Lilli: Eine Perle im Schnee
Von Erwin Sittig und Sascha B. Riehl
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Über dieses E-Book
Erwin Sittig
Erwin Sittig wurde 1953 in Güstrow geboren. Sein Studium an der TU Dresden schloss er 1977 als Dipl.-Ing. für Informationstechnik ab. Heute lebt der Schriftsteller mit seiner Frau in Ludwigsfelde. Da er auch Hobbyfotograf ist, erstellt er gelegentlich seine Cover selbst.
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Buchvorschau
Lilli - Erwin Sittig
Josef 1955
Ein wunderschöner Sommertag mit einem angenehmen Mix aus Sonne, traumhaften Wolkenformationen und frischem, unaufdringlichem Wind zog über den Weststrand auf dem Fischland Darß-Zingst. Der wilde Strand mit seinen einzeln stehenden Bäumen, deren Wipfel sich vom Sturm abwenden, mit dem feinen, hellen Sand und dem breit gefächerten Strandgut hatte es Josef angetan. So wie ihn zog er das ganze Jahr über immer wieder Menschen an, die die Naturbelassenheit zu schätzen wissen, ja geradezu süchtig nach ihr sind.
Die ausgebleichten Hölzer angeschwemmter Baumteile, die durch ihren langen Aufenthalt im Wasser und die Arbeit von Salz, Sonne und Wind ihren unnachahmlichen Charakter aufgedrückt bekamen, verleiteten viele Strandbesucher zum Burgenbau. Kleine, runde, durchlässige Mauern aus Holz entstanden, die ein privates Reich absteckten, bei Bedarf vor neugierigen Blicken schützten und nebenbei Angriffe des Windes etwas milderten, wenn dieser zu aufdringlich wurde.
Eine dieser Burgen beanspruchte Josef für sich. Jedes Jahr hatte er Stück um Stück daran weiter gebaut. Er genoss das Flair des FKK-Strandes, der Menschen jeglicher Couleur vereinte. Scham, Voyeurismus und Imponiergehabe waren hier Fremdworte. Nackt zu sein, war ein Bedürfnis, gleichgültig, ob dick, dünn, makellos oder deformiert, all das war nicht von Belang. Im vorigen Jahr hatte die Staatsführung der DDR die FKK-Bewegung verboten, doch das ignorierten sie. Aufgrund der massiven Proteste wird man im kommenden Jahr diese Entscheidung zurücknehmen, was Josef jedoch nicht ahnen konnte.
Seit Kurzem hatte sein geliebter Weststrand eine kaum bezahlbare Aufwertung bekommen. Er hatte seiner großen Liebe Gabi dieses idyllische Fleckchen Erde vorgestellt. Da sie seine Begeisterung teilte, begleitete sie ihn, sobald es Josef hier her zog. Sie hätten gern häufiger den Weststrand besucht, wenn die Zeit es zuließe und der Weg nicht so weit wäre.
Josef hörte das behutsame Flüstern des Seegrases in den Dünen. Schau, wie schön sie ist, wie anmutig sie sich im Wasser bewegt, wie kindlich verspielt sie mit den Wellen tanzt, die mit ihr im Zwiegespräch zu stehen scheinen und sie wiederholt aufbrausend streicheln. Er war nicht fähig, seine Augen von Gabi zu lösen, die vom warmen Licht der Sonne stimmungsvoll angestrahlt wurde. Immer wieder aufs Neue verwunderte es ihn, dass die Natur im Stande war, einen so perfekten Körper hervorzubringen. Ein größeres Wunder war hingegen, dass diese Frau zu ihm gehörte, sich in ihn verliebt hatte. Über ein Jahr waren sie schon ein Paar und seine Liebe hatte kein Deut nachgelassen. Allein der Gedanke an sie ließ sein Herz galoppieren und seine Sinne verrücktspielen.
„Nun komm schon rein oder bist Du aus Zucker?", hörte er ihre klare, ausgelassene Stimme.
