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Living Legends: Des Räubers Gewissen
Living Legends: Des Räubers Gewissen
Living Legends: Des Räubers Gewissen
eBook371 Seiten4 Stunden

Living Legends: Des Räubers Gewissen

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Über dieses E-Book

"Ein Herz.Belegt mit dem Fluch der Trauer.Gestohlen durch die Hand eines Unbekannten."Nic und Lynn können es nicht fassen. Mit vereinten Kräften haben sie es tatsächlich geschafft, Fra Mauro in die Knie zu zwingen. Doch jeder Sieg hat seinen Preis: Der Herrscher der Dunkelheit hat Lynns übernatürlichen Kräfte getilgt und ihr den Fluch einer menschlichen Hülle auferlegt.Zur gleichen Zeit ereignen sich in der Stadt der tausend Brücken unerklärliche Morde, die von unmenschlicher Brutalität und Grausamkeit zeugen. Die Opfer sind allesamt junge Frauen, denen bei lebendigem Leibe das Herz aus der Brust gerissen wurde.Wer ist in der Lage, derartige Verbrechen zu begeheneine verlorene Seele, ein Dämon oder ein rachsüchtiger Geist?Nic und Lynn haben keine andere Wahl: Sie müssen sich der neuen Gefahr stellen.

Band 1: Des Teufels Träume
Band 2: Des Räubers Gewissen
Band 3: Titel wird noch bekannt gegeben (erscheint Oktober 2019)
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum3. Juli 2019
ISBN9783959914390
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    Buchvorschau

    Living Legends - Maja Köllinger

    Teil I

    Prolog

    Wir sind immer noch dieselben

    Lynn

    Wir haben uns entschieden.

    Wir haben nichts bereut.

    Wir werden bleiben.


    Ich atmete tief ein und aus, während mein Blick über die spiegelnde Wasseroberfläche des Canal Grande glitt. Das hier war also unser neues Zuhause. Unsere Wahlheimat. Venedig.

    Ich kniff mich selbst in den Arm, um mich davon zu überzeugen, dass es tatsächlich der Wahrheit entsprach. Allein das Gefühl von Haut auf Haut, die eigenartige Form des Schmerzes, die durch mich hindurchschoss, veränderte alles.

    Ich bin die Gleiche wie noch vor wenigen Tagen, als wir Fra Mauro besiegt haben. Und doch ist alles anders.

    Irgendetwas hat sich in mir gewandelt, als er mich absorbiert und kurz darauf wieder ziehen lassen hat.

    Ich bin nun ein Mensch. Sterblich. Verletzlich. Schwach.

    Ein Mensch mit der Seele eines Schutzgeistes.

    Wer bin ich?

    Am meisten machte mir das Fehlen meiner Gaben zu schaffen. Als hätte die erlöste Seele Fra Mauros meine Fähigkeiten mit sich genommen.

    Selbst Nic war das alles nicht ganz geheuer. Er tat so stark, doch wenn er dachte, dass ich nicht hinsah, musterte er mich nachdenklich, beinahe traurig.

    Nur weil ich keine überirdischen Kräfte mehr besaß, hieß das nicht, dass ich mit einem Mal vollkommen unfähig war.

    Solange ich zurückdenken konnte, war ich Nics Schutzgeist gewesen. Er konnte mir nichts vormachen. Ich wusste genau, wie er sich fühlte, selbst wenn er sich nicht im Klaren darüber war. Und momentan machte er sich mehr Sorgen über mich als um sich selbst.

    Seine Verletzungen heilten gut, doch ehrlich gesagt hatte ich mehr Bedenken wegen seines geistigen Zustands. Es war so viel geschehen innerhalb der letzten Tage und Wochen. Die Zeit war im Zeitraffer an uns vorbeigezogen, während wir scheinbar immer noch auf der Stelle traten.

    Seit jener Nacht vor etwa einem Monat, seit unserem Kampf und unserem Kuss hatte sich alles geändert. Obwohl wir noch immer dieselben waren.

    Kapitel 1

    Menschsein

    Nic

    Schwärze lullte mich ein. Sie umhüllte mich wie eine Decke. Sie schützte mich und nichts konnte mir etwas anhaben. Ich fühlte mich geborgen. Meine Gedanken drifteten immer weiter ab. Die Kontrolle über meinen Körper entglitt meinem Bewusstsein. Schwerelos wurde ich von der Realität hinfort gelenkt.

    »Nic! Hilf mir!« Ein Wimmern drang aus dem Echo des Nichts zu mir durch und ließ mich aufhorchen. Ich versuchte die Augen zu öffnen, doch die Dunkelheit klebte an meinen Wimpern und hielt sie geschlossen.

    War das Lynn?

    Steckt sie in Schwierigkeiten?

    »Lynn? Bist du das? Wo bist du?«, wollte ich rufen, aber meine Lippen verweilten stumm aufeinandergepresst. Als sei mein Körper in Marmor gehauen worden. Versteinert, wie gelähmt. Ich konnte mich nicht bewegen, sondern mich nur durch diese fremde Macht lenken lassen. Die Schwärze wirkte mit einem Mal nicht mehr wie ein Schutz vor der Außenwelt, sondern wie eine Mauer, die mich von der Wirklichkeit trennte.

    Vor meinem inneren Auge spielte sich die Szene ab, die mein Herz immer und immer wieder zerfetzt hatte in den vergangenen Tagen.

    Lynn, wie sie mir einen entschuldigenden Blick zuwirft und sich von mir abwendet.

    Lynn, die einen Deal mit Frau Mauro eingeht.

    Lynn, deren Lebensenergie absorbiert und in finstere Macht umgewandelt wird.

    Nur um mich zu verschonen.

    Ich bin schuld.