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Märchen für Dich
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eBook470 Seiten6 Stunden

Märchen für Dich

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Über dieses E-Book

"Man schenkte dir zehn Sekunden, die sich anfühlen sollen wie zehn Jahre. Deine Zeit läuft ab."

Zwischen den verstaubten Seiten eines Märchenbuchs leben die atemberaubendsten Abenteuer. Adeline stürzt sich kopfüber in jedes von ihnen. Gemeinsam mit Liutwin, Prinz von Mirlando, trifft sie auf die schönsten und geheimnisvollsten Prinzessinnen aller Zeiten - und jede von ihnen verbirgt ein dunkles Geheimnis.

Schon bald muss Adeline einsehen, dass Märchen nie für Kinder geschrieben wurden und ein gutes Herz nicht reichen wird, sie zu retten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum13. Sept. 2021
ISBN9783347394520
Märchen für Dich
Autor

Celina Weithaas

1999 geboren, schreibe ich Geschichten seit meinem fünften Lebensjahr. „Götterdämmerung-Verschwörung“ ist mein fünfzehntes veröffentlichtes Buch für meinen 13-Jahresplan und fügt sich als Auftakt der Götterdämmerungstrilogie wie die Poison-Trilogie, die Jahreszeitentrilogie, die Märchen-Dilogie, die Dämonentrilogie und die Mitternachtstrilogie ein in die Chroniken des Grauen Mannes. Ihr findet mich auf Instagram als @cels_fabelhafte_buchwelt und könnt mich kontaktieren, wenn ihr eine eMail an celinaweithaas13@gmail.com schreibt.

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    Buchvorschau

    Märchen für Dich - Celina Weithaas

    Wer den Thron besteigt, muss sich selbst vergessen, um nur ihm zu dienen

    Oder das Märchen vom Froschkönig

    Liu steht mit dem Rücken zu mir, die dunklen Haare wirr und die Muskeln zum Zerreißen gespannt. Seine Hände liegen auf dem schlichten, silbernen Bilderrahmen, der das Gemälde des Froschkönigs behütet. Hohe Nadelbäume umgeben einen kühlen Brunnen. Mit dem Rücken zum Betrachter kniet die Prinzessin, das pastellfarbene Kleid um sich herum ausgebreitet wie eine Blüte.

    Der Frosch sitzt mit ihr auf Augenhöhe, eine goldene, schwere Kugel neben sich. In verschnörkelten Lettern steht auf dem Bilderrahmen: In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat. Ich liebäugle mit diesem Märchen, seitdem ich den Korridor das erste Mal betreten habe. Es ist einzigartig, es ist verlockend und es ist eines meiner Liebsten. Seit jeher. Die Geschichte der Prinzessin, die den Prinzen rettet. Die Geschichte einer bösen Zauberin, deren Magie einfach im Nichts verpuffte. Unter gewöhnlichen Umständen würde ich aufgeregt auf den Fußballen auf und ab wippen.

    Je länger ich auf die eingeritzten Buchstaben blicke, desto mehr verzehre ich mich danach, die fadenscheinige Barriere zu durchschreiten. Auf der anderen Seite wartet das Glück auf mich. Oder zumindest eine Ahnung dessen.

    Liu sieht mich über seine Schulter hinweg an, ein gequältes Lächeln auf den Lippen. Er ist ein wandelndes Mahnmal. Er erinnert mich an die finstere Seite der Märchen. An ein düsteres Versprechen, das im Herzen einer kleinen Kapelle gesprochen wurde. Schützend schlinge ich die Arme um mich. Die Temperatur in dem regenbogenhellen Korridor scheint drastisch zu sinken. Dieses Märchen hier wird besser werden. Schöner. Der Froschkönig begleitet mich, seitdem ich denken kann. Das zarte Mädchen auf dem Gemälde würde niemals zulassen, dass irgendwem etwas zustößt.

    „Du hast lange gebraucht", stellt Liu fest. Seine Stimme klingt anders. Leer. Blechern. Unwillkürlich strecke ich eine Hand nach ihm aus und verschränke unsere Finger miteinander. Die Hitze seiner Berührung sinkt in meinen Körper. Wie eine zweite Haut haftet der Geruch nach Wald und frischer Luft an ihm. Hat er den Morgen im Garten verbracht?

    „Aufwachen, duschen, zähle ich auf und versuche mich an einem leichten Kichern. Ich scheitere kläglich. Liu gibt einen zustimmenden Laut von sich. Seine Lippen wirken unnatürlich rot. Hat er sie sich nervös zerbissen? Nachdenklich sehe ich ihm in die bernsteinklaren Augen. „Hast du gut geschlafen?

    „Keine Sekunde. Liu umklammert meine Hand krampfhaft. Mein Herz stockt. Beinahe fühlt es sich an, als glaubte er, dass ich verpuffe, wenn er nur einen Zentimeter von meiner Seite weicht. „Uns bleiben ungefähr drei Wochen. Er räuspert sich, den Daumen nervös über meine Haut kreisend. „Ich glaube nicht, dass ich je wieder schlafen kann."

    Ein glühendes Band legt sich um meine Kehle und schnürt sie zu. Drei Wochen. Ein Wimpernschlag.

    Schwer schluckend stelle ich mich auf die Zehenspitzen und hauche ihm ein Kuss auf die Lippen. „Du hättest bei mir schlafen können", flüstere ich.