Gabis langes, blondes Haar wehte leicht im Wind und ihre sonnengebräunte Figur hob sich, wie das Meisterwerk eines Künstlers, vom Meer ab. Die brausende Gischt erweckte den Eindruck, als stünde Gabi auf einem in Bewegung befindlichen Sockel.
Er benötigte eine Weile, um aus seinem Traum herauszutreten. Und das Seegras flüsterte: Beeile dich. Sie wartet.
Er lief auf sie zu und rief lachend: „Finde es selbst heraus!"
Gabi floh kreischend ins Meer, doch er holte sie schnell ein und stürzte sich mit ihr in die behutsamen Wellen. Sie balgten sich, wie die kleinen Kinder, bespritzten sich mit Wasser, stuckten sich unter. Josef nahm seine Meernixe auf die Arme und warf sie durch die Luft, was sie mit erneutem Kreischen belohnte.
Des Spielens müde, liefen sie zu ihrer Burg und legten sich keuchend auf ihre Badetücher.
Diese Momente mit seiner Gabi empfand er so unbeschwert, dass ihn alle Sorgen verließen.
Es war kein Platz dafür da. Ihre sanfte Stimme wehte über die vollen Lippen und betörte ihn. Ihre schmeichelnden Blicke umhüllten sein Gesicht und ihre zärtlichen Hände verzauberten seine Haut. Es war wie im Paradies.
Wohltuend erschöpft lagen sie am Strand und ihre Augen streiften über Meer und Leute. Gabis Blick blieb an einer kleinen, schwarzhaarigen Frau hängen, die, wie zur Dekoration, ihren wohl geformten Körper der Sonne darbot. Auf Josef wirkte sie etwas kantig und die kurzen Haare erzeugten einen burschikosen Eindruck.
„Kennst du sie?", fragte er, da Gabis Blick sich dort verankert zu haben schien.
„Nein. Sie wirkt auf mich nur etwas traurig und einsam. Das fiel mir vorhin schon auf."
Sie drehte sich wieder zu ihm und legte den Kopf auf seine Brust.
In dieser milden Nacht waren sie am Meer geblieben, hatten sich hinter ihrer kleinen Burg in eine Decke gemummelt und sich, nachdem alle den Strand verlassen hatten, leidenschaftlich geliebt. Josef ahnte nicht, dass dies ihre letzte Begegnung sein würde, sonst hätte er Gabi festgehalten und nie mehr losgelassen.
Martha 2016
Heute war ihr Glückstag. Die junge Frau Sabine mit Ihrer Tochter Lilli hatten nach wochenlanger Überlegung zugesagt, Marthas kleines Häuschen zu mieten. Morgen werden sie dort einziehen. Sie hatten ihre alte Wohnung endlich aufgegeben, alle Möbel verkauft und Marthas Angebot angenommen. Sie waren letztendlich ihrer Überredungskunst erlegen, zumal sie sehr überzeugend sein konnte. Das Glück stand ihr bei, indem Mutter und Tochter momentan nicht so glücklich mit ihrem gegenwärtigen Leben waren.
Martha wusste sofort, dass die beiden die Richtigen sind. Sie hatte monatelang nach ihnen gesucht. Sabine hatte schon länger über einen kompletten Neuanfang nachgedacht. Für ihre Tochter Lilli empfand sie den besonders wichtig.
Martha brauchte das Haus nicht. Sie nutzte es ohnehin kaum, da sie sich vor ein paar Jahren die Eigentumswohnung in der Stadt gekauft hatte.
Sie war schon über 80, was man ihr nicht ansah. Das Tönen der mittellangen, naturgelockten Haare fiel ihr immer schwerer. Wäre es nicht besser, endlich ihr Grau herauswachsenzulassen? Einfach gesagt, wenn die Eitelkeit lautstark dagegen rebelliert. Einmal hatte sie es ausprobiert, doch auf halbem Wege schlappgemacht, da sie sich als so alte Frau im Spiegel nicht ertragen konnte. Martha legte gesteigerten Wert auf ihr Äußeres. Stets hatten die Kleidung mit Schmuck und Accessoires perfekt abgestimmt zu sein. Fürs Schminken plante sie ausreichend Zeit ein, sobald abzusehen war, dass sie das Haus verlassen wird. Selbst das fiel ihr immer schwerer.
