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Die, die hinter dem Mond lebten
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eBook638 Seiten9 Stunden

Die, die hinter dem Mond lebten

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Über dieses E-Book

In einer rauen Mittelgebirgslandschaft wird ein Knabe geboren. Die Bauern haben schwere Zeiten hinter sich, die sich nur langsam, einem humanen Lebensstil anpassen können. Sie schuften von früh bis spät um ihre Familien satt zu bekommen. Der Knabe wächst auf und erlebt die Strenge der damals üblichen Erziehungsmethoden. Wie alle Kinder, muss er schon recht früh seinen Beitrag in der Landwirtschaft leisten. Nach der Schulentlassung sollte er den kleinen Betrieb seines Vater übernehmen. Aber in einer Zeit, in der die Landwirtschaft an Bedeutung verloren hat, kann er einen Beruf erlernen. Leider entspricht der Beruf in keiner Weise dem Verständnis der Menschen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum26. Nov. 2015
ISBN9783732371747
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    Buchvorschau

    Die, die hinter dem Mond lebten - Tarzisius Knop

    Aller Anfang ist schwer.

    Als ich meine Augen zum ersten Mal öffnete und in die Welt blickte, die offensichtlich nur aus mir fremden Gesichtern bestand, war mir, als käme ich von einem fremden Stern. Wo war ich gelandet? Ich hatte das Gefühl, als hätte ich eine drangvolle und angespannte Zeit hinter mir und war entsetzlich müde. Schließlich verschwammen die mich anstarrenden Augen immer mehr und irgendwann muss mich der Schlaf in das Land der Träume zurückgeholt haben. Wie lange ich geschlafen hatte, vermag ich nicht mehr zu sagen. Ich wachte auf und öffnete die Augen. Meine Blicke gingen ins Leere. Doch nicht nur meine Blicke, auch in meinem Inneren hatte ich ein Gefühl von einer unangenehmen Leere – ich sollte wohl irgendetwas zur Stärkung fordern. Also musste ich mich in irgendeiner Weise bemerkbar machen. Meine Schreie hallten durch den Raum. Oh Wunder - ich hörte Stimmen und schon sah ich wieder einige Gesichter, die mich mitleidig betrachteten. Plötzlich war mir, als käme mir ein Gesicht irgendwie bekannt vor und schon streckten sich mir zwei Hände entgegen und nahmen mich in den Arm. Es war ein angenehmes Gefühl, das Wärme und Geborgenheit spüren ließ. Aber mein Magen knurrte immer noch und meine Schreie wurden heftiger. Meine Lippen spürten plötzlich etwas Weiches und instinktiv saugte ich daran. Welche Wonne, das was über meine Zunge floss, war eine wohltuende erste Mahlzeit. Der Start ins Leben war nun geschafft, mal sehen wie es weitergeht.

    Jeder Mensch wird in seine Welt hinein geboren, eine Welt, die nach und nach feste Konturen annimmt und deren Horizonte sich ständig erweitern. Im Grunde genommen war mir das zum damaligen Zeitpunkt alles nicht wichtig. In dieser Startphase des Lebens sind die Wünsche noch bescheiden und betreffen nur einige Grundbedürfnisse. Außer dem Schlaf sollte der Hunger gestillt werden und auch ein allgemeines Wohlbefinden sollte damit einhergehen. Entsprachen die Umstände nicht einem angenehmen Gefühl, dann waren meine lauten Schreie die einzige Möglichkeit, dies meinen Mitmenschen begreiflich zu machen. Was war das aber für eine Welt, in der ich das Licht der Welt erblickte?

    Fangen wir bei den wichtigsten Personen an, ohne die ich wohl ewig in „Abrahams Buxentasche" geblieben wäre – wie die Geisfelder sich auszudrücken pflegten, wenn von einer nicht vorhandenen menschlichen Existenz die Rede war. Meine Eltern waren nicht mehr die Jüngsten und hatten bereits vor mir sieben Kinder in die Welt gesetzt – ich sollte als achtes Kind die Serie beenden. Aber alles der Reihe nach - kehren wir zu den frühen Anfängen zurück, als das Schicksal die ersten Weichen stellte.