    Eine tiefe Falte gräbt sich zwischen Lius Brauen. „Das wollte ich, sagt er und hält meine Hand fester. Die Knochen scheinen aneinander zu schaben. Es kümmert mich nicht. „Das wollte ich wirklich. Nur hat es sich falsch angefühlt, wann immer ich mich dir genähert habe. Als würde ich dir wehtun, wenn ich nur da bin. Die Verzweiflung in seinen bernsteinklaren Augen raubt mir den Atem. Wo ist das Lachen hin? Seine beißende Arroganz? Lius hochmütiger Stolz. „Es war einfach verrückt, verstehst du? Ich konnte nicht zu dir gehen. Er lehnt seine Stirn gegen meine und streichelt mir mit dem Daumen erschreckend sanft über die Wange. „Ich konnte es nicht, Adeline.

    Bebend schlinge ich die Arme um ihn. In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, da waren wir glücklich. Jede Freude scheint zu purer Qual zu verkümmern, die sich grau und staubig in unsere Sinne frisst. „Alles ist gut, belüge ich uns und küsse Liu scheu auf das Kinn. „Alles wird gut. Er nickt und atmet tief durch. Wie lange? Wie lange werden wir in dieser Lüge leben können, ohne davon zerfressen zu werden? Ich stehle mir einen Kuss. Süß schmeckt er und nach Sicherheit. Wir werden es ertragen. Lang genug, damit alles gut wird.

    „Ich liebe dich, murmelt Liu und hält mich so fest, als würden die drei Wochen in dieser Sekunde vorübersein, wenn er mich jetzt loslässt. „Ich liebe dich und ich liebe dich und ich werde dich ewig lieben. Das Regenbogenlicht küsst sein Gesicht. Weiche Farben stehlen ihm einen Teil der Anspannung. Sanft streichle ich ihm über die Stirn.

    „Ich liebe dich und ich liebe dich und ich liebe dich und ich werde dich bis in alle Ewigkeit lieben", schwöre ich Liu. Dabei rinnt uns unser Immer in dieser Sekunde durch die tauben Finger.

    Lius Nicken wirkt ebenso gefasst wie zu der Sekunde, als Dante uns schmal anlächelte und verschwand, die düsterste aller Wahrheiten zurücklassend. „Glaubtest du wirklich, du hättest eine Zukunft, während du über den Wolken lebst?" Dantes letzte Worte geistern mir durch die Sinne. Habe ich darauf gehofft? Oder habe ich einfach verlernt, an das Morgen zu denken? Wir leben in diesem Moment und bis vor Kurzem war das mehr als genug.

    Liu macht keine Anstalten, sich aus unserer Umarmung zu lösen. Sein Herz schlägt sicher und regelmäßig über meinem. Befinden wir uns im Auge des Sturms oder warten wir noch darauf, dass er losbricht? Haben wir den Sturm längst überstanden und versinken wir in den Trümmerbergen?

    „Wir sollten in das Märchen verschwinden", wispere ich.

    „Sollten wir?"

    Mein tapferer, tapferer Held wirft mir einen zweifelnden Blick zu. Sprang Liu einst mit dem Kopf zuerst in den Kampf, scheint er nun wankend am Rand des Schlachtfeldes zu verharren, bereit jederzeit die Flucht zu ergreifen.

    „Sollten wir", bestätige ich leise und löse mich behutsam von ihm. Ein zartes Frösteln kriecht durch meinen Körper. Wird es sich so anfühlen, wenn ich Liu verliere? So endgültig? So eisig kalt.

    Als ich meine Hand auf das Ölgemälde lege, rührt Liu sich nicht. Wir stehen starr nebeneinander. Unsere Träume verblühen vor unseren Augen, doch anstatt sich danach mit Vogelschwingen in die Lüfte zu erheben, brennen sie nieder und verlieren sich im düsteren Erdreich.

    „Liu?, wispere ich und werfe ihm ein zaghaftes Lächeln zu. „Kommst du?

    Er steht direkt hinter mir, eine Hand beschützend auf meiner Hüfte, während er die andere über meine auf das Märchen presst. Weich fühlen sich die Farben des Ölgemäldes unter meinen Kuppen an. Kühl. Ich versinke in dem Gefühl. Der Brunnen verschwindet mitsamt dem Froschkönig unter unseren miteinander verschränkten Fingern. Ich glaube, Lius Puls durch meinen Körper donnern zu fühlen. Der Regenbogen zu unseren Füßen fließt in demütigender Schönheit unter uns dahin. Er leuchtet, er funkelt, er lebt und scheint unendlich, genährt von tausend Hoffnungen und Träumen, während das Märchen uns behutsam die Handflächen küsst.

    Ich glaube, die Kiefern riechen zu können, die mit dunklem Grün auf die Leinwand gebannt wurden, und ich höre ein leises Plätschern wie von Wasser, das gegen Stein spielt.

    Ein neues Schicksal wartet auf uns. Eines, das wir retten können und werden.

    Eines, das nicht zu unserem werden wird.

    Eine seltsame Schwerelosigkeit schlingt ihre behutsamen Arme um mich und ich glaube zu fliegen in der Unendlichkeit des Unmöglichen. Für einen Moment trennt mich das pure Glücksgefühl von Liu, dann berühren meine Füße neuen Boden.

    Er fühlt sich weich unter den Sohlen der Schuhe an und der Duft des Waldes lässt mich seufzend tief einatmen. Vögel zwitschern fröhlich und tanzende Sonnenstrahlen stehlen sich über die spiegelglatte Oberfläche eines malerischen Sees. Unter weißen und rosa Seerosen huschen goldene und silberne Fischchen entlang. Die Kiesel liegen sauber und schimmernd am sandigen Grund und beschützen die halb geöffneten Süßwassermuscheln zwischen sich. Ein Frosch bläst die Backen auf und wirft Liu und mir von seiner Seerose aus einen vorwurfsvollen Blick zu.