In die beiden, Mutter und Tochter, hatte sie sich sofort verliebt. Sie strahlten eine ansteckende Herzlichkeit aus. Immer wenn sie sich begegneten, fühlte sie sich verjüngt und ihre Zipperlein gaben etwas Ruhe. Besser gesagt, sie wurden ihr nicht mehr bewusst, da sie voll in der Begegnung mit den beiden aufging und kein Gedanke für ihre Gebrechen übrig blieb.
Gleich in der Früh beabsichtigten sie, sich zu treffen. Das Haus hatte sie ihnen nur einmal gezeigt. Einen ganzen Nachmittag lang schauten sie in jeden Winkel des Gebäudes und nebenbei kurz in den Garten, der durch sein liederliches Aussehen lautstark die mangelnde Pflege beklagte.
Beschämt hatte sich Martha entschuldigt, dass ihr Zeit und Kraft fehlten, um ihm zu geben, was ihm zustand.
Sabine hatte sich nach dem alten Herrn erkundigt, der emsig in seinen Beeten wirtschaftete. Er wird ihr neuer Nachbar werden. Während ihres Besuches hatte er sie keines Blickes gewürdigt und arbeitete in seinem Garten, meist mit dem Rücken zu ihnen, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden.
Martha beruhigte sie. Der Mann heißt Josef Gramlow und ist ein halber Einsiedler, der zu niemandem im Ort Kontakt hat und es auch nicht wünscht. Ihr werdet ihn gar nicht spüren. Er redet nicht und macht keinen Lärm. Am besten ihr lasst ihn links liegen. Er reagiert immer mürrisch, wenn man ihn anspricht.
„Ich werde euch hin und wieder besuchen kommen, bis ihr euch eingelebt habt. Und wenn ihr Unterstützung braucht, könnt ihr mich jederzeit anrufen", versprach Martha.
Sie hoffte sogar, dass sie öfter ihre Hilfe in Anspruch nehmen werden, denn sie fühlte sich etwas einsam und hasste es, nur mit Leuten ihres Alters ihre Zeit zu verbringen. In der Stadt gab es genug Kontaktmöglichkeiten, doch sie zog die Gesellschaft der Jugend vor, da sie dadurch frischer blieb, der Lebenssaft spürbarer durch ihre Adern floss. Aber sie blühte auch auf, wenn ihre Erfahrungen geschätzt wurden, die sie gern teilte.
So ein Leben, wie es Josef Gramlow führte, wäre für sie ein schleichender Selbstmord.
Josef 2016
Bewegungslos saß der alte Mann vor seinem Häuschen. Die Jahre und das Leid waren in sein Gesicht gemeißelt. Viele tiefe Falten, die in unzählige Kleine mündeten, erweckten Ehrfurcht beim Betrachter. Unterstützt wurde dies durch sein volles, schneeweißes Haar und die Wetterbräune, die selbst durch die kurzen Bartstoppeln drang. Dem fahlen Mondlicht gelang es, diese eindrucksvolle Faltenlandschaft weiter zu vertiefen. Doch sein rundes Gesicht bemühte sich erfolgreich, sein Alter von 84 etwas abzumildern. Der breitkrempige Hut war sein Markenzeichen. Er trug ihn zu jeder Jahreszeit und war schon zünftig speckig.
Sein Blick, der dem Mond zugewandt war, schien nach innen gekehrt. Ein gelegentliches Augenblinzeln verriet, dass er am Leben war. Die Statur wirkte stämmig, jedoch nicht dick.
Er saß schon lange hier und hatte auf diese Minuten gewartet - die Abenddämmerung.
Ein lautloses Flattern regte seine Lebensgeister an und ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht, während er dem Flug der Fledermaus folgte.