    Ein von Strapazen gezeichneter Mann, ein gewisser Johann Knop, kam als Soldat nach dem ersten Weltkrieg nach Hause. Er hatte Schreckliches erlebt und benötigte einige Zeit, die schlimmen Erlebnisse zu verarbeiten. Nur durch einen Zufall überlebte er einen Granatangriff, dem seine ganzen Kameraden zum Opfer gefallen waren. Er benötigte eine ganze Weile um mit der Realität wieder zurecht zu kommen, dabei half ihm die ländliche Atmosphäre, deren Vertrautheit seine Gedanken positiv beeinflussten. Zu Hause hatte ihn sein betagter Vater Michel und seine Mutter Anna-Maria schon sehnsüchtig erwartet. Sie hatten sich während seiner langen Abwesenheit mit ihrer Landwirtschaft alleine herumplagen müssen und hofften nun auf seine tatkräftige Hilfe. Aber noch aus einem anderen Grund hatte seine Ankunft ihr Leid etwas gemildert. Denn Wochen vorher hatten sie die schmerzliche Nachricht erhalten, dass ihr Sohn, der Hanni, im Krieg gefallen war. Auf diesen Sohn waren sie besonders stolz und hatten ihm eine Ausbildung ermöglicht, die von ihnen so manches Opfer forderte. Er hatte studiert und musste kurz vor seiner Priesterweihe in den Krieg ziehen. Umso schmerzlicher war sein Verlust, weil seine Berufung zu einem geistigen Beruf auch all ihre diesbezüglichen Hoffnungen zunichtemachte. Nach diesen Enttäuschungen konnten sie nun, da der Johann heimgekehrt war, darauf vertrauen, dass wenigstens ihr Lebensabend wieder in geordneten Bahnen verlaufen würde. Der Michel betrieb in dem kleinen Hunrückdorf Geisfeld eine kleine Landwirtschaft, die er in langer Tradition von seinem Vater übernommen hatte. Auch wenn sie sich damit herumplagen mussten und ständig von der Sorge getrieben wurden, ausreichende Erträge zu ernten, um die große Familie zu ernähren, ihr Land war letztlich ihr Leben. Es lebten nämlich noch einige Töchter mit im Haushalt, die auch versorgt werden sollten. Eine Tochter war bereits verheiratet und wohnte mit ihrer Familie in einem Nachbarort. Drei ihrer Söhne hatten sich nach dem Krieg aufgemacht und sich im Ruhrgebiet niedergelassen. Für das alte Ehepaar war das harte Landleben eine einzige Herausforderung und sie mussten in der Vergangenheit schon Jahre überstehen, die verbunden mit Missernten an Schrecklichkeit nicht zu überbieten waren. Trotzdem hingen sie an der heimatlichen Scholle, der sie sich verpflichtet fühlten. Das bedeutete auch, dass zur gegebenen Zeit die bäuerliche Tradition mit einem Nachfolger weitergehen sollte. Der Betrieb sollte vom Sohn Johann weitergeführt werden und der Zeitpunkt der Übergabe wäre eigentlich längst überfällig gewesen. Aber seine lange Abwesenheit durch den Krieg hatte dies bisher verhindert. Nun wurde es höchste Zeit, den betagten Eltern die schwere Last von ihren Schultern zu nehmen. Doch einem Bauern, der eine geordnete Nachfolge anzutreten beabsichtigte, sollte auch eine Bäuerin zur Seite stehen – eine wichtige Voraussetzung für einen guten Start. Bedingt durch die lange Abwesenheit, in der er für Kaiser und Vaterland gekämpft hatte, war eine Menge Zeit verloren gegangen. So hatte er inzwischen ein Alter erreicht, in dem man als Bauer für gewöhnlich über Frau und Kinder verfügte. Der Heimkehrer musste sich nun sputen die Frau fürs Leben zu finden, um die notwendigen Voraussetzen zu erfüllen. Er schaute sich unter den heiratswilligen Frauen im Dorf um, aber es war keine dabei, die seinen Vorstellungen entsprach. Nachdem viele Männer aus dem Ort den Krieg nicht überlebt hatten, gab es zwangsläufig einen gewissen Frauenüberschuss und manch eine „fesche Maid hätte dem gesitteten Johann sicher keinen Korb verpasst. Vielleicht kamen von den Eltern auch Vorschläge über Kandidatinnen, die eine gute Partie gewesen wären. Wenn die Schwiegertochter in spé ein paar Felder mitgebracht hätte, wäre das sicher eine willkommene Angelegenheit gewesen. Aber das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, war jedoch für den Johann kein Grund, vorschnelle Entscheidungen zu treffen. Er ließ sich nicht beirren und setzte auf Zeit, denn dieser Schritt wollte gut überlegt sein. Für die ländliche Bevölkerung war der traditionelle Kirmestanz schon immer eine gute Gelegenheit für die Partnersuche. Zu diesen Veranstaltungen kamen meist auch Gäste aus den Nachbarorten und dabei hoffte so mancher Jüngling, mit Amors Hilfe eine Frau zu finden, die seinen Wünschen entsprach. Aber der Gott der Liebe hatte dem Johann noch nicht zu seinem Glück verholfen. Ständig drängte ihn sein Vater, bei der Brautwahl keine zu hohen Ansprüche zu stellen und sich endlich zu entscheiden. Aber in dieser wichtigen Angelegenheit wollte er sich nicht drängeln lassen. Er war nicht der Typ, der in einer gewissen Torschlusspanik eine vorschnelle Entscheidung getroffen hätte. Mit einem festen Vorsatz und einigen Erwartungen begleitete er einen Kameraden zur Kirmes in einen Ort namens Gräfendhron. Der lag nicht in der direkten Nachbarschaft, sondern im Tal der Dhron, einer Gegend unweit zur Mosel. Den mehrstündigen Fußmarsch nahmen sie in ihrer wichtigen Mission gerne in Kauf. Dort angekommen besuchten sie zunächst die Verwandten des Begleiters, die sie gleich mit einer Stärkung bewirteten. Zum abendlichen Kirmestanz, der der eigentliche Grund ihres Besuches war, ging man mit einer gewissen Hoffnung. Dort spielte eine Zigeunerkapelle flotte Weisen und beim berauschenden Walzertakt wurden bei den „späten Jünglingen Emotionen geweckt, die geeignet waren, gewisse Hemmungen schnell über Bord zu werfen. So wurde aus dem schüchternen Tänzer ein Mann, der in charmanter Weise etliche Frauen zum Tanz aufforderte. Eine der Tänzerinnen hatte es ihm angetan. Als er zum wiederholten Male mit ihr über den Tanzboden schwebte, schlug sein Herz immer einige Takte schneller. Hatte der Pfeil Amors ihn schon getroffen? Die junge Margarethe, eine fesche Maid aus dem Ort, schien ihren Tanzpartner sympathisch zu finden und hatte nichts dagegen, dass man während einer Pause sich diskret zurückzog. In einer stille Ecke, die als kleine Bar diente, gönnte man sich ein hochgeistiges Getränk. Während sie den Eierlikör in kleinen Schlückchen genoss, hatte er schon zwei Stamper Apfeltrester in schnellen Zügen geleert. Das beflügelte seinen Mut und seine zaghaften Annäherungsversuche schienen der jungen Frau nicht unangenehm sein. Mitternacht war längst vorbei, als sich die beiden Männer auf den Heimweg machten. Den steilen Pfad zu erklimmen, der aus dem engen Tal auf die Höhen des Hunsrücks führte, war normalerweise eine schweißtreibende Angelegenheit. Doch für die beiden Kirmesbesucher, die noch beseelt waren von den anregenden Getränken und den lüsternen Gedanken der jüngsten Erlebnisse, gingen die Anstrengungen im Rausch der Gefühle völlig unter. Der Morgen graute schon, als das heimatliche Dorf schließlich vor ihnen lag. Im Haus herrschte schon Leben. Der Vater hantierte in der Scheune und war schon dabei das Vieh zu füttern. Er schaute seinen Sohn vorwurfsvoll an, verkniff sich aber einen direkten Vorwurf. Er tat so, als wäre dies ein ganz normaler Montag und dazu gab er seine Arbeitsanweisungen: „Das Wetter wird heute wohl trocken bleiben und deshalb sollten wir noch die letzten Rüben auf dem Weiher Flur holen. Doch dem Sohn war nicht nach Rüben zumute, seine Gedanken waren noch nicht in der Realität angekommen. Obwohl er bereits ein „gestandener Mann von 30 Jahren war, nahm er die Befehle seines Vaters widerspruchslos hin. In der kleinen Küche war die Mutter schon dabei das Frühstück zu richten. Neugierig und mit einem wohlwollenden Blick schaute sie ihren Johann an und fragte: „Hattest Du einen schönen Sonntag, wie war es in Gräfendhron? Bei ihrem übernächtigten Sohn machte sich langsam die Müdigkeit bemerkbar und seine Antwort war knapp und lapidar. „Ganz gut murmelte er. Während des Tages verrichtete er still seine Arbeit und dabei gingen seine Gedanken immer wieder zu „seiner Margarethe" – der Johann war verliebt. Wochen später traf man sich wieder in Thalfang und dann musste der Johann für eine Weile Abschied nehmen vom Hunsrück.

    Die Geisfelder Bauern waren durchwegs mit keinen großen Gütern gesegnet. Zwar gab es einige, die ein paar Felder mehr unter dem Pflug hatten, aber auch ihr Besitz hielt sich in recht engen Grenzen. Die wenigen Ackerflächen mit den meist schlechten Böden und das raue Klima waren schlechte Voraussetzungen, um die großen Familien ausreichend über die Runden zu bringen. Eine der wenigen Möglichkeiten an Bargeld zu gelangen war, sich eine Arbeit zu suchen. Deshalb ging man, wenn die Feldarbeit fürs Jahr beendet war, einer auswärtigen Beschäftigung nach. Doch im weiten Umkreis waren die Arbeitsmöglichkeiten begrenzt und äußerst schwer zu finden. Aus diesem Grunde waren auch Arbeiten in entfernteren Gegenden stets willkommen. Über die Wintermonate hatte es den Johann ins Ruhrgebiet verschlagen. Durch die Vermittlung eines Bruders, der dort seit kurzem lebte, hatte er eine Arbeit gefunden. Dort hatte er eine Beschäftigung an einem Hochofen einer großen Gießerei. Die Arbeit war schwer und in Verbindung mit einer Unterkunft, die nur die nötigsten Bedürfnisse berücksichtigte, war das Leben nicht leicht zu ertragen. Er sehnte sich nach der Heimat und seiner Liebsten, die im fernen Gräfendhron auf ihn wartete. An den Sonntagen, wenn seine Arbeitskollegen in den Wirtschaften sich mit Kartenspielen die Zeit vertrieben, saß er allein in seiner spartanisch eingerichteten Unterkunft und schrieb Briefe an seine „Gret". Nach Tagen erwartete er dann sehnsüchtig die Antworten. Als der Frühling kam und die Zeit gekommen war, wieder heimatliche Gefilde anzusteuern, war er glücklich und konnte es kaum erwarten, Hunsrücker Boden zu betreten. Dort wurde er auch schon sehnsüchtig erwartet. In erster Linie war es sein Vater, der sich schon Sorgen um die Frühjahrsaussaat machte. Schon ein Tag nach seiner Heimkehr wurde der Johann von seinem Vater gedrängt, mit den Feldarbeiten zu beginnen. Das Wetter war günstig und die Nachbarn waren schon seit Tagen mit ihren Kuhgespannen unterwegs. Das war ein besonderer Grund sich zu sputen. Aber auch seine Liebste hatte Sehnsucht nach ihm, die sie schon in den zahlreichen Briefen zum Ausdruck gebracht hatte. Endlich war der Sonntag gekommen und der freie Tag musste genutzt werden, um die Liebste wieder zu sehen. Es war noch dunkel, als er sich auf den weiten Weg machte. Dieser Besuch war für ihn von besonderer Bedeutung. Im letzten Brief war nämlich die Rede davon, dass die Mutter der jungen Frau endlich den Verehrer ihrer Tochter persönlich kennenlernen wollte. Das war für den Johann ein sicheres Zeichen, dass sich ihr Verhältnis in einer Phase befand, die Hoffnung aufkommen ließ. Unter diesem Aspekt war es natürlich sehr wichtig, einen guten Eindruck zu machen. Als er den Ort Thalfang erreichte, der etwa auf halber Wegstrecke lag, ging gerade die Sonne auf und es schien ein schöner Tag zu werden. Unterwegs begegnete er Bauern, die selbst am heiligen Sonntag auf ihren Feldern arbeiteten. Das war in seinen Augen ein Frevel gegen das Sonntagsgebot. Aber er wusste, in dieser Gegend leben evangelische Bauern und die nehmen es mit der Sonntagsarbeit nicht so genau. Schon hatte er den Ort Gielert erreicht und er nahm den schmalen Pfad, der hinunter ins tiefe Tal führte. Endlich hatte er es geschafft, vor ihm lag der Ort seiner Sehnsüchte, der heute besonders idyllisch anzuschauen war. Aber dafür hatte der Besucher jetzt nur ein oberflächliches Auge. Den ganzen Weg über hatte er sich schon überlegt, wie er wohl der Familie entgegentreten sollte, die zu diesem Zeitpunkt aus der Mutter, einem Sohn, zwei Töchtern und einer kleinen Enkelin bestand. Eine der beiden Töchter, die Margarethe, brannte schon darauf, ihren Geliebten Johann endlich in ihre Arme schließen zu können.