    Neben mir räuspert Liu sich und verschränkt erneut seine Finger mit meinen. An seiner Hüfte hängt der verdammte Degen. Hatten wir nicht gesagt, dass er auf den künftig verzichtet? Augenrollend lehne ich den Kopf gegen seine Schulter.

    Vor uns baut sich ein gigantisches Schloss auf. In sanften Wellen fließen die Hügel auf es zu und die Sonne wirbelt um die hohen, mit Fahnen bestückten Türme. Aus der Entfernung kann ich das Wappen nicht richtig erkennen. Prangt darauf ein Löwe? Die goldene, rote und schwarze Zier um das Herzstück herum blendet mich selbst aus der Entfernung. „Hier lebt also die kleine Prinzessin, bricht Liu das Schweigen, einen Arm schützend um mich gelegt. „Sieht nicht so aus, als gäbe es hier viel zu tun. Also als würde hier überhaupt demnächst ein Märchen stattfinden. Liu reibt sich über den Hinterkopf. „Du musst die Prinzessin dazu bringen, in der Nähe des Brunnens mit ihrer goldenen Kugel zu spielen und los geht es."

    Ich ringe mir ein kleines Lächeln ab. „Du lässt das so klingen, als wäre es einfach."

    „Wird es sein. Liu zuckt die Schultern. „Du bist die Königin eines anderen Landes. Sie wird sich freuen, mit jemandem spielen zu können, der auch französisch spricht.

    Mir klappt der Mund auf. „Aber ich kann kein Französisch! „Das wird das Märchen dir schon noch rechtzeitig beibringen, sagt Liu augenrollend.

    Ich ziehe die Brauen zusammen. Selbst wenn, wer sagt, dass ich mit der Prinzessin Zeit verbringen will? Vielleicht ist sie nicht, wie ich sie mir vorgestellt habe. Oder sie mag mich nicht leiden.

    Seufzend betrachte ich den Brunnen. Er ist nah an den Ausläufen des Waldes gelegen. Eine kecke Buche streichelt mit ihren Zweigen bei jedem starken Windstoß den grauen Stein und die kleinen Pflänzchen zwischen dem Gestein blinzeln uns fröhlich entgegen.

    „Warum umgarnst du die Prinzessin nicht?, seufze ich und zupfe an Lius Arm. Seite an Seite machen wir uns auf den Weg zu dem Schloss. Die Hügel wallen unter uns auf und werfen sich nieder wie ein unruhiges Meer. Der Duft von Rosen liegt in der Luft und scheint mit jedem fröhlichen Sonnenstrahl intensiver zu werden. „Damit hast du schon Dornröschens Märchen gerettet. Warum nicht auch das hier? Der Schalk blitzt in Lius Augen auf, als er mir einen verschmitzten Blick zuwirft. „Zuerst einmal, weil du krankhaft eifersüchtig bist."

    „Ich bin nicht eifersüchtig!, rufe ich aus. „Aber ich muss es auch wirklich nicht gutheißen, wenn du mehr Zeit mit dieser attraktiven Prinzessin verbringst als mit mir, nur, weil sie so toll nach Blumen duftet. Die Bestie in meinem Inneren fährt schon wieder die Krallen aus und will sie in mein Herz schlagen. Ungeduldig dränge ich sie zurück. Wenn ich mal das Recht hatte, eifersüchtig auf jedes Mädchen zu sein, das sich Liu nähert, dann ist das jetzt vorbei. Unsere Zeit läuft ab. Ich glaube, die Bombe ticken zu hören, die bei ihrer Explosion alles mit sich reißt, was uns gehörte.

    „Und zum Zweiten, fährt Liu fort, ein selbstgefälliges Lächeln auf den Lippen, „soll die Prinzessin sich in ihren Froschkönig verlieben und nicht in mich. Dem Märchen zuliebe lasse ich dieses eine Mal die Finger von den schönen Frauen anderer Länder.

    Ich strecke ihm die Zunge raus. „Das glaubst du doch selbst nicht."

    „Und wie ich das glaube! Sorglos hebt Liu unsere miteinander verschränkten Hände und drückt mir einen Kuss auf die Fingerspitzen. „Das wird ein gutes Märchen, prophezeit er mir. „Du wirst Französisch lernen und eine neue Spielkameradin gewinnen und ich genieße den Sonnenschein."

    Ich rolle die Augen. Mit Sicherheit. Damit Liu sich auf diese Wiese legt und in der Mittagssonne badet, muss ein Wunder geschehen.

    Rauschend rascheln meine Röcke über das grünende Gras. Am liebsten würde ich sie raffen. Das Kleid sieht hübsch aus, bestimmt. Und es ist mindestens ebenso schwer wie schön. Zumindest hat das Märchen mich nicht wieder in eine Korsage eingeschnürt. Atmen lernt man erst schätzen, wenn man von einer fremden Epoche eingekleidet wurde.

    Schwer seufzend lasse ich mich von Liu über die Hügel ziehen. Das Zwitschern der buntesten Vögel schwillt an und verschwimmt zu der süßesten aller Melodien. Rosen umringen Springbrunnen und weitläufige Steingärten verzaubern mit ihrem eigenen Charme. Sind das Schwäne, die über uns fliegen? Automatisch halte ich nach einem Vogel Ausschau, dessen Flügel in Brennnesseln gewickelt wurde. Aber die Tiere verschwinden am Horizont und nichts weist auf verwunschene Königskinder hin.

    „Wie lange, denkst du, wird das Märchen dauern?", frage ich Liu und schleppe mich über den nächsten Hügel. Wer hat sich diese Kleider eigentlich ausgedacht?

    Liu darf in Strumpfhosen und quietschbunter Weste mit Blumenstickereien herumstolzieren. Und ich? Mich hat man in alle Stoffreste gewickelt, die man in diesem und dem nächsten Königreich auftreiben konnte. Sobald sich mir die Gelegenheit dafür bietet, werde ich die gefühlten fünfzig Oberkleider abstreifen und wenn ich dann nur noch im Nachthemd durch die Gärten tolle, dann ist mir das relativ egal. Ohne die kratzenden Stützstrümpfe würde ich mich längst auf Händen und Knien fortbewegen.

    „Woher soll ich das wissen?", sagt Liu und geht leichtfüßig voran. Wir befinden uns in dem nächsten Märchen, Lius tiefschwarzen Sorgen scheinen wie fortgeschwemmt. Natürlich. Hier, in der Sicherheit von fremder Fiktion und absoluter Gedankenlosigkeit, waren wir nie weiter entfernt von der uns erdrückenden Realität.

    Die Sonne zwinkert mir über den Griff von Lius Degen zu. Er sollte den wirklich nicht mehr bei sich tragen. Irgendwann wird er ihm zum Verhängnis werden.

    „Das Märchen ist nicht so lang, oder?, sage ich. „Die Prinzessin verliert die Kugel, der Frosch kommt ihr hinterher, sie muss mit ihm ihr Essen teilen und mit ihm in einem Bett schlafen, aus Wut wirft sie ihn an die Wand und alles ist schön.

    Liu zieht grinsend eine Braue in die Höhe. „So wie du das zusammenfasst, will man fast die Stelle des Prinzen einnehmen."

    Ich spitze die Lippen. Ach, will man das? „Du wärst mit Sicherheit der schleimigste Frosch von allen, säusle ich lieblich. „Du würdest gar nicht von der Wand abfallen, sondern daran kleben bleiben.

    „Ich liebe dich auch, sagt Liu leichthin und stiehlt sich einen Kuss. Protestierend öffne ich den Mund. Noch ein Kuss. „Ich hoffe, es ist in deinem Interesse, wenn dein schleimiger Frosch dich als seine Gemahlin vorstellt?

    Ich rolle die Augen. Damit gehen wir zumindest sicher, dass Liu keiner Prinzessin den Kopf verdreht und ich niemandem versprochen werde.

    „Natürlich. Nichts wünsche ich mir mehr", spotte ich und drücke meine Lippen auf seine Wange.

    Liu verzieht den Mund. „Na dann, Adeline von Mirlando, benimm dich anständig, sonst nimmt uns das niemand ab." Eine sanfte, verspielte Leichtigkeit tollt durch seinen Tonfall. Die Ernsthaftigkeit des Moments bleibt greifbar. Er streicht mir eine dunkelblonde Strähne aus dem Gesicht.

    Ich drücke Lius Hand. „Du musst dir keine Sorgen machen, verspreche ich ihm. „Ich werde die liebste Frau sein, die du dir vorstelle kannst. Zumindest in diesem Märchen.

    Warum sein Lächeln traurig wirkt? Ich brauche einen kurzen Moment, um das zu verstehen. Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich beiße mir auf die Lippe. Fieberhaft suche ich nach Worten, die zurücknehmen, was ich gesagt habe. Ich finde sie nicht.

    Vor den Eingangstoren des Schlosses verharren wir und ehe Liu die Hand heben kann, um anzuklopfen, streichle ich ihm behutsam über die Wange und suche seinen Blick. „Ich liebe dich, flüstere ich und verliere mich in seinen dunklen, bernsteinklaren Augen. „Und ich werde dich immer lieben. Ich liebe dich so sehr. Dass ich deinen Antrag ausgeschlagen habe, das hat nichts damit zu tun, dass ich nicht mein Leben mit dir verbringen will. Sondern damit, dass ich nicht bereit dafür war. Bin. Noch nicht.

    Vermutlich nie.

    Das sollte ich Liu sagen. Das sollte ich ihm erklären. Stattdessen schlinge ich die Arme um Lius Hals und vergrabe das Gesicht an seiner Schulter. Er hält mich fest, bis ich glaube, mich in seiner Nähe verlieren zu können. Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt. Die Sonne scheint mir den Nacken hinab in das Kleid zu kriechen. Lius Fingerspitzen hinterlassen hauchzarte Küsse auf meiner Haut.

    „Wir sollten reingehen, flüstert er mir ins Ohr. „Du hast dich mit einer Prinzessin anzufreunden.

    Schwer seufzend halte ich ihn fester. Das habe ich wohl. „Das wird lustig", versuche ich uns beide zu überzeugen.

    Liu nickt und als er mich vehement von sich schiebt, verziehe ich das Gesicht. Wir werden Zeit füreinander haben, schwöre ich mir. Nach diesem Märchen. Wir werden über alles reden können. Über Dantes Prophezeiung. Darüber, dass ich Lius Antrag abgelehnt habe.

    Darüber, dass uns nichts bleiben wird. Womöglich nicht einmal kostbare, wunderschöne Erinnerungen.

    Lius Klopfen hallt durch die Gärten und durch den Innenhof des Schlosses. Seite an Seite warten wir auf eine Antwort. Über unseren Köpfen bauschen sich stolz die Fahnen mit dem Landeswappen auf. Der Löwe geht in dem Wappenschmuck haltlos unter.

    Ewigkeiten vergehen, bis schwere Schritte auf der anderen Seite ertönen, und man uns mit erhobenen Lanzen und Schwertern die Tore öffnet. Liu gibt den Männern vor uns keine Gelegenheit zu sprechen. Er verneigt sich galant vor ihnen, einen Arm besitzergreifend auf meinem Rücken, und schenkt ihnen ein glattes Lächeln.

    „Gestatten? Liutwin von Mirlando und seine Gattin Adeline. Wir sind gekommen, um des Königs Einladung zu folgen."

    Man senkt die Waffen nur wenige Millimeter, aber man senkt sie. Die Männer tauschen einen ratlosen Blick. Ich verschränke meine Finger mit Lius. Momente vergehen, in denen wir nichts als das Zwitschern der Vögel und das Bauschen des Fahnenstoffs hören.

    Dann verneigen die Wachposten sich knapp vor uns und lassen die Waffen sinken. „Folgt uns." Wir zögern keine Sekunde.

    Die Schönheit des Schlosses überwältigt mich. Es ist perfekt, in jeder Hinsicht. Die Hallen wurden hoch gebaut, als wollten sie den Himmel küssen. Zarte Goldranken klettern Seite an Seite mit lebendigen Pflanzen über weißen Stuck. Daneben breiten Engel schützend ihre Arme aus. Ich glaube, durch einen Dom zu schreiten, nicht erstickt von der überbordenden Schönheit des Barocks, sondern bescheiden und doch wundervoll erstrahlend. Unsere Schritte hallen laut wider und hüllen uns in ein fragiles Tuch. Lius Hand umfasst meine sicher und warm, während wir an bunten Fenstern vorbeigehen, deren glühende Schatten unsere Haut bemalen und uns unwillkürlich erstrahlen lassen.

    Links und rechts von uns halten sich die bewaffneten Wachen. Sie jagen mir keine Angst ein. Liu ist bei mir. So sehr ich seinen Degen auch hassen gelernt habe, so sicher weiß ich, dass niemand an Liu vorbeikommen wird, solange seine Finger den Griff fest umfassen. Und das tun sie, bei jedem Schritt, bei jeder Bewegung, bei jedem Atemzug.

    „Ihr seid nicht geladen", sagt ein Wachposten, während er uns durch die verwinkelten Korridore führt. Seine Stimme donnert finster zurück.

    „Alles andere hätte mich überrascht, erwidert Liu glatt. „Wir haben uns spontan dazu entschieden, dem König einen Besuch abzustatten. Meiner Ehefrau ist viel daran gelegen, seine Tochter kennenzulernen.

    Die Männer tauschen einen vieldeutigen Blick. „In diesem Fall solltet Ihr hoffen, dass Eure Anliegen denen des Königs entsprechen."

    Warum? Weil er uns andererseits das Leben aus dem Körper sticht? Ich erwarte, dass Liu auf die unterschwellige Drohung etwas erwidert. Dem Wachmann zumindest Paroli bietet. Stattdessen verneigt er sich knapp. Meine Schultern verspannen sich.

    Wir bewältigen eine breite Treppe. Die Stufen fließen uns entgegen und der Marmor scheint mit zarten Wasserfällen überzogen zu sein, die bei genauerem Hinsehen durch einen außerordentlichen Schliff des Gesteins bei Sonnenschein erwachen.

    „Selbstverständlich wäre ich gewillt, dem König einen Pfand zu überlassen, sagt Liu ruhig, als wir das neue Stockwerk betreten. Überrascht dreht sich der Wachmann rechts von uns, eine dürre, schmale Nase im Gesicht und die Lippen aufgesprungen, in Lius Richtung. „Während meine Gattin mit der Prinzessin spricht, werde ich selbstverständlich die Zeit mit dem König verbringen und für Adeline bürgen. Ein knapper Blick in meine Richtung. Nervös lecke ich mir über die Lippen. Was soll schon passieren? Am Ende wird alles gut.

    Ein unruhiges Kribbeln tapst mir durch die Magengegend und verwandelt mein Innerstes in eine schwelende Glut. Liu hält den Kopf für mich hin? Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich werde die beste Spielkameradin werden, die die Prinzessin sich wünschen kann.

    „Ihr scheint großes Vertrauen in Eure Ehefrau zu setzen", merkt ein Wachmann an. Den Körper hält er gerade, als hätte man ihm einen Stock durch das Rückgrat gedrückt.

    „Ich würde mein Leben in ihre Hände legen, sagt Liu ruhig. „Ich vertraue ihr blind.

    Noch ein getauschter Blick zwischen den Männern. Ich glaube die Fragen, die ihnen au den Zungen brennen, sehen zu können. Seufzend schließe ich die Augen und halte mich dichter an Lius Seite. Natürlich sind die Männer überrascht! Wie könnte es auch anders sein? Eine arrangierte Ehe, was ist das schon? Ein Zwang zwischen Mann und Frau, dem beide ungern nachkommen. Giftmorde und Verrat sind keine Seltenheit. Wie viel würde die eine oder andere Ehefrau für eine bessere Partie geben? Wie viel der ein oder andere Mann für ein hübscheres Gesicht an seiner Seite? Ich schüttle die Schatten der Realität ab.

    Wir befinden uns in einem Märchen. Hier ist man glücklich. Hier werden Träume und Wünsche wahr und hier lohnt sich ein Gebet. Weil es erhört wird.

    „Eure Ehefrau, sagt der Wachmann mit wirrem, rotem Haar, „ist von außergewöhnlicher Schönheit.

    Meine Wangen werden heiß und ich neige leicht den Kopf. „Danke." Mein Herz schlägt schneller. Das Kompliment huscht mir durch die Blutbahnen.

    „Deswegen habe ich um ihre Hand angehalten", sagt Liu wegwerfend.

    Meine Brauen schießen in die Höhe. Wie bitte?

    Blutig rotes Licht flutet über meine Haut. „Weil ich hübsch bin?", frage ich ihn leise und halte das brave Lächeln nur mit Mühe aufrecht.

    „Unter anderem."

    „Du meintest deswegen."

    Die Männer tauschen über unsere Köpfe hinweg einen raschen Blick. Nach der Sache bei Dornröschen, da mögen Liu und ich uns darauf geeinigt haben, dass es besser sei, würde ich mich im Schweigen üben. Eine dumpfe Wut und beißende Kränkung kriechen durch mich hindurch wie Gift. Wir haben gesagt gehabt, wenn es keinen triftigen Grund gibt, schweige ich.

    Das hier ist ein Grund.

    „Ich meinte, unter anderem deswegen." Warnend sieht Liu mich an.

    „Warum sagst du es dann nicht auch so?", zische ich und versuche meine Finger aus seinem Griff zu winden.

    „Weil es gerade nicht um deine geistigen Vorzüge ging, sondern um deine Augen und deine Haare."

    „Meine Augen und meine Haare?", entfährt es mir.

    Die beiden Wachmänner straffen die Schultern und gehen gleichzeitig zügiger. Mit überkreuzten Armen bewacht eine schimmernde Rüstung unseren Weg, das Familienwappen mit Eichenblättern und Löwe über dem Kopf.

    „Ich wollte dich nicht nur wegen deiner Augen und Haare heiraten, zischt Liu heftig. „Hör auf, mir die Worte im Mund umzudrehen!

    Ich will widersprechen. Dringend. Ich will ganz genau wiederholen, was er gesagt hat.

    Die Wachposten verharren vor einer gigantischen, geschlossenen Flügeltür. Wütend beiße ich die Zähne zusammen. Wir sind wegen des Märchens hier.

    Später. Diese Diskussion können Liu und ich später fortführen.

    „Wenn ich bitten darf." Den Kopf vor uns neigend, tritt der Wachmann zurück.

    „Natürlich dürfen Sie", sage ich schnippisch und schiebe mich durch die Türen, ehe sie vollständig geöffnet wurden.

    Weißes Sonnenlicht strahlt mir entgegen, ähnlich irreal wie ein doppelter Regenbogen und doch auf fürchterliche Weise erhellend schön. In seinen Armen thront ein schmaler Mann mit Falten, tief in sein graues Gesicht gegraben. Ich erstarre auf der Stelle. Die Augäpfel des Mannes wirken gelblich, die Augen ebenso grau und farblos wie die Wangen und die wenigen Haare halten sich schlohweiß auf seiner Platte. Hastig greifen dürre Hände nach einer Perücke.

    Hinter mir atmet Liu angespannt aus. Ich werfe einen kurzen Blick über meine Schulter und sehe, wie er in einer tiefen Verbeugung versinkt. Meine Knie beugen sich von allein und ich neige ergeben den Kopf vor einem Mann, der Dante sein könnte. Wäre er jünger. Wäre er stolzer.

    Würden sich Narben über seine Finger ziehen wie ein nachlässig um das Handgelenk gewickelter Rosenkranz.

    Der König wirkt entrückt und verwirrt, als er mich und Liu in Augenschein nimmt. Er badet in purem Sonnenschein und verblasst in diesem Glanz. „Keinen Besuch, murmelt er apathisch. „Keinen Besuch für mich.

    Die Wachmänner schlagen die Fersen zusammen und leise klirren die Waffen. „Eure Hoheit." Man verneigt sich und als sie die Hände nach Liu ausstrecken, schlüpft er ihnen aus dem Griff wie ein Wiesel und gesellt sich an meine Seite.

    „Eure Hoheit, meine Gattin und ich, wir bedanken uns untertänigst für Eure Güte, uns zu empfangen."

    „Keinen Besuch, wiederholt der König schwach. Dunkel, beinahe schwarz, scheinen sich die Venen gegen seine Haut abzuheben. Liegt der Geruch von Eiter in der Luft? Ich verwerfe den Gedanken. Ein Märchen. Wem stößt da schon Leid zu, außer dem bösen Wolf und den ungepflegten Ratten? „Wir hörten, dass eine schreckliche Pestilenz ihre Klauen in Euer Fleisch gegraben hat, sagt Liu distanziert und klingt dabei ebenso gekünstelt und geschwollen wie einst sein Vater. Abfällig spitze ich die Lippen. Keine Ahnung, was neuerdings mit Liu los ist, aber es gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht. Hat Dante diese Veränderung angestoßen? Ich selbst? Wer auch immer den Ball zum Rollen brachte, sollte dafür bestraft werden. Es wirkt beinahe, als würde Liu sich bereitmachen, einen großen Schritt zu tun. Hinaus aus unserer naiven, wundervollen Traumwelt, die von Rosen und Versprechen lebt.

    „Keinen Besuch", flüstert der König und vergräbt das Gesicht in den bleichen Händen.

    „Eure Hoheit, Liu verneigt sich erneut und weist die Wachmänner mit der resoluten Geste eines Prinzen zurück. „Wir sind nicht erschienen, um in einem schwachen Moment Eure Hilfe zu erbitten. Meine Frau hörte von Eurem Zustand und, so vernarrt sie in Eure Tochter ist, wollte sie sich um die junge Dame sorgen, bis Ihr wieder in der Lage dazu seid als weiser und ewiger König eines glanzvollen Reichs.

    „Eure Tochter liegt mir mehr am Herzen als mein eigener Mann", füge ich sanft hinzu.

    Langsam hebt der König den Kopf. Liu durchbohrt mich mit Blicken, giftiger als hinterhältige Pfeile. Ich ignoriere Lius unausgesprochene Vorwürfe geflissentlich und gehe einen kleinen Schritt auf den Schlüssel zu der Prinzessin zu. „Eure Hoheit, Hochwohlgeboren, ich verehre Euch und Eure Tochter, sage ich sanft und sehe durch meine Wimpern zu ihm auf. „Ich würde nichts tun, als mit ihr in Euren Gärten zu spielen und ihr die düsteren Gedanken zu vertreiben, während mein Mann sich um einen passenden Ar…

    „Medicus, fällt Liu mir ins Wort. „Ich werde Euch den kompetentesten Medicus dieses und der nächsten Königreiche beschaffen. Das schwöre ich Euch bei dem Allmächtigen.

    Die dunkel geäderten Augen des Königs bewegen sich zwischen gespreizten Fingern hin und her. Mal betrachten sie mich, mal Liu und mal scheinen wir beide bedeutungslos, während er ins Nichts starrt. „Warum sollte man mir diesen Gefallen erweisen?", fragt der Mann. Nagelpfeilen scheinen über seine Stimmbänder zu reiben, während er versucht, einen steten Ton über die bleichen Lippen zu bringen.

    „Weil ich Eure Tochter liebe wie meine eigene, wispere ich, ehe Liu mit geschwollenen Worten um sich werfen kann. Oder falschen Motiven. „Sie ist das schönste und reinste Geschöpf unter der Sonne und es würde mir alles bedeuten, wenn ich mit ihr Zeit verbringen dürfte.

    „Und weil wir Eure Tochter lieben, wollen wir mit allen Mitteln verhindern, dass ihr Vater an einer heilbaren Pestilenz dahinsiecht, fügt Liu glatt hinzu. „Es mag anmaßend klingen, aber es fühlt sich an, als hätte Gott selbst uns zu Euch gesandt.

    Meine Brauen zucken. Ich werfe Liu einen skeptischen Blick zu. Wirklich? Das ist sein Masterplan? Gott in die Sache mit rein zu ziehen?

    Ächzend richtet der König sich auf und zieht sich die Perücke vom Schädel. Seine Atmung geht schwer und keuchend. Als er hustet und die Hand hebt, um seinen Mund zu bedecken, haften zarte Blutstropfen an seinen Fingern. Liu sieht mich so intensiv an, dass ich ihn unmöglich ignorieren kann. Automatisch entziehe ich mich dem strahlenden Licht, in dem der Thron badet, und verschränke meine Finger mit seinen. Es ist mir egal, dass man sich in den Märchen eher nicht berühren sollte und es ist mir egal, dass der König unsere Hände betrachtet, als würden wir uns unter dem hochaufgerichteten Kreuz einer erzkatholischen Kirche küssen.

    Liu legt einen Arm um meine Taille und hält mich näher bei sich. Ich wehre mich nicht, sondern atme tief ein, inhaliere seine Nähe und seinen Geruch. Die leuchtenden Strahlen laufen zu unseren Füßen aus. Nie fürchtete ich das Licht mehr als in diesem irrealen Moment. Es küsst den Samt, aus dem der Gehrock des Königs gemacht wurde, und badet in dem satten Rotton. Uns aber? Mich? Es scheint uns zu verbrennen und ich verschwinde aus dem Licht, bevor dunkle Striemen sich wie verblassende Peitschenhiebe über meine Arme ziehen können.

    „Gott sandte mir seine Engel?, fragt der König heiser. Ein Bediensteter tupft mit einem blütenweißen Tuch Lippen und Hände des Herrschers sauber. „Er erhörte meine Gebete.

    „Das tut er zu jeder Zeit, sagt Liu sanft. „Werdet Ihr Euch in der Lage sehen, uns Euer Vertrauen zu schenken? Meiner Frau insbesondere.

    Der König zögert keinen Moment. Ich habe das Gefühl, er würde überschwänglich von seinem Thron aufspringen, wenn er könnte. Doch verharrt er steif und beinahe voll aufgerichtet und nickt uns so erhaben wie es ihm möglich ist zu. „Ich werde nach meiner Schönen schicken lassen."

    „Wollt Ihr sie zu dem Brunnen senden?", frage ich und klammere mich fester an Liu. Diese Krankheit des Königs, sie macht mir Angst. Das erste Mal macht mich in einem Märchen mehr nervös als nur eine Intrige oder eine blitzende Klinge. Ist es möglich …? Könnte es sein, dass Menschen in einem Märchen krank werden und schlussendlich sterben? So als würden sie in einer langweiligen, öden Realität leben? So wie ich, ehe ich mein Wolkenschloss betreten durfte?

    Der Puls rast mir in den Blutbahnen, während ich auf die Antwort des Königs warte. Die Augenlider wirken blutunterlaufen und jede Farbe ist ihm aus den Wangen gewichen. Rote Farbe versucht verzweifelt Leben nachzueifern, von wo es längst verschwand, und die Perücke heuchelt eine Jugend, die sich längst in vertrocknenden Gebeinen verkroch.

    Ich will mich auf die Zehenspitzen stellen und Liu bitten, dass wir von hier verschwinden. Jetzt. Hier. Auf der Stelle.

    „Ich würde sie in den Kerker entsenden, wenn Ihr mich darum bittet, sagt der König mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. „Solange Ihr den Zauber bewirken könnt, mich zu heilen, würde ich mit meiner Ehre bezahlen.

    „Eure Ehre wird nicht von Nöten sein, sagt Liu und macht einen Schritt nach vorn. Nicht, um Land zu gewinnen. Sondern um sich erneut tief zu verneigen. Automatisch versinke ich neben Liu in einem Knicks. Das Lächeln, das Lius Lippen umspielt, könnte zufriedener nicht sein. Warum? Weil unser fadenscheiniger Plan aufgeht oder weil ich ihm gehorche, ohne dass er den Mund öffnen muss? „Stellt Euch vor, sagt Liu leise, „Ihr würdet in einem Märchen leben. Zu einer Zeit als das Wünschen noch geholfen hat."

    Das Lächeln, das meine Mundwinkel hebt, es blüht in Aufrichtigkeit. Hier sind wir wieder. Zurück an dem Punkt, an dem alles begonnen hat: mit Magie und Wundern. Glaubt Liu wieder daran? Das muss er wohl. Sonst könnte er sein Versprechen, den König zu heilen, niemals erfüllen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und unterdrücke den Impuls, ihm die Arme um den Hals zu schlingen und ihn zu küssen, bis wir beide nach Luft ringen. Zurück in unserem eigenen Märchen. Die Tage mögen gezählt sein. Fühlt es sich deswegen weniger real an als zuvor?

    „Märchen beginnen grausig und enden auch so", murmelt der König.

    „Nicht in meiner Welt, besänftigt Liu ihn. „Schickt Eure Tochter zu dem Brunnen und sie wird Zeit mit meiner Gattin verbringen. In dieser Zeit werde ich Euch heilen lassen. Man hat mir ein Zaubermittel zur Verfügung gestellt. Eine fragwürdige Bekanntschaft mit dem Tod? Einen möglichen Gefallen, den Liu bei dem Gevatter einfordern kann, dafür, dass wir sein Märchen gerettet haben? „Schon zum Abendessen werdet Ihr wieder zu Eurer alten Stärke zurückgefunden haben."

    Die Hoffnung strahlt in den erschöpften und teilnahmslosen Augen des Mannes intensiver als die Sonne in diesen weiten, weißen Raum aus Marmor hinein. Der König hebt eine Hand. „Bringt meine Tochter zu dem Brunnen, befiehlt er. Ein Schatten von Autorität kämpft sich zurück in seine Stimme. „Für meine Gäste verlange ich freies Geleit.

    „Ihr seid zu gütig", sagt Liu und verneigt sich erneut. Ich kenne die Etikette. Ich weiß, dass sie vorsieht, dass Liu gebeugt nach der ausgestreckten Hand des Königs greift und sie küsst, bis der Herrscher sie sinken lässt. Aber Liu rührt sich nicht von der Stelle und die Finger des Königs krallen sich in die Armlehne des goldenen Throns. Keuchend wendet er den Blick von Liu und mir. Ein neuerlicher Hustenanfall.

    Hilflos sehe ich Liu an. Er hält mich fester. „Ich werde mich darum kümmern", wispert er mir ins Ohr und macht mir so eines seiner vielen Versprechen. Versprechen, die er noch immer gehalten hat.

    „Schaffst du es wirklich, dass er wieder ganz gesund wird?", flüstere ich hektisch.

    Der Diener tupft dem König das Blut von seinem Kinn. Lius Lippen huschen über meine Kehle und lassen eine glühende Feuersspur zurück. „Zweifelst du an mir?"

    Manchmal. In düsteren Stunden, in denen Liu mir den Rücken zuzuwenden scheint.

    „Niemals, wispere ich. „Nicht heute, nicht morgen. Niemals.

    Ein weiterer gestohlener Kuss, dann richten sich die energielosen Augen des Königs erneut auf uns. Wie konnte ich ihn nur für einen Moment mit Dante verwechseln? Die Männer haben nichts gemein. Der eine geht aufrecht und stolz, getrieben von seinem ganz eigenen Wahnsinn. Dieser hier erstickt an seinem eigenen Blut.

    Liu löst sich sanft von mir. „Wir sollten beginnen, sagt er. „Werdet Ihr Eure Wachen aus dem Saal weisen?

    Kurz zögert der König. Ich versteife mich. Ist Liu zu weit gegangen? Ein König wird niemals allein gelassen, noch weniger mit einem Fremden.

    Einem Fremden, der von Gott entsandt wurde. Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange. Das ist es. Das war der Grund dafür, dass Liu diese ungeheuerliche Lüge anbrachte. Denn selbst sein gnadenloser Vater ging vor dem Gewicht des Kreuzes in die Knie und faltete fromm seine Hände. In verzweifelten Stunden glaubt ein König an alles und nichts. „Man lasse uns allein", krächzt der Herrscher.

    Ich werfe Liu einen letzten Blick zu. Zweifel tapsen in mein Bewusstsein.

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