Das war das Signal, dass der Reigen eröffnet ist und nacheinander der Rest seiner Horde unter der Holzverkleidung des Dachvorsprungs hervorkriechen würde, um die Jagd aufzunehmen. Josef beobachtete die kleinen Fledermäuse schon viele Jahre und mied den Dachboden, seit er bemerkt hatte, dass sie bei ihm Quartier bezogen haben. Es war ohnehin nur nutzloses Gerümpel dort zu finden. Jeden Abend saß er auf seiner Bank und zählte seine Untermieter. Gestern waren es 129. Eine recht große Kolonie, wie er recherchiert hatte.
Das leichte Bewegen seiner Lippen verriet das lautlose Zählen. Heute kam er nur auf 127, was unter Umständen daran lag, dass er nicht in der Lage war, alle zu erfassen, wenn viele von ihnen gleichzeitig davon flogen. Möglich, dass er sich die Zahl unbewusst schönrechnete, in Ermangelung an Konzentrationsfähigkeit.
Er genoss noch ein paar Minuten die angenehme Stille mit den leisen Atemzügen der Natur und erhob sich dann ächzend von seiner rustikalen Holzbank. Das Alter steckte schon rebellierend in seinen Knochen und so streckte er sich erst mal und ließ seinen Blick über die kleine Siedlung schweifen.
Als er vor ca. 10 Jahren das Häuschen gekauft hatte, wusste er, dass er hier sein Leben beenden würde. Sein Grundstück war das letzte im Ort und lag erhaben auf einem kleinen Hügel, der an ein Feld grenzte, das meistens mit Getreide bestellt wurde. Zur Linken breitete sich ein Wäldchen aus, in dem sich momentan seine Fledermäuse den Bauch vollschlugen. Nach unten hin reihten sich, immer weiter abfallend, die Parzellen der anderen Dorfbewohner. Sie zeigten sich beidseitig des Weges, der über einige Biegungen bis zu einem kleinen idyllischen See führte. Josef lächelte ein letztes Mal, als er an die beste Entscheidung seines späten Lebens dachte, sich hier niederzulassen.
Der einzige Wermutstropfen war, dass seine große Liebe Gabi, die er 1953 kennengelernt hatte und die 2 Jahre später spurlos verschwand, nicht bei ihm war.
Mit diesen trübsinnigen Gedanken setzt er sich, wie jeden Tag, schlürfend in Bewegung, um sich bettfertig zu machen.
Er war rechtschaffen müde, so dass ihn der Schlaf schnell zu sich nahm.
Wie ein Engel schwebte sie vor ihm und vollführte einen Tanz, als wolle sie ihn verführen. Mit leichten, fast durchsichtigen Tüchern, bewegte sie sich graziös auf einer Waldlichtung. Immer wieder schickte sie ihm kokette Blicke zu und die Sonne präsentierte ihr schönstes Gegenlicht, um für Josef den perfekten Körper seiner geliebten Gabi in Szene zu setzen. Bei so viel Schönheit wagte er es nicht, sich zu rühren. Doch dann kamen diese Wilden aus dem Wald geprescht und stürzten sich auf das Mädchen. Diese floh entsetzt ins Dickicht, weg von ihm. In Todesangst kreischte sie und schrie seinen Namen. Josef, hilf mir Josef. Warum kommst du nicht. Er sah die flatternden Tücher zu Boden fallen und die wilden Kerle liefen ihr hinterher und nahmen ihm letztendlich den Blick auf seine Gabi, die immer verzweifelter brüllte. Doch er blieb wie angewurzelt stehen, ebenso entsetzt über den Verlust, wie über seine Hilflosigkeit. Als er an sich herabsah, waren seine Beine zu Wurzeln mutiert, die tief in den Boden führten und ihn festhielten. Gabis Schreie wurden in der Ferne immer leiser, bis es totenstill war. Josef hatte zu lange gewartet. Doch hatten sich die Wurzeln seiner bemächtigt, oder entsprangen sie seinem Körper?
Nicht ein Vogel sang sein Lied. In ihm dröhnte eine schreiende Leere, die immer weiter anschwoll, bis er schließlich schweißgebadet aus seinem Albtraum erwachte. Es kam häufig vor, dass er von Gabi träumte und selten waren es erfreuliche Geschichten. Sein Herz raste wie wild und er empfand es wie ein Wunder, dass seine Träume nie zu einem Herzinfarkt geführt hatten.
Als wäre der Albtraum nicht genug, schmerzte höllisch sein rechter Arm, auf dem er vermutlich zu lange gelegen hatte. Es fiel ihm heute ausgesprochen schwer, seine Morgenwäsche hinter sich zu bringen. Doch er hatte die Erfahrung gemacht, dass gegen Schmerzen Bewegung die beste Medizin ist.
Josef freute sich schon auf sein Frühstück im Freien, die frische Luft, die Gesellschaft trällernder Vögel, zirpender Grillen und den Blick auf seinen gepflegten Garten. Das boten ihm weder Radio noch Fernsehen.
Er hatte nicht lange an seinem Frühstückstisch gesessen, als ein Auto vorfuhr. Es war seine Nachbarin. Die Alte, die immer versucht, sich auf jung zu trimmen. Er glaubte, zu wissen, dass sie Martha heißt. Ihr Alter taxierte er auf ca. 70 Jahre. Sie war einigermaßen rüstig, schnaufte aber schon, sobald sie den Hügel zu ihrem Haus emporstieg. Kein Wunder, wenn man sich soviel Winterspeck anfrisst, dachte er bei sich. Er hatte nie mehr als 4 bis 5 Worte mit ihr gewechselt. Das fehlte noch, dass dieses Geschnatter ihm den Tag vermiest. Er hoffte, dass sie bald wieder wegfahren würde.
Misstrauisch beobachtete er sie unauffällig aus den Augenwinkeln. Sie schleppte allerhand Krimskrams ins Haus hinein. Josef befürchtete Schlimmstes. Nicht dass sie den Sommer hier verbringen will. Bisher waren es immer nur gelegentliche Wochenendbesuche. Ihre schleimigen Gesprächsversuche hatte er stets im Ansatz abgewürgt, so dass sie sich beleidigt zurückzog. Das Problem war ein für alle Mal geklärt. Er hatte jetzt absolute Funkstille.
Gerade wollte er sich wieder seinem Frühstück zuwenden, als er beobachtete, wie Martha unbeholfen ein Kinderfahrrad aus dem Auto zerrte. Höchst alarmiert blieb ihm der Mund offen stehen und seine Augen fraßen sich an der Alten fest. Die schickte ihm einen um Hilfe flehenden Blick empor, aber Josef schaute demonstrativ weg. Mit großem Geschepper hatte sie es dann doch geschafft. Ihr lautstarkes Gefluche verkündete ihm, dass sie sich ein paar Kratzer im Autolack zugezogen hatte. Was kümmert's ihn. Ein Kinderrad hatte hier nichts zu suchen. Selbst schuld. Inzwischen war sie hinter ihrer Tür verschwunden und Josef widmete sich, wenn auch weiterhin beunruhigt seinem Frühstück. Der Kaffee wird jetzt fertig sein. Langsam schlurfte er ins Haus, um ihn zu holen.
Martha 1960
Sie hatte lange nicht mehr so ein Kribbeln im Bauch verspürt. Ihre neue Freundin brachte all das mit, wovon sie, schon seit Ewigkeiten, geträumt hatte: Witz, Charme, Eleganz, Frische, Leichtigkeit, Intelligenz und ein blendendes Aussehen. Ihre Verliebtheit ließ sie kaum schlafen, sobald ihre Süße, so nannte sie sie immer, nicht bei ihr war. Sie liebte vor allem die Einfühlsamkeit, das blinde, wortlose Verstehen, diese Weichheit des Körpers mit den vielen betörenden Rundungen und den unbeschreiblichen Duft, der sie verrückt machte.
All das hatte ihr nie ein Mann gegeben. Es belastete sie, dass sie ihre Liebe nicht in die Öffentlichkeit tragen durften. Die gesellschaftlichen Bedingungen und vor allem die Moralvorstellungen der Mitbürger, waren besonders in kleineren Orten, extrem feindlich gegen alles, was nicht der Norm entsprach. Sie hatten beide Angst geächtet zu werden und träumten davon, auch außerhalb ihrer Wohnung, ein akzeptables Leben zu führen.
Sie zahlten einen hohen Preis, indem sie sich diesem psychischen Druck aussetzten. Sie lebten in ständiger Angst, entlarvt zu werden. Zum Glück sahen sie es beide so und keine wollte den rebellischen Weg einschlagen und der ganzen Welt die Stirn bieten. Zwar waren seit dem Jahr 1957 in der DDR lesbische Handlungen nur strafbar, wenn man jünger als 21 war, doch die Menschen unterschieden da nicht. Im Nachbarland, der BRD, blieb es weiterhin eine Straftat, so dass sie zumindest glücklich waren, aus dieser Richtung nichts mehr zu befürchten. Dennoch wären die psychischen Strafen, wenn sie sich outeten, wie ein ständiger Dolch in ihrem Rücken, der zwar schon drin steckte, an dem sich aber jederzeit jemand betätigen kann, um das Leid zu vervielfachen.
'Lieber ein kleines Glück, als keines', sagten sie sich immer und hatten sich damit arrangiert.
Für die anderen waren sie Cousinen, die in einer Wohngemeinschaft lebten, um die Kosten zu teilen. Um ein Alibi zu haben, trafen sie sich gelegentlich mit Männern, gingen jedoch nie über das Austauschen von Küssen hinaus.
Martha hörte, wie sich ihre Süße hinter der Badezimmertür auf die Nacht vorbereitete. Sie freute sich schon auf das allabendliche Kuscheln, um den Tag ausklingen zu lassen.
Lächelnd kam ihre Geliebte auf sie zu und vollführte einen kleinen Endspurt, um zu ihr ins Bett zu springen. Sie drängten sich sehnsüchtig aneinander, um mit der Wärme ihrer Körper die Kälte des Tages zu verbannen.
Während sie sich liebkosten, erzählten sie von den Ereignissen des vergangenen Tages, um immer im Bilde zu sein, wie es der anderen erging.
Eine Kollegin von Martha hatte von einem Mädchen berichtet, die ihr Kind weggab, da sie sich nicht in der Lage fühlte, die Mutterrolle auszufüllen. Die Behörden sahen es ähnlich und hatten zugestimmt. Marthas beiläufige Bemerkung „ ich könnte das nicht" brachte ihre Süße auf die Palme.
„Was weißt du denn schon. Meinst du wirklich, du könntest dir eine Meinung darüber erlauben? Weißt du, wie es ihr geht, in welchem Umfeld sie lebt, wer ihr zusetzt?"
„Ich könnte das nicht", setzte sie nach, indem sie Martha nachäffte.
„Meinst Du, ihr ist das leicht gefallen?"
Plötzlich brach sie in Tränen aus, versenkte den Kopf in ihren Armen und ließ das Weinen in ein kräftiges Schluchzen und Winseln übergehen.
Martha war bestürzt, was so ein beiläufig gesprochener Satz für Auswirkungen hatte.
Sie nahm ihre Süße in den Arm, streichelte sie und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht.
„Erzähle. Was steckt dahinter. Hat Dich Deine Mutter auch weggegeben?"
Eine lange Pause entstand. Martha gab ihr Zeit. Da saß etwas so tief, dass es sich qualvoll hervorbrach. Endlich erzählte sie ihre Geschichte. Martha staunte mit jedem Wort mehr, dass sie nie darüber gesprochen hatte und trotzdem mit dieser scheinbaren Unbeschwertheit das Leben meisterte.
„Ich war auch schon mal schwanger. Lange habe ich überlegt, ob ich abtreiben soll, doch ich konnte es nicht. Aber ich konnte ebenso wenig eine Mutter für das Kind sein. Mit aller Macht hatte ich für mich entdeckt, dass ich Frauen liebe. Immer