    Doch diese Art der Begrüßung, war in den ländlichen Gegenden verpönt und hätte vielleicht einen falschen Eindruck hinterlassen. Deswegen begrüßten sich die beiden Verliebten sehr formell und ohne große emotionelle Gefühlsbezeugungen. Schließlich war man im Beisein der Familie etwas zurückhaltend. Aber während des Tages gab es sicher Gelegenheiten, das nachzuholen, was sich an Gefühlen so lange aufgestaut hatte. Der Besucher hatte gleich bemerkt, dass ihr Haus etwa die Größe seines Elternhauses hatte. Aber man konnte auf Anhieb erkennen, dass die Familie recht gut gestellt sein musste. Wie der Besucher schon aus Gesprächen erfahren hatte, ernährte die kleine Landwirtschaft sie recht gut. Darüber hinaus konnten Jahr für Jahr überschüssige Feldfrüchte verkauft werden und das waren gute Voraussetzungen für ein einigermaßen erträgliches Leben. In seiner Heimat waren die Bedingungen für gute Ernteerträge wesentlich ungünstiger als hier im geschützten Tal. Das Klima der Gräfendhroner Gemarkung, das wesentlich von den klimatischen Bedingungen des nahen Moseltales beeinflusst wurde, und die fruchtbaren Böden waren stets Garanten für gute und ausreichende Ernten. Schon der römische Dichter Ausonius, der diese Gegend bereist hatte, pries das Land in prosaischen Tönen. In seiner Dichtung „Mosella" schreibt er: «Heil dir, oh Moselland! An Früchten reich und an Männern, ruhmvoll blühen Geschlechter daselbst. Aber das Beste wohl ist, dass die Natur den Söhnen der Mosel huldvoll Tugend und dazu fröhlich Geist verlieh.» Es ist anzunehmen, dass die huldvollen Tugenden mit fröhlichem Geist nicht nur den Männern, sondern auch den Frauen zugeschrieben werden konnten. Angesichts solcher Lobeshymnen könnte man glauben, dort herrschten paradiesische Zustände. Aber trotzdem fielen den Menschen dort die guten Erträge nicht in den Schoß. Auch sie plagten sich von früh bis spät ab und die Schicksalsschläge konnten ihnen auch hier das Leben schwer machen.

    Barbara, die Mutter, hatte schon sehr früh den Mann verloren und musste damals mit ihren, zum Teil noch recht kleinen Kindern, ihren Ackerbau alleine bewältigen. Später starben zwei ihrer Töchter im blühenden Alter von unter zwanzig Jahren. Eine davon hinterließ eine kleine Tochter, die nun in der Familie heranwuchs. Als ob das noch nicht gereicht hätte, fiel einer ihrer beiden Söhne im Krieg und der verbliebene starb später an einer Lungenentzündung. Während des ersten Weltkrieges musste sie mit ihren beiden Töchtern, von denen die jüngere noch ein Teenager war, die schweren Arbeiten in der Landwirtschaft alleine bewältigen. Nachdem sie selbst nicht mehr die jüngste war, lag dabei die Hauptlast auf der Margarethe, ihrer damals 22-jährigen Tochter. Diese wuchs mit ihren Aufgaben und bewältigte selbst schwerste Arbeiten, wie es ein kräftiger Mann nicht besser hätte tun können. Sie hantierte mit der Sense, hob zentnerschwerer Lasten und auch sonst schien ihr keine Arbeit zu schwer zu sein. Das war dem verliebten „Freier bekannt und er wusste, dass er sich glücklich schätzen könnte, eine so tüchtige Frau zu bekommen. Auf der anderen Seite wollte natürlich die Mutter endlich den Bewerber ihrer geliebten Tochter kennenlernen, schließlich wollte sie die nicht jedem „Dahergelaufenen anvertrauen. Wie es schien, hatte der etwas schüchterne Bräutigam in spé ihre Sympathie auf Anhieb gewonnen.

    Um auf die Schicksalsschläge zurückzukommen, die hatten scheinbar hier Tradition. Denn auch die vorige Generation, die Großmutter der Margarethe, Helene Andres, hatte schon schwere und mühevolle Jahre zu überstehen, die ihre ganze Kraft erforderten. Sie war eine geborene Weicherding und stammte aus dem Ort Malborn, einem Nachbarort von Geisfeld. Mit ihrem Ehemann, der aus einer Mühle des kleinen Ortes Dhrönchen stammte, hatten sie im Ort Gräfendhron eine kleine Landwirtschaft übernommen. Daneben betrieben sie eine Schankwirtschaft, die aber nicht viel einbrachte. Sie plagten sich von früh bis spät und hatten in den Hungerjahren des 19. Jahrhunderts einige Kinder durch Krankheiten verloren. Um diesem Elend zu entgehen, entschloss sich der Familienvater, nach Amerika auszuwandern. Er hatte von Ortsansässigen erfahren, deren Angehörige diesen Schritt vor etlichen Jahren schon gewagt hatten, dass sie sich dort inzwischen gut eingelebt hätten und voll des Lobes waren. Diesen gewagten Schritt mit der ganzen Familie zu tun, war ihm jedoch ein zu großes Risiko. Deswegen wollte er erst alleine über den großen Teich und später seine Familie nachholen. Sie hatten jedoch keine Ersparnisse und ihr Hausstand, der ja noch benötigt wurde, konnte auch nicht zu Geld gemacht werden. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich das Geld für die Überfahrt zu leihen. Er fand einen Juden aus Thalfang, der ihm den Betrag zu günstigen Bedingungen überließ. Nun wurde alles vorbereitet und am Tag der Abreise kam der schwere Abschied. Schwer bepackt machte sich der Auswanderer auf den Weg. Lange schaute die Helene Andres ihrem Manne nach. Mit tränenden Augen konnte sie nur schemenhaft erkennen, wie er von dannen eilte, ohne sich noch einmal umzudrehen. Zunächst wollte er in ein Nachbardorf gehen und sich mit einem dortigen Mann zusammentun, dem man aber nachsagte, er wäre ein rechter „Schwerenöter". Zusammen wollte man dann nach Hamburg fahren, um rechtzeitig zur vereinbarten Zeit die Schiffspassage antreten zu können. Die folgenden Tage waren besonders schwer für sie und schon jetzt brannte ihr Herz vor Sehnsucht. Auch in der Folgezeit trauerte sie ihrem Mann nach und tröstete sich damit, ihn eines Tages wieder froh in ihre Arme schließen zu können. Die Zeit ging ins Land. Sie musste nun alleine mit ihren verbliebenen Kindern die Arbeit bewältigen. Bis spät in die Nacht war sie auf den Beinen und allein die Hoffnung auf gute Nachrichten aus Amerika verhalf ihr, ihre schwere Bürde zu tragen. Nach einem Jahr, so hoffte sie, müsste ein Lebenszeichen und eventuell auch etwas Geld ankommen, um einen Teil des geliehenen Betrages tilgen zu können. So war es geplant gewesen. Doch ihr Warten wurde auf eine harte Probe gestellt. Tagtäglich betete sie, dass endlich die Unwissenheit von ihr genommen würde. Inzwischen sprach auch der Jude aus Thalfang bei ihr vor und verlangte einen Teil des geliehenen Betrages zurück. Er war jedoch sehr einsichtig und war selbst mit den kleinen Beträgen vorerst zufrieden, die sie sich vom Munde abgespart hatte. Schließlich waren zwei Jahre vergangen, ohne dass ihr Flehen erhört wurde und die arme Frau verfiel in tiefen Schmerz und ausweglose Schwermütigkeit. Das veranlasste den Pfarrer von Berglicht, der die Filiale in Gräfendhron betreute, sich der Sache anzunehmen und Nachforschungen anzustellen. Dabei erfuhr er, dass kein Johann Andres auf den Passagierlisten der Schifffahrtslinien jener Tage zu finden war. Er war also nie in Hamburg angekommen und nach Lage der Dinge musste ihm schon unterwegs ein Unheil zugestoßen sein. Auch die Nachforschungen der Behörden brachten kein Licht in das Dunkel seines Verschwindens. Damit waren auch die Gerüchte, die im Ort kursierten, der Mann mache sich drüben in Amerika ein schönes Leben, während seine zurückgelassene Familie in der Heimat darben müsste, haltlos geworden. Mit der Nachricht aus Hamburg war für die Mutter eine Welt zusammengebrochen und sie brauchte eine lange Zeit, den Schmerz zu überwinden. In kleinen Beträgen zahlte sie den Kredit zurück und musste dadurch manches Opfer auf sich nehmen. Ihre Kinder wurden größer und mit ihrer Hilfe meisterte sie schließlich ihr Leben.

    Jahre später wurden nahe der „Krakesmühle, die etwas abseits des kleinen Dorfes liegt, Erdarbeiten durchgeführt. Dabei entdeckte man das Skelett eines Menschen, der dort in der Erde verscharrt worden war. Sofort kochte die Gerüchteküche, wer war der oder die Tote? Die Untersuchungen der Knochenreste bestätigten, dass es sich um eine männliche Leiche gehandelt habe, deren ursprüngliche Körpergröße dem Vermissten durchaus zugeordnet werden könnte. Einen eindeutigen Beweis, dass es sich dabei um den Johann Andres handeln könnte, konnte jedoch nicht erbracht werden. Die Gebeine wurden schließlich auf dem Friedhof von Gräfendhron beigesetzt und ein namenloses Kreuz am Grab angebracht. Von Zweifeln geplagt stand die Mutter Helene dann vor dem Grab, das in Anbetracht, dass sich niemand dafür zuständig fühlte, lediglich aus einem Erdhügel mit einem einfachen Birkenkreuz bestand. Sie kämpfte mit sich selbst, sollte sie es herrichten und auch für die Seele des hier bestatteten Toten beten? Vielleicht wäre es doch ein Fremder, der hier seine späte Ruhe gefunden hatte. Dann würde vielleicht der liebe Gott ihre Gebete einem Mann zukommen lassen, der ihr völlig unbekannt war? Immer wieder stand sie vor dem Grab und in ihrer Verzweiflung flehte sie den Herrgott an, die Ungewissheit von ihr zu nehmen. Prompt schicke er ihr ein Zeichen. In ihrer Not gingen ihre Blicke instinktiv zum wolkenverhangenen Himmel. Für einen kurzen Moment war die Sonne durch eine Wolkenlücke zum Vorschein gekommen und das weiße Birkenkreuz erstrahlte für einen Moment im schönsten Weiß. Von nun an waren ihre Zweifel beseitigt und sie nahm sich fest vor, nur noch daran zu glauben: Hier liegt mein geliebter Mann, der so tragisch endete. Tage später blühten Blumen auf dem Grab und am Kreuz war ein Schild angebracht, auf dem zu lesen war: „Hier ruht Johann Andres, geboren 1829, gestorben 1875. Damit hatte auch die Helene Andres endlich ihren Frieden gefunden und holte sich fortan immer Trost am Grab, wenn ihr Leben unerträglich zu werden schien.

    Die Geschichte hatte der Johann von seiner Margarethe erfahren, die sich auch noch gut an ihre Großmutter erinnern konnte. Als sie alt wurde, lebte sie in ihrer Familie. Sie war eine sehr warmherzige Frau mit einem sanften Gemüt. Manchmal konnte man sie beobachten, wie sie ruhig vor dem Fenster saß und lange Zeit träumerisch in die Ferne schaute. Dabei rannen Tränen über ihre Wangen. Als die Enkelin sie daraufhin trösten wollte, lächelte sie und meinte: Sie hätte nur mit offenen Augen geträumt und das, was sie im Traum gesehen hätte, wäre wunderschön gewesen.

    Auch der Johann kannte Menschen aus seinem Heimatort, die den Hunsrück verlassen hatten und ihr Glück in der Ferne suchten. Nur von wenigen war bekannt geworden, dass sie in einer fernen Welt eine neue Heimat gefunden hatten. Er selbst war so heimatverbunden, dass er sich nicht vorstellen konnte, sie jemals zu verlassen. Im Moment war er zudem so selig, wie ein Verliebter nur sein konnte.

    Noch voll im Bann des ereignisreichen Tages kam er spät in der Nacht nach Hause und begab sich zur Ruhe. Obwohl er von den langen Fußmärschen sehr ermüdet war, konnte er nicht gleich schlafen. Vieles ging ihm durch den Kopf und im Moment hatte er nur den einen Wunsch, möglichst schnell seine Gret zu heiraten, um sie ständig in seiner Nähe zu haben. Am nächsten Morgen saß die Familie am Frühstückstisch, dabei lag die Neugierde schon in der Luft. Die Mutter wollte wissen, was der Sohn am Vortag so erlebt hatte. Doch der war recht zurückhaltend und antwortete nur kurz: „Es war ganz gut und an unserer Kirmes kommt die Gret und dann könnt ihr sie persönlich kennenlernen. Der Vater schien mit dieser Antwort nicht zufrieden zu sein - er schaute seinen Sohn fragend an und wollte wohl wissen, welche Mitgift zu erwarten wäre. So direkt wollte er seine Neugier aber nicht auf den Punkt bringen, deshalb beschränkte er sich auf die Frage: „Wie viel Kühe haben die denn im Stall stehen? Der Sohn ahnte wohl, was diese Frage bezwecken sollte und gab lapidar zur Antwort: „Ich habe sie nicht gezählt." Der Michel war ein Mann mit Prinzipien und hätte es nicht ungern gesehen, wenn durch die Heirat auch finanzielle Vorteile mit herausgesprungen wären. Auf der anderen Seite war er, was die Mitgift seiner Töchter betraf, die auch im heiratsfähigen Alter waren, äußerst zurückhaltend. Um in dieser Hinsicht keine Überraschung zu erleben, hatte er eine eigene Strategie und lehnte er erst einmal alle Bewerber seiner Töchter kategorisch ab. Das hieß aber nicht, dass ihm die Zukunft seiner Töchter gleichgültig gewesen wäre. In dieser Hinsicht konnte man ihm sogar eine zukunftsorientierte Denkweise nicht absprechen. Als die Gemeinde eine weibliche Person suchte, die als dörfliche Krankenschwester ausgebildet werden sollte, brachte er seine Tochter Anna-Maria, genannt Amai, ins Spiel. Sie absolvierte im Kloster Arenberg eine entsprechende Ausbildung und kümmerte sich viele Jahre um die Kranken in der Gemeinde. Auch um die Zukunft seiner jüngsten Tochter Agnes machte er sich Gedanken und ermöglichte ihr eine Ausbildung zur Damenschneiderin. In dieser Zunft brachte sie es bis zur Meisterin und betrieb später eine eigene Schneiderei. Die entwickelte sich prächtig - ohne sie wären die Geisfelder Frauen wohl modisch sehr ins Abseits gedrängt worden. Die von ihr gefertigten Brautkleider hatten beispielsweise einen gewissen Chic und waren in der ganzen Gegend gefragt.

    Die Zeit ging ins Land und die Bauern blickten tagtäglich zum Himmel und sehnten dringend den Regen herbei. Das Korn (Roggen) und die anderen Feldfrüchte wuchsen nur kümmerlich und wenn kein Wunder geschehe, würde die diesjährige Ernte recht bescheiden ausfallen. Solche Missernten gab es in der Vergangenheit schon häufiger. Das belastete die meist großen Familien erheblich. Die täglichen Rationen waren dann der Situation anzupassen und alle mussten den Gürtel enger schnallen. Aber die Not kann auch erfinderisch machen. Dann waren die Hausfrauen gefordert, solche Speisen auf den Tisch zu bringen, die unabhängig von der geschmacklichen Variante, die Familienangehörigen wenigstens einigermaßen satt machten. Trotz der schlechten Ernten kam man auf diese Weise doch irgendwie über die Runden. Verhungern musste zu diesem Zeitpunkt niemand mehr, wenn auch der Speiseplan dann sehr einseitig und die Portionen recht bescheiden ausfielen. Als aber das Jahr 1920 begann, geschahen im „Delweshaus", dem kleinen Haus neben der Kirche, seltsame Dinge - irgend ein großes Ereignis schien in der Luft zu liegen. Im Stall grunzte ein fettes Schwein, dessen Tage wohl gezählt waren. Wein und Bier waren besorgt worden und von einer Schnapsbrennerei hatte man hochgeistige Getränke geholt. Kurz um – alles deutete darauf hin, dass ein großes Fest vorbereitet würde. Ja, im Februar wollte der Johann seine Margarethe zum Traualtar führen. Es war natürlich ein Gebot der Familienehre, dass man zu diesem festlichen Anlass alles Erdenkliche aufbieten würde. Zur Hochzeit hatte man die nähere Verwandtschaft von Braut und Bräutigam eingeladen, sowie die ganze Nachbarschaft. Als alle Gäste einen Platz gefunden hatten platzte das kleine Haus fast aus seinen Nähten. Das tat der Stimmung und Festtagsfreude jedoch keinen Abbruch – bis spät in die Nacht wurde gefeiert. Alle Sorgen und Nöte waren vorerst vergessen und sollten die Stimmung nicht trüben. Die Probleme, die das tägliche Leben so mit sich brachte, müssten warten - auch sie würde man irgendwie in den Griff bekommen. So war es immer schon, darin hatte man Erfahrung.

    Ortswechsel - auf dem Hunsrück zu Hause

    Die Hochzeit war für die junge Frau der Start in ein neues Leben. Dabei war es abzusehen, dass sie eine gewisse Zeit benötigte, sich mit der Mentalität der etwas zurückhaltenden Geisfelder zu arrangieren. Zunächst war sie eine Fremde, die mit allerhand Vorurteilen zu kämpfen hatte. Doch im engsten Familienkreis hatte man schnell bemerkt, dass ihre neue Mitbewohnerin eine selbstbewusste junge Frau war, die sich sehr schnell anpassen konnte. Dabei legte sie eine Spontanität an den Tag, die ihnen zwar fremd war, aber nicht ungelegen kam. Hier trafen zwei Mentalitäten aufeinander, die sich zwar gut ergänzten, aber im täglichen Umgang sicher nicht ganz unproblematisch waren.

    Die Lebensumstände bestimmter Regionen können unter Umständen die Menschen prägen und ihre Charaktere beeinflussen - das schien sich in dieser Verbindung zu bestätigen. Die Bevölkerung der moselnahen Regionen war in ihrer Mentalität und der politischen Zugehörigkeit stets auf das Moselgebiet ausgerichtet. Dort herrschten wesentlich günstigere klimatische Bedingungen als auf den rauen Höhen der zentralen Hunsrückgebiete. Die Moselregionen waren von der Natur immer schon begünstigt worden, was sich meist auch positiv auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung auswirkte. Obwohl das tägliche Leben auch in diesen Regionen nicht völlig sorglos war, konnte man aber gelassener nach vorne blicken. Davon konnten die Geisfelder nur träumen. Sie mussten sich mit wesentlich ungünstigeren Voraussetzungen herumplagen. Die meist kargen Böden waren sehr auf ideale Wetterbedingungen angewiesen, blieben sie aus, war Hunger angesagt. Das kam in fast regelmäßigen Abständen immer wieder vor. Das hat diese Menschen geprägt und ihnen einen Stempel aufgedrückt, der von einer lebenserhaltenden Zähigkeit geprägt war. Das harte und entbehrungsreiche Leben führte dazu, dass man mit spontanen und überschwänglichen Gefühlsregungen äußerst sparsam umging. Für Sentimentalitäten war die Realität nicht opportun. Das ganze Leben war eine äußerst angespannte und entbehrungsreiche Situation. Die wenigen Lichtblicke waren nur Momentaufnahmen, die vom trüben Alltag meist schnell wieder verdrängt wurden. Dieses Verhalten hatte neben den erschwerten Lebensbedingungen auch andere Gründe und eine lange Vorgeschichte. Die Dörfer der zentralen Hunsrückregionen liegen meist auf den Hochflächen und hatten in ferner Vergangenheit schon immer mit vielfältigen Problemen zu kämpfen. Der Hunsrück war als Puffer zum Westen öfters Brennpunkt kriegerischer Auseinandersetzungen. Für die verschiedensten marodierenden Truppen oder anderes räuberisches Gesindel lagen die Orte buchstäblich wie auf einem Präsentierteller. Den drohenden Gefahren war man stets schutzlos ausgeliefert und konnte ihnen nur durch die Flucht entkommen. Bei den verschiedensten Konflikten musste sich die Bevölkerung mit Hab und Gut in die Wälder zurückziehen und dort ausharren, bis die Gefahr vorüber war. Das was man zurücklassen musste, war dann aber meist verloren. Um sich und ihre Pferde zu versorgen, plünderten die Reiterscharen die Häuser und Scheunen der Bauern, die dann selbst in große Not gerieten. Zurück blieben leere Keller und Scheunen. Um das Vieh am Leben zu erhalten, gingen die Frauen und Kinder in die Wälder und schafften dürres Laub und Gräser herbei. Das war gerade zur Winterzeit eine äußerst anstrengende und unangenehme, aber zwingend notwendige Arbeit. Die Zugtiere waren für die Bauern sehr wichtig – ohne sie hätte man im Frühjahr die Felder nicht bestellen können. Jedoch sicherte dieses nährstoffarme Futter wirklich nur das Überleben der Tiere. Das führte oft dazu, dass die Kühe im Frühjahr völlig entkräftet und kaum in der Lage waren, schwere Arbeiten zu verrichten. Den Menschen ging es nicht besser. Sie hatten nach solchen Situationen nichts zu „reißen und beißen" und mussten sich auf eine äußerst dürftige und magere Kost einstellen. Der Hunger war dann ihr ständiger Begleiter. Nach solchen Gewaltexzessen, aber auch in Jahren der Missernten bestand ihre Nahrung aus kargen Mahlzeiten, die oft nur aus Kräutern und Wurzeln zubereitet werden konnten. Weil diese nährstoffarme Kost die Menschen konditionell enorm schwächte, führte das zwangsläufig zu katastrophalen Folgen. Dann konnte jede Krankheit zu einer lebensbedrohenden Situation werden. Auch die äußerst primitiven Wohnverhältnisse mit unzureichenden Ausstattungen für eine notwendige Hygiene waren ein weiterer Grund für viele Krankheiten, was vor allem die Kinder betraf. Um diesem Elend zu entfliehen, versuchten etliche Familien ihr Heil, nach Übersee auszuwandern und glaubten dort ein besseres Leben zu haben. Selten wurde bekannt, ob sie das dort auch fanden. Das alles lag zwar in der Vergangenheit, aber der Stachel solcher Notsituationen war noch nicht restlos aus den Köpfen der Menschen verschwunden. Diese harten Lebensbedingungen führten letztlich auch dazu, dass man sich nicht in der Lage sah, sich den Errungenschaften eines moderneren Lebensstiels zu öffnen. Schließlich hatten sich die Bewohner der betroffenen Regionen mit den altüberlieferten und vertrauten Lebensbedingungen arrangiert und nach ihrer Meinung sollte das so bleiben. Damit machten sich die Menschen selbst das Leben schwer und waren auch der festen Überzeugung, das wäre die Realität des einfachen Lebens und ihr unabwendbares Schicksal.

    Aus diesem Grund lehnte man jede Veränderung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von vornherein ab. Selbst logischen Gründen, etwas zu verändern, verschloss man sich vehement. So wurde eine der Ursachen, die ihnen das Leben schwer machte, zwar erkannt, aber niemand dachte daran, das in irgendeiner Weise in Frage zu stellen. Diese Problematik hatte man von den Vorfahren schon ererbt und sie wurde vehement verteidigt, obwohl sie von Generation zu Generation zu größeren Beeinträchtigungen führte. Grund waren die Miniparzellen der bewirtschafteten Felder, die ihre Ursache in einem alten Erbrecht hatten. Danach stand jedem Kind ein gleiches Erbe zu. Weil aber die einzelnen Parzellen durch ihre Lage und Güte unterschiedlich zu bewerten waren, wollte man jeden Erbkonflikt von vornherein vermeiden. Deshalb teilte man die vorhandenen Felder in so viele Anteile, wie Erben vorhanden waren. Die neuen Grenzen wurden mit Holzpflöcken gekennzeichnet. Aus diesem Grund wurden die Feldareale von Generation zu Generation kleiner und kleiner und deren Bewirtschaftung immer unrentabler. Erschwerend kam noch hinzu, dass die Felder über kein zusammenhängendes Wegenetz zu erreichen waren. Um sein Feld zu bestellen oder zu ernten, musste man zwangsläufig über fremden Grund fahren. Das war zwar legal und durch Überfahr- und Wenderechte geregelt, aber doch ein Grund, der für ständigen Verdruss sorgte. Um es sich mit den Anrainern nicht zu verscherzen, konnten dann manche Felder nur mit reiner Handarbeit bewirtschaftet werden, was zu einer erheblichen Mehrarbeit führte. Um sich ein Bild von den tatsächlichen Verhältnissen zu machen, die in den Anfängen des 20. Jahrhunderts dort geherrscht haben, lesen wir den Bericht eines Zeitzeugen. «Die Felder in der Gemarkung sind ohne Wege und ohne feste Grenzen, was zu allerhand Zwietracht und Streitigkeiten führt. Es ist fürchterlich zu sehen, wie die Männer, Frauen und Kinder sich abmurksen. Sie schaffen vom frühen Morgen bis zum späten Abend und werden doch nicht fertig. Die Frauen müssen mit aufs Feld und zum Essen kochen und Flicken der Kleider fehlt ihnen die Zeit. Eine große Unordnung im Haus und Hof ist die Folge.»

    Das war die Situation der Geisfelder Bauern, als die junge Margarethe, Frau des Johann Knop, in ihre neue Heimat zog. Doch mit diesen Problemen der Miniparzellen musste sie sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht herumärgern. Noch war Winter und die Feldarbeiten ruhten. Deshalb war es angebracht, sich in ihrer neuen Heimat zunächst einmal mit den häuslichen und familiären Umständen vertraut zu machen. Dabei wurde die junge Frau mit Situationen konfrontiert, die mit vorhersehbaren Problemen behaftet waren. Das war ihr zwar schon vor der Ehe bewusst und davor hatte ihre Familie sie auch gewarnt. Es war aber nicht ihre Art, Problemen aus dem Weg zu gehen, sie wollte sich den Herausforderungen stellen. Der absolute Herr im Haus war der Michel, ihr Schwiegervater. Er war schon hochbetagt und seine Autorität war unangefochten. Er verwaltete das familiäre Budget und seine Anweisungen setzte er stets mit Nachdruck durch. Seine bedeutend jüngere Frau Anna-Maria war eine kleine zierliche Person, die sich als fleißige Hausfrau völlig ihrem Gatten unterordnete. Außer den Schwiegereltern wohnten noch drei ledige Töchter im Haus. Es bestand aus den zusammenhängenden Einheiten eines Wirtschafts- und Wohntraktes. Der Wohnbereich war jedoch relativ klein und nur wenige kleine Räume standen der Familie zur Verfügung. Deshalb musste sie sich erheblich einschränken und ohne eine gegenseitige Rücksichtnahme wäre der häusliche Frieden ständig in Gefahr gewesen. Auch bei aller Fairness der beteiligten Personen mussten dabei zwangsläufig mancherlei Probleme und Schwierigkeiten bewältigt werden. Um sich in dieser Situation zurecht zu finden, durfte die neue Mitbewohnerin keine Berührungsängste haben. Das war natürlich für die junge Frau eine gewaltige Umstellung, bei der sie sicherlich auch manche Kröte schlucken musste. Um keine unnötige Spannungen heraufzubeschwören, war sie aber klug genug, jeder Konfrontation aus dem Wege gehen.

    Gleich am Morgen des ersten Tages sollte sie erleben, welcher Ton hier herrschte und wer das Sagen hatte. Man saß beim Frühstück. Auf dem Tisch stand ein Brotkorb und eine Schüssel weißer Käse (Quark). In den Tassen dampfte eine dunkle Brühe, ein Kaffeeersatz aus gerösteter Gerste. Am Tisch war es ruhig, niemand sprach ein Wort. Jeder kaute gemächlich auf seiner Scheibe Brot herum. Der Michel hatte seine Portion in schmale Streifen geschnitten, um sie besser in seinen Kaffee eintunken zu können. Seine lädierten Kauwerkzeuge vertrugen das harte Brot nicht mehr. Als ihr neues Familienmitglied ihr erstes Brot gegessen hatte und nach einer neuen Scheibe griff, blieb dem Hausherrn fast der Bissen im Hals stecken. Energisch wehrte er ab und ereiferte sich: „Leg die Scheibe Brot sofort wieder zurück, bei uns muss ein Brot zum Frühstück ausreichen. Sozusagen als kleine Entschuldigung legte er nach und begründen damit seinen Protest: „Nach der schlechten Ernte im letzten Jahr wird unser Häufchen Korn auf dem Speicher kleiner und kleiner und es dauert noch eine ganze Weile, bis wieder Nachschub geerntet wird. Am Tisch saßen plötzlich alle wie versteinert auf ihren Plätzen und vergaßen vor Schreck das Kauen. Wie würde die junge Frau reagieren? Sie aber strich seelenruhig den Käse auf die neue Scheibe Brot und meinte: „Wenn ich hier meine Arbeit verrichten soll, dann sollte ich mich auch satt essen können. Aber lieber Schwiegervater, du kannst beruhigt sein, wenn euer Korn auf dem Speicher aufgebraucht ist, dann spanne ich die Kühe an und fahre nach Gräfendhron und hole neues Korn, dort gibt es noch genügend Vorräte. Der Michel hatte diese Antwort wohl nicht erwartet. Er bekam einen roten Kopf und alle waren starr auf seine Reaktion. Bisher hatte noch niemand es gewagt, ihm in dieser Art zu widersprechen. Doch er blieb stumm und zügelte seinen aufkeimenden Zorn. Die Gret hatte diese erste, aber entscheidende Runde gewonnen und als sie in das Gesicht ihrer Schwiegermutter blickte, glaubte sie ein aufmunterndes kurzes Lächeln gesehen zu haben. Später fragte die junge Frau ihren Mann, warum ihre Vorräte so knapp bemessen wären. Er gab zur Antwort: „Die Vorräte sind nicht so gering, wie mein Vater das zum Ausdruck brachte. Du kannst dich selbst davon überzeugen. Aber du darfst ihm das nicht übelnehmen. Er hat schon schlimme Zeiten erlebt und außerdem wurde er schon von seinem Vater zu äußerster Sparsamkeit erzogen. Sie steckt ihm im Fleisch und Blut - kein Mensch kann über seinen eigenen Schatten springen.

    Tatsächlich gehörte die Familie des Michel Knop nicht zu den Ärmsten im Dorf. Sie hatte relativ viel Land zu bewirtschaften und neben diversem Kleinvieh immer drei Kühe im Stall stehen. Die Anzahl der Kühe war ein gewisser Gradmesser für die wirtschaftliche Situation eines Betriebes. Die überwiegende Anzahl der Bauern verfügte nur über zwei Kühe für die Feldarbeit. Fiel eine davon aus, weil sie etwa wegen eines neugeborenen Kalbes noch geschont wurde, musste man sich eine von den Nachbarn leihen. Stand man mit denen im Clinch, so musste man sich mit einer Kuh behelfen, die dann leicht überfordert wurde und am Ende vielleicht noch schlapp machte. Es gab sogar Fälle, in denen die Frau und Kinder den Pflug zogen, während der Hausherr ihn führte. Die Frage, ob reich oder arm, hatte in dieser Region eigene Maßstäbe. Als reich konnte sich schätzen, wer seine Familie anständig ernähren und mit dem Notwendigsten ausstatten konnte. Dabei hielten sich die Ansprüche aber auf kleinstem Niveau. Um das zu erreichen, musste man sich von früh bis spät abrackern und schinden. Das betraf im Grunde alle Familien und wurde als hartes Los einfach hingenommen.

    Soweit die familiäre Situation, mit der sich die junge Frau auseinanderzusetzen hatte. Das häusliche Umfeld ist aber nur die eine Seite des Lebens. Auch das dörfliche Milieu spielt eine große Rolle in dem Bemühen, sich den Gegebenheiten der neuen Heimat anzupassen. Was war das für ein Dorf, in dem sie nun leben sollte? Den Namen des Dorfes, Geisfeld, hatte sie früher schon als Kind nennen hören. Irgendein Dorfbewohner ihres Heimatortes hatte weitläufige verwandtschaftliche Beziehungen zu dem Ort. Jedoch beschränkte sich ihr Wissen nur auf die Tatsache, dass das Dorf auf den Höhen des Hunsrücker-Hochwaldes liegen würde. Damals hatte sie den sonderbaren Dorfnamen mit Ziegen in Verbindung gebracht. Als sie den Johann kennen lernte, wollte sie von ihm wissen, ob das den Tatsachen entspräche. Er musste über die etwas naive Frage lachen und klärte sie auf: „In der Schule haben wir gelernt, dass der Ort schon sehr alt sei und der Name ginge auf die Zeit zurück, als die Römer noch hier waren. Dort, wo das heutige Dorf läge, hätte ein gewisser Gauricus oder Gaurici ein Feld besessen – wahrscheinlich wohnten damals auch schon Menschen in dieser Region. Aus der römischen Bezeichnung „Gaurici Campus wurde durch umgangssprachlich verändernde Dialekte im Laufe der Zeit der Name Geisfeld. Er konnte ihr in diesem Zusammenhang noch andere interessante Details über das alte Dorf erzählen. Die alte Kirche, die im Zentrum des Ortes steht und deren hoher Turm, der schon von weitem sichtbar sei, prägen die Ansicht der Dorfes. Auf ihre neueste Errungenschaft, über die nur wenige Dörfer der Region verfügen würden, wären die Menschen im Ort besonders stolz – sie besäßen eine neue zentrale Wasserversorgung. In jedem Haus befände sich ein sogenannter Wasserhahn, aus dem nach Bedarf ständig Wasser fließen würde. Nur das Vieh würde noch aus einem der beiden Dorfbrunnen getränkt. Die junge Frau musste sich eingestehen, eine Kirche hätten sie auch in ihrem Dorf. Sie sei zwar recht klein, aber alle Bewohner hätten in ihr Platz. Aber mit einer Wasserleitung könnten sie sich nicht brüsten. Aber es gäbe in ihrem Ort eine Quelle, aus der ständig frisches kühles Wasser fließen würde, die selbst im trockensten Sommer noch nie versiegt wäre. Im Übrigen fließe die Dhron durch den Ort und mit diesem Wasser könnte das Vieh problemlos versorgt werden. Auch was die Römer betraf, konnte Gräfendhron mithalten. Schließlich führte die alte Römerstraße, die von Trier nach Mainz ging, durch ihr Tal. Weil der römische Dichter Ausonius davon berichtete, wurde er später Ausoniusweg genannt.

    Um sich in einem Dorf wohl zu fühlen und es zu seiner Heimat werden zu lassen, war es auch wichtig, als Mitbürgerin angenommen zu werden. Mit den direkten Nachbarn, die fast alle auch auf der Hochzeit mit dabei waren, hatte sie schnell einen guten Kontakt. Aber wie würde sie von den anderen Dorfbewohnern angenommen werden? Sie hatte schon bei den ersten Begegnungen bemerkt, dass die Menschen sich ihr gegenüber etwas zurückhaltend verhielten. Schließlich war sie eine Fremde und die wurden nicht immer mit offenen Armen empfangen. Doch die Gret mit ihrem offenen Wesen ließ sich davon nicht beirren – sie ging auf die Menschen zu und schnell war das Eis gebrochen. Was die Umstände im Dorf anging, so waren sie so wie in vergleichbaren Dörfern der Gegend. Es war zwar größer als ihr bisheriges Heimatdorf, aber die Straßen waren im gleichen schlechten Zustand und bei Regen verwandelten sie sich in Pisten, in denen man regelrecht im Matsch und Schlamm versank. Die Häuser des Ortes klebten zum Teil wie Schwalbennester aneinander und bestanden meist aus alten schäbigen Bruchbuden, die im Inneren jede Wohnlichkeit vermissen ließen. Die wenigen, die halbwegs einen besseren Eindruck machten, waren die große Ausnahme. Die Misthaufen vor den Häusern verbreiteten dieselben Düfte wie in andern Bauerndörfern und waren wirklich keine Zierde. Jedoch waren sie ein Maßstab für die Betriebsgröße und somit ein stinkendes Statussymbol, denn ein großer Misthaufen zeugte von einem größeren Viehbestand. Wenn sie aber die Dorfbewohner betrachtete, von denen viele mit ärmlicher Bekleidung unterwegs waren, so konnte sie daraus gewisse Rückschlüsse ziehen. Ihr wurde klar, hier gab es wirklich arme Leute, die hart kämpfen mussten, um ihr karges Leben zu fristen.

    Die junge Frau lebte sich recht gut in der Familie ein. Der Schwiegervater hatte ihr den kleinen Disput beim Frühstück nicht nachgetragen und war ihr gegenüber recht umgänglich. Mit der Schwiegermutter zusammen hantierte sie in der kleinen Küche und dabei stellte sie sich so geschickt an, dass sie schnell deren Sympathie gewann. Auch die Arbeiten im Stall gingen ihr flink von der Hand. Das bemerkte selbst der Schwiegervater mit Wohlwollen. Noch hatte der Winter das Land fest im Griff. Zum Glück hatte der Johann kurzfristig im Wald eine Beschäftigung gefunden, ehe die Arbeiten auf den Feldern wieder beginnen würden. Am Abend saßen sie alle in der kleinen Küche zusammen. Der Herd spendete eine wohlige Wärme und das flackernde Licht einer Öllaterne beleuchtete den Raum nur spärlich, aber daran hatte man sich gewöhnt. Jeder war in irgendeiner Weise beschäftigt. Die Frauen saßen um den Tisch herum, nahe dem Licht, und hantierten mit den Stricknadeln. Der Johann und sein Vater hatten sich in der Nähe des Herdes niedergelassen. Der Sohn arbeitete an einem Korb, den er zu reparieren versuchte, und der alte Vater saß auf seinem Stuhl und schnarchte leise vor sich hin – die Müdigkeit hatte ihn gepackt. Nach einer Weile stand er auf, reckte sich, zündete eine kleine tragbare Ölfunsel an und deutete an, er möchte zu Bett gehen. Ehe er den Raum verließ, konnte er es sich nicht verkneifen, noch einige Anweisungen loszuwerden: „Vergesst nicht die Lampe zu löschen, und Du Johann schau noch einmal in den Stall, ob dort alles in Ordnung ist. Als er den Raum verlassen hatte, beendete die Mutter das Schweigen. Vorher hatten sie, wohl aus Rücksicht auf den schlafenden Vater, sich still verhalten. Nun sagte sie: „Er kann es nicht lassen und denkt immer noch, dass alle nach seiner Pfeife tanzen müssten. Langsam wäre es an der Zeit, sich das abzugewöhnen. Sie sprach damit ein Problem an, mit dem sich die junge Frau schon lange beschäftigt hatte und das sie stets ärgerte. Der Johann, ihr Mann, stand immer noch im Schatten seines Vaters. Seinen Anweisungen zu widersprechen, wagte er nur selten. Zwar hatte er versucht, bedingt durch die Vorhaltungen seiner Frau, sich in letzter Zeit etwas aus diesem Schatten zu lösen, es schien ihm aber schwer zu fallen, die alten Gewohnheiten über Bord zu werfen.

    Die Tage wurden länger und länger, so langsam sollten die Vorbereitungen für die beginnenden Feldarbeiten getroffen werden. Die Ackergeräte wurden überprüft und gerichtet. Der hölzerne Wagen, der über Winter zerlegt im Schuppen aufbewahrt wurde, musste zusammengebaut werden. Dann waren die Kühe zum Schmied zu bringen, der ihnen neue Eisen verpasste. Jetzt brauchte man nur noch das richtige Wetter, ehe man voll loslegen konnte. Aber in diesem Jahr waren die Bauern durch etliche Regentage beeinträchtigt worden und der Boden war immer noch aufgeweicht. In diesem Zustand konnte er nicht bearbeitet werden. Doch die Frauen konnten darauf keine Rücksicht nehmen und arbeiteten schon mit Fleiß in den Gärten. In ihnen wurde der Samen für die Aufzucht der Setzlinge von Rüben, Kohlrabis und den verschiedenen Krautsorten ausgesät. Wenn diese Pflanzen später eine bestimmte Größe erreicht hatten, wurden sie in die Felder umgepflanzt. Im Garten sollten aber auch das Gemüse und verschiedene Salate wachsen, die für die Haushaltsküche unerlässlich waren.

    Endlich hatte der Wettergott ein Einsehen, es folgten schöne sonnige Tage. Die Natur lebte auf und überall spross und keimte es. Die Schwalben waren schon zurückgekehrt und segelten über die Häuser und durch die Gassen. Es war ein vertrautes Bild, das die Menschen immer wieder neu beflügelte und ein sichtbares Zeichen, dass sich der lange Winter nun so langsam verabschiedete. Nun war es höchste Zeit, die Saat des Sommergetreides unter die Erde zu bringen.

    Nach der langen Winterpause kamen die Kühe wieder zu ihrem ersten Einsatz. Sie hatten den ganzen Winter über im Stall verbracht und waren, falls sie ausreichend gefüttert wurden, gut bei Kräften. Das zeigten sie auch und gebärdeten sich so dabei, als entwickelten sie auch Frühlingsgefühle. Der Johann hatte über Winter sein Vieh anständig gefüttert und ihr Fell einer morgendlichen Pflege mit dem Kuhkamm unterzogen. Seine Kühe waren sein Stolz und er hätte sich geschämt, wenn sie im Frühjahr schlecht dagestanden hätten. Das war aber nicht die Regel. Manche Bauern führten Tiere aus dem Stall, die einen erbärmlichen Eindruck machten. Ihre Knochen traten an manchen Stellen so hervor, dass man einen Hut daran aufhängen könnte. Ihre Bäuche hingen schlaff herab und jede einzelne Rippe konnte man an ihnen zählen. Als der Johann solche armseligen Kreaturen sah, meinte er: „Wie die einen Wagen oder Pflug ziehen können, ist mir ein Rätsel. Was ihn aber am meisten ärgerte, war der Schmutz und Dreck, der den Tieren anhaftete. Er schüttelte nur den Kopf und sagte zu seiner Frau: „Ich verstehe ja ihre Situation. Wenn die Leute kein Futter mehr fürs Vieh haben und sie nur noch mit Laub und verdorrten Gräsern am Leben erhalten werden müssen, ist ihr erbärmlicher Zustand verständlich. Aber sauber könnten sie ihr Vieh halten und ihr Fell anständig pflegen - das kostet doch kein Geld und nur ein wenig Zeit. Davon hat man ja im Winter genug. Dass die Futtersituation in diesem Winter allgemein so angespannt war, war dem schlechten Spätsommerwetter zu verdanken. Das zweite Heu, der Grummet, konnte nicht im üblichen Umfang geerntet werden und verfaulte größtenteils in den Wiesen. Das Futter war dem nassen Herbst zum Opfer gefallen. Vorher hatte schon die erste Heuernte nur mäßige Erträge gebracht. Dass der Johann in diesem Jahr sein Vieh ausreichend füttern konnte, war der Sparsamkeit seines Vaters zu verdanken. Er hatte schon immer das Futter für das Vieh richtig eingeteilt und eine gewisse Vorsorge betrieben. Nach dem Motto: «Spare in der Zeit, dann hast du in der Not», hatte er nach Möglichkeit immer gewisse Reserven zur Verfügung. So sagte er: „Heu verdirbt nicht, das kann man gut aufheben." Auch das Verhältnis ihrer Wiesen zu den Äckern stimmte mit der Realität überein. Weil manche Bauern aber nur wenig Land besaßen und jedes Feld benötigten, um mit deren Erträgen die Familien zu ernähren, kamen die Flächen mit Grasbewuchs dann zu kurz. Das Vieh musste das büßen und im Notfall musste ihr

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