In ihrem Buch gibt sie Einblicke in die Ursachen ihrer Krankheitsgeschichte, schildert ihre Erfahrungen in der Psychiatrie, die lange Suche nach wirklicher Hilfe und schließlich ihren Weg zur erfolgreichen Influencerin. Aufklärung im Bezug auf die komplexe Persönlichkeitsstörung Borderline liegt ihr ebenso am Herzen wie ein Appell an alle Leser*innen: Über psychische Erkrankungen zu sprechen darf kein Tabu mehr sein und sich therapeutische Unterstützung zu suchen ist keine Schande.

Ein Buch für alle, die ihren Platz in der Welt suchen, durchs System gefallen sind, nie aufgegeben haben oder gerne davon lesen.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Jan. 2023
ISBN9783745910438
Was du nicht siehst: Diagnose Borderline – zwischen Todesangst und Lebenstraum
Autor

Franziska Elea

<p>Franziska Dully wurde 1993 in einer der strukturschwächsten Gegenden Deutschlands geboren, ihre Kindheit und Jugend waren geprägt von schwierigen Familienverhältnissen und mündeten in der Psychiatrie. Als Franziska Elea bloggt sie für mehr als 200.000 Menschen über Fashion, Lifestyle – und ihre Borderline-Diagnose. Es liegt ihr am Herzen, mit dem Stigma psychischer Erkrankungen zu brechen, und Betroffene zu ermutigen, sich Hilfe zu holen.</p>

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    Buchvorschau

    Was du nicht siehst - Franziska Elea

    Buchcover von: Was du nicht siehstInnentitel von: Was du nicht siehst

    echtEMF ist eine Marke der Edition Michael Fischer

    1. Auflage

    Originalausgabe

    © 2023 Edition Michael Fischer GmbH, Donnersbergstr. 7, 86859 Igling

    Covergestaltung: Luca Feigs, unter Verwendung eines Motivs von © Lena Faye

    Satz: Luca Feigs

    Herstellung: Carina Ries

    ISBN 978-3-7459-1043-8

    www.emf-verlag.de

    Für die Liebe meines Lebens

    Inhalt

    Vorwort

    Ein komplizierter Start

    Das hochsensible Kind – fünf Jahre später

    Das Spargel-Trauma

    Mimi malt mit Momo

    Geschwisterliebe

    Schlaflos in Rodalben

    Das Haus am Ende der Straße

    Ausgesetzt im Nirgendwo

    Fehlende Körpergrenzen

    Die kleinen Trigger des Alltags

    Realität oder Wahnsinn?

    Der Neue

    Freiheit oder Freundschaft?

    Du musst erwachsen sein!

    Gefährliche Schmerzventile

    „Jetzt reiß‘ dich doch mal zusammen!"

    Ersatzliebe

    Einmal glücklich sein …

    Vermeintliche Erlösung

    Bergab

    Psychologe Nummer 1, 2, 3 …

    Es ist aus!

    Klapsenkinder

    Hol mich hier raus!

    Was dich nicht umbringt …

    „Ich kann nicht mehr!"

    Willkommen zurück!

    Time Out

    Der alltägliche Wahnsinn

    Im falschen Film

    Die Razzia

    Einer für alle

    „Herzlichen Glückwunsch …

    Pirmasens

    ABIIIIII!

    Der Umzug

    Schöne, oberflächliche Welt

    Party, Party!

    Willkommen an der Ludwig-Maximilians-Universität

    Lukas

    Tag X

    Isarhaus

    Chris

    Der passende Deckel

    Keine Panik!

    Ein neuer Versuch

    Der Zusammenbruch

    Frau Martinez

    Bergauf

    Follow my dog

    Check my blog!

    Hey, ihr Lieben …!

    Follow me

    Papa

    Chris 2.0

    Money, Money, Money

    Ein wahr gewordener Traum

    Ben

    Das Burn-out

    Leo 2.0 – drei Jahre später

    Chris 3.0 – ein halbes Jahr später

    Danksagung

    Hilfsangebote

    Vorwort

    Hallo Mama,

    es war nicht immer leicht zwischen uns und ich fürchte, dass dir ein paar Dinge, die Platz auf den folgenden Seiten gefunden haben, nicht gefallen werden. Im Grunde wünsche ich mir nichts mehr als eine normale Mutter-Tochter-Beziehung mit dir zu führen und ich hoffe so sehr, dass wir in Zukunft irgendwie einen gemeinsamen Weg finden.

    Ich schreibe dieses Buch nicht, um mit dem Finger auf dich zu zeigen oder dich an den Pranger zu stellen, sondern um meine Geschichte zu verarbeiten. Vielleicht macht sie jemandem da draußen Mut, vielleicht lernt ein anderer etwas daraus oder weiß dadurch besser, mit einem Borderline-Angehörigen umzugehen.

    Ich schreibe dieses Buch auch, um Gehör bei dir zu finden. Du kannst meine Nachrichten ignorieren oder den Hörer einfach auflegen, wenn du nicht wissen willst, was ich zu sagen habe, aber eine gedruckte Geschichte lässt sich nicht einfach so löschen.

    Auf diesen Seiten steht meine Wahrheit, und ich wünsche mir so sehr, dass du sie als solche irgendwann anerkennen kannst. Weder erwarte ich Wiedergutmachung noch Rechtfertigung, sondern möchte einfach nur, dass du mich endlich siehst – so wie ich bin.

    Ich gebe dir nicht die Schuld an dem, was passiert ist. Manchmal gibt es einfach keinen Schuldigen, und für mich ist es glasklar, dass es am natürlichen Lauf der Dinge und unserer Familiengeschichte liegt, dass ich ein solches Leid erfahren musste – dass wir alle ein solches Leid erfahren mussten. Jeder auf seine eigene Art und Weise. Innerhalb unserer Familie ist nie ein Geheimnis daraus gemacht worden, wie du selbst aufgewachsen bist und wenn ich daran denke, wie schwer du es als Kind hattest, fährt mir ein Stich durchs Herz. Diesem kleinen Mädchen, das nur schlechte Vorbilder hatte und so viel Gewalt und Gleichgültigkeit erfuhr, könnte ich niemals Schuld zuweisen. So wie man deine Mutter nicht beschuldigen kann, weil sie ebenfalls ihr Päckchen zu tragen hatte, vielleicht sogar ein noch größeres.

    Möglicherweise verstehst du ja, was ich meine und die folgenden Kapitel ändern deine Perspektive vielleicht ein wenig. Hoffe ich zumindest. So oft habe ich es schon gesagt, aber hier noch mal offiziell: Ich verzeihe dir alles, was in den vergangenen 29 Jahren passiert ist. Das Einzige, was ich dir nicht verzeihen könnte, wäre, wenn du nach allem, was Ella und ich durchgemacht haben, immer noch die Augen vor der Wahrheit verschließt. Ich warte jeden Tag auf ein Zeichen von dir und sehne mich danach, zu erfahren, wie es sich anfühlt, von einer Mutter bedingungslos geliebt zu werden. Denn ich werde jeden Moment meines Lebens und für immer deine Tochter sein.

    Deine Franzi

    Ein komplizierter Start

    In den frühen Morgenstunden des 17. Juni 1993 erblickte ich im Elisabethen-Krankenhaus in Rodalben das Licht der Welt. Eine kleine 8000-Seelen-Stadt, irgendwo im Nirgendwo nahe der deutsch-französischen Grenze in Rheinland-Pfalz.

    Hier kennt jeder jeden und jeder weiß etwas über jeden. Wie zum Beispiel, dass meine Mutter gerade ihr erstes Kind, ein gesundes Mädchen, zur Welt gebracht hatte. Das war bereits eine ziemlich nervenaufreibende Angelegenheit gewesen. Denn wie es schien, hatte mich das Universum schon damals auf dem Kieker. Die Nabelschnur hatte sich um meinen Hals gewickelt, ich war ein Sternengucker-Baby, wie man so schön sagt, und lag mit dem Gesicht nach oben. Nach diversen Stunden schreien und pressen, gab mir die Saugglocke den Rest. Meine Herztöne fielen ab und das Ärzteteam leitete den Notkaiserschnitt ein ... So schien es, als hätte mich der Tod bereits verfolgt, bevor mein Leben überhaupt begonnen hatte.

    Die ersten Wochen zu Hause waren auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Von morgens bis abends heulte ich und meine Eltern waren irgendwann so verzweifelt, dass sie mit mir einen Arzt aufsuchten. Er fand nichts, also gingen sie zum nächsten. Auch dieser fand nichts. Laut Erzählungen waren wir bei mindestens fünf Experten, die uns alle wieder getrost nach Hause schickten mit dem Befund, dass manche Säuglinge nun mal viel weinen. Es gibt sogar einen Fachbegriff für sie: Schreibabys.

    Wie man richtig mit einem solchen Kind umgeht, wissen die meisten Eltern nicht so recht. Leider fühlen sich Mamas und Papas mit der Situation oft maßlos überfordert. Auch meine Eltern. Sie taten, was sie konnten und für richtig hielten, aber „abstellen" ließ ich mich nun mal nicht.

    Da meine Mutter ihren Bürojob an den Nagel gehängt hatte, als sie schwanger geworden war, sorgte mein Vater von da an als Alleinverdiener für unsere kleine Familie. Er arbeitete in einem Chemiekonzern, der unter anderem Klebstoffe und Fenster­profile herstellt, und war von frühmorgens bis abends auf der Arbeit. Mama war also die meiste Zeit mit mir allein, und ich kann mir kaum vorstellen, wie anstrengend diese Situation mit einem pausenlos schreienden Baby für sie gewesen sein muss.

    Eine Mutter, die sich dauerhaft im emotionalen Stresszustand befindet – sei es wegen eines weinenden Kindes oder aus anderen Gründen – kann einem Säugling keine Sicherheit bieten. Neugeborene sind unglaublich empfindsam und spüren ganz genau, wenn Erwachsene um sie herum in Aufruhr sind. Diese Anspannung überträgt sich zwangsläufig auf das Kind, welches deshalb wiederum schreit und dadurch Stress bei der Mutter auslöst. Ein Teufelskreis, aus dem man sicherlich nur sehr schwer entfliehen kann.

    Bei meiner Mama führte die Überforderung dazu, dass sie auf mein Schreien irgendwann nicht mehr mit Zuwendung reagieren konnte. Wenn sie es gar nicht mehr aushielt, legte sie mich in mein Bett und schloss die Tür hinter sich, in der Hoffnung, dass ich damit aufhörte. Wie ich heute durch meine Therapeutin weiß, hat dieser Umgang mit einem Schreibaby weitreichende Folgen für die Entwicklung der Psyche eines Kindes, für die die Erlebnisse und Erfahrungen der ersten Lebensjahre absolut ausschlaggebend sind. Und dennoch ist dieser Umgang mit Schreibabys immer wieder zu beobachten.

    Es gibt ja sogar Bücher, zum Thema „Weinen lassen oder „Ausschreien lassen, selbst manche Kinderärzte raten dazu. Die kollektive Unterschätzung der Auswirkungen, die der Umgang einer Mutter mit ihrem Kind auf die mentale Gesundheit als Erwachsener hat, stellt ein großes Problem in unserer Gesellschaft dar.

    Ihr müsst euch das so vorstellen: Ein Baby wächst im Bauch seiner Mutter neun Monate lang heran und wird plötzlich aus seiner sicheren, gewohnten Umgebung in eine kalte, unbekannte Welt herausgepresst. Es kann sich weder selbst versorgen, noch sagen, was es braucht oder möchte und ist existenziell auf Fürsorge und Hilfe von außen angewiesen. Ein Säugling versteht nicht wirklich, was da gerade passiert und kann sich nur auf seine Sinne verlassen. Selbst wenn die Nabelschnur bereits durchtrennt wurde, weiß ein Baby auf kognitiver Ebene nicht, dass es nun ein eigenständiges Individuum ist. Es hat noch kein Gefühl für seine Körpergrenzen, weiß nicht, wo sein Körper aufhört und der eines anderen Menschen anfängt. Die Aufgabe der Mutter besteht nun darin, das Kind langsam und schonend an die neuen Umstände zu gewöhnen. Körperliche Nähe und Zuwendung geben dem Neugeborenen in dieser Zeit der Umgewöhnung ein unverzichtbares Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Damit es ein gesundes Ich-Bewusstsein entwickeln und eine psychisch intakte Struktur aufbauen kann, ist viel Körperkontakt dringend notwendig. Das Bedürfnis nach Nähe teilen Babys uns auf die einzige Art und Weise mit, die ihnen möglich ist: Sie werden unruhig, zappeln, schreien, weinen oder wimmern und beruhigen sich in den meisten Fällen, sobald man sie schaukelt oder am Körper trägt. Da sich ein Säugling weder um sich selbst kümmern, noch um Dinge bitten kann, die er braucht, bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu schreien. Er schreit, wenn er Hunger hat, wenn ihm heiß oder kalt ist, wenn etwas wehtut, er sich nach Zuwendung sehnt, und so weiter.

    Kein Kind der Welt weint den ganzen Tag, weil es seinen Eltern auf die Nerven gehen will, sondern hauptsächlich aus dem Grund, dass ihm etwas fehlt. Das kann beispielsweise auch eine gesunde Mutter-Säugling-Beziehung sein.

    Ein Neugeborenes überlebt faktisch nicht, wenn sich niemand um es kümmert. Da es nicht die kognitiven Fähigkeiten hat, zu erkennen, dass die Mutter es nicht verhungern lassen wird, hat es das Gefühl zu sterben, wenn niemand auf sein Geschrei reagiert. Das bedeutet, dass es jedes Mal aktiv unter extremer Todesangst leidet, wenn längere Zeit am Stück oder gar dauerhaft keiner kommt und es beruhigt. Diese Todesangst brennt sich tief ins Unterbewusstsein ein und begleitet uns im schlimmsten Fall unser ganzes Leben.

    Das hochsensible Kind – fünf Jahre später

    Mittwoch, 7:30 Uhr bei Familie Dully in Rodalben – ein Tag wie jeder andere, nur schlimmer: Mama war zu dem Zeitpunkt hochschwanger mit meiner Schwester Ella und ich ging mittlerweile in den Kindergarten am Ende der Straße. Wenn ich in der Früh aufstand, war Papa schon lange auf der Arbeit, also verbrachten wir den Morgen immer alleine. Unsere Dreizimmerwohnung wurde mit dem anstehenden Geschwisterchen allmählich ein wenig eng. Ich erinnere mich noch genau an den grauen Teppichboden im Kinderzimmer und die typischen, unschönen, braunen Retrofliesen, die in den 90ern in nahezu jeder unrenovierten Wohnung zu finden waren. Inzwischen hatte ich aufgehört, pausenlos zu schreien, war aber keineswegs ein „einfaches" Kind. Ich langweilte mich immerzu, brauchte dauerhaft neuen Input, und war so sensibel, dass mir alles zu heiß, zu kalt, zu kratzig oder zu scharf war.

    „Franzi, jetzt komm her, du musst deine Zähne putzen!", rief Mama aus dem Badezimmer. Schon bei dem Begriff Zähneputzen zog sich alles in mir zusammen. Nur widerwillig, und weil ich wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte, schlurfte ich zu ihr und stellte mich ans Waschbecken. Mama nahm die rosa Kinderzahnpasta mit dem breit lächelnden Krokodil auf der Tube in die Hand und presste ein paar Millimeter davon auf meine Zahnbürste.

    „Bitte nicht so viel!", jammerte ich wie immer, wissend, was mir in den nächsten Minuten bevorstand.

    „Franzi, das ist nicht viel", entgegnete meine Mutter genervt.

    Ich spürte, wie sehr sie die tägliche Diskussion leid war.

    „Warum kaufst du denn nicht die Zahnpasta mit dem Ernie? Die hier ist so scharf!"

    „Die gab es im Supermarkt nicht mehr und wir schmeißen die hier jetzt nicht weg. Das kostet doch alles Geld, Franzi!"

    Nachdem ich diese Diskussion verloren hatte, öffnete ich mit verzerrtem Gesicht und geschlossenen Augen meinen Mund und Mama fing an, mir die Zähne zu putzen. Nach fünf Sekunden begann ich zu jammern und zu schreien: „Aua, scharf! Das brennt!"

    „Franzi, das kann gar nicht wehtun. Das ist eine Kinderzahnpasta! Die ist nicht scharf!", entgegnete Mama, aber ich heulte weiter. In meiner Erinnerung breitete sich ein stechender Schmerz in meinem Mund aus, der über mein Zahnfleisch wanderte und tief bis in den Rachen hinein zu spüren war. Ich konnte wie so oft nicht verstehen, wie andere Kinder das aushielten.

    Noch bevor die drei Minuten um waren, zog Mama die Zahnbürste gestresst aus meinem Mund. Mit einem angewiderten „Bäh!" spuckte ich die Reste ins Waschbecken. Ich spuckte und spuckte und gurgelte mit Wasser, bis das Brennen in meinem Mund nachließ. Warum glaubte sie mir denn bloß nicht, dass das Ganze wirklich schmerzhaft für mich war?

    Normalerweise ließ sie mich nicht vorschnell vom Haken, aber heute hatte sie weder Lust noch Zeit, mit mir zu diskutieren.

    „Na gut, dann zieh dich jetzt an, wir haben gleich einen Arzttermin", sagte sie und bugsierte mich bereits in mein Kinderzimmer. Entsetzen machte sich in mir breit. Oh nein! Das würde ja schon wieder wehtun!

    „Ich geh nicht zum Arzt!", protestierte ich.

    „Doch du gehst, wir müssen da hin, keine Widerrede!"

    Ein paar Minuten lang bettelte ich noch erfolglos, dann gab ich auf und schlüpfte schmollend in meine Klamotten. Ich konnte an nichts anderes als an den bevorstehenden Termin denken. Was würde heute wieder passieren? Wie viele Schmerzen musste ich aushalten und was würden sie mit mir anstellen?

    Meine letzte Erinnerung an einen Besuch beim städtischen Kinderarzt Dr. Nase zog an meinem geistigen Auge vorbei. Wegen einer Spritze hatte es viel Geschrei gegeben, viele Tränen, eine gestresste, hilflose Mutter und Arzthelferinnen, die mich festgehalten hatten. Und Schmerzen. Schmerzen, die ich zuvor weder hatte absehen noch einschätzen können. In meiner Fantasie schnitten sie mich bei vollem Bewusstsein auf, um einen Tumor aus meinem Bauch zu entfernen. Dem war natürlich nicht so, aber Kinder haben oft irrationale Ängste und Zweifel, die für sie selbst sehr real sind. Ich hatte mangels Erfahrung noch nicht das umfassende Weltverständnis eines Erwachsenen, das einen Menschen in der Gewissheit wiegt, ohne Zustimmung normalerweise nicht einfach operiert zu werden. Außerdem wusste ich nicht, dass Fünfjährige sehr selten Tumore haben. All meine Erinnerungen an Arztpraxen waren leidvoll und schrecklich und ich hatte keine Idee, warum es an diesem Tag anders werden sollte.

    Schon im Auto, auf dem Weg in die Stadt begann ich demnach wieder zu weinen.

    „Mama ich will nicht zum Dr. Nase, ich habe Angst!"

    „Da passiert doch nichts! Wovor hast du denn Angst?", fragte sie.

    „Der tut mir weh! Können wir nicht bitte an einem anderen Tag hingehen?"

    „Franzi, der tut dir überhaupt nicht weh, bitte, ich habe heute keine Energie dafür. Wenn du brav bist, gehen wir danach ein Eis essen, okay?"

    Mein Schluchzen wurde ein wenig leiser. „Wie viele Kugeln kriege ich dann?", wimmerte ich.

    „So viele du willst!", antwortete sie.

    „Krieg ich fünf?"

    „Ja, du kriegst fünf, aber nur wenn du mich heute nicht blamierst …"

    In der Gewissheit, erfolgreich verhandelt zu haben, versuchte ich, meine Angst irgendwie zu unterdrücken. Ich musste mich jetzt einmal kurz zusammenreißen und danach würde ich Zitrone, Schokolade, Erdbeere, Vanille und Stracciatella nehmen! Eis konnte ich ohne Ende essen, aber die Ration wurde von meinen Eltern leider immer auf drei Portionen beschränkt. Mama erzählte mir oft, wie viel Eis sie gegessen hatte, als sie mit mir schwanger gewesen war. Damals musste mein Vater täglich zu Wilhelms ins Dorf fahren, um ihr eine große Eis-­Meringue zu holen. Womöglich gibt es da einen Zusammenhang mit meiner Vorliebe.

    Als wir die Kinderarztpraxis erreichten, wurde mir schnell übel. Obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte, konnte ich meine Angst einfach nicht kontrollieren. Schon im Eingangs­bereich des tristen, grauen Reihenhauses in Pirmasens roch es nach Desinfektionsmittel. Dr. Nase hatte den Ruf, der beste Kinderarzt in der Gegend zu sein. Sicher nicht der empathischste, aber der Beste. Stand meines heutigen Wissens über Psychologie würde ich ihn vielleicht sogar als Psychopathen bezeichnen. Seine Mitarbeiterinnen hingegen waren nett und jedes Kind bekam nach der Behandlung einen Lolli. Gerade als wir an der Anmeldung ankamen, verließ ein Junge vergleichbaren Alters den Behandlungsraum. Ihm wurde von der Empfangsdame zum Abschied ein großer Chupa Chups-Lutscher in die Hand gedrückt. „Hier, weil du so brav warst. Ganz toll!", sagte sie.

    Mich packte der Ehrgeiz. Ich würde meine Mama heute genauso stolz machen wie dieser Junge seine Mutter. Doch wir wurden erst einmal ins Wartezimmer verwiesen. Dort verbrachte ich für gewöhnlich die wohl schlimmsten dreißig Minuten meines Lebens. In meinem Kopf spielten sich blutige Operationen und hoffnungslose Wiederbelebungsversuche an reglosen Kinderkörpern ab, wie ich sie aus dem Fernseher kannte. Daher rechnete ich bei jedem Arztbesuch von vornherein mit einer Hiobsbotschaft, die mir den sicheren Tod in naher Zukunft vorhersagen würde. Dabei sollte ich ja heute eigentlich „nur" geimpft werden. Das allerdings war aus meiner Sicht aus mehreren Gründen problematisch: Erstens würde eine mir unbekannte Flüssigkeit in meinen Körper injiziert werden. Und die könnte womöglich nachhaltig Spuren hinterlassen, mich irgendwie negativ beeinflussen oder gar umbringen. Was, wenn ich allergisch darauf reagiere? Mir ging es bisher an jedem Tag meines kurzen Lebens gut mit meiner körperlichen Verfassung. Warum daran etwas ändern? Zweitens war da diese unfassbare Angst vor der Nadel sowie die Ungewissheit darüber, wann der Stich stattfinden und wie tief die Spitze in meinen Körper eindringen würde. Vielleicht so tief, dass sie auf der anderen Seite meines Arms wieder herauskam? Woher sollte ich das wissen? Vielleicht ging sie ja auch in den Po, das wäre dann noch schlimmer, weil es mir schon als kleines Kind sehr unangenehm war, mich vor irgendwem zu entblößen.

    Ein unaufhörlicher Gedankenterror, bis wir ins Behandlungszimmer gebeten wurden. Schon damals fiel es mir ungewöhnlich schwer, meine Gefühle irgendwie im Zaum zu halten. Medizinische Einrichtungen wie diese assoziierte ich mit dem Tod und als ich Dr. Nase inklusive all seiner Folterinstrumente auf mich warten sah, brannten mir die Sicherungen durch. Ich heulte, als würde der Sensenmann nach meinen Füßen greifen, noch bevor mich überhaupt jemand berührt hatte.

    Dr. Nase hatte in diesen Situationen so etwas wie einen Standardspruch parat, den er immer aufsagte, wenn ein Patient Probleme machte: „Die Mutter beruhigt das Kind."

    Nicht etwa: „Können Sie Ihre Tochter vielleicht mal kurz in den Arm nehmen? Nein. „Die Mutter beruhigt das Kind. Immer wieder.

    Meine Mutter konnte ihr Kind aber nicht beruhigen. Ich kann nachvollziehen, wie stressig und unangenehm das für sie gewesen sein muss. Sie wusste einfach nicht, was sie mit ihrer Tochter tun sollte, die aus jeder Mücke einen Elefanten machte und ständig weinte. Beim Zähneputzen, beim Anziehen, beim Spazierengehen, beim Essen, immer gab es „Theater", wie sie es nannte.

    Wenn fremde Menschen dabei zuschauten, schämte sich meine Mutter. Für ihren unkontrollierbaren Sprössling, die eigene Machtlosigkeit und ihren reißenden Geduldsfaden.

    „Komm, Franzi, du kriegst auch ein Eis, versuchte sie mich mit dünner Stimme zu besänftigen. „Es wird nicht wehtun, ein kleiner Pieks, dann ist es vorbei. Ich höre ihre Worte noch heute. In ihrer Stimme lag nichts Beruhigendes, sie klang eher verzweifelt. Sie wusste also selbst nicht, was passieren würde, das spürte ich damals. Mama war genauso hilflos und wollte sich nur nicht mehr schämen. Ich vertraute ihr nicht. Sie würde alles sagen, um mich dazu zu bringen, die Impfung über mich ergehen zu lassen. Während Dr. Nase weiter sein „Die Mutter beruhigt das Kind" abspulte, machte er die Spritze fertig. Durch seine dicke, schwarze Brille schaute er mich entgeistert an. Er war ein großer Mann mit müden, dunklen Augen, die unter seinen Schlupflidern und dem strähnigen, zerzausten, grauen Haar hervorlugten. Seine Lippen waren schmal, sein Blick ausdruckslos und eine tiefe Nasenlippenfurche zeichnete sein Gesicht. Er kam mir vor wie ein alter, angerosteter Roboter, dessen Funktionstüchtigkeit nicht mehr so ganz zu trauen war.

    Ohne eine Miene zu verziehen, kam er auf mich zu, die Spritze hoch erhoben. Ich saß auf einem hölzernen Erwachsenenstuhl und schrie. Ich schrie um mein Leben. Eine Flut von Panik löste sich in meinem Inneren und machte es mir unmöglich, mich in irgendeiner Weise zu beherrschen. Für mein Unterbewusstsein ging es buchstäblich um Leben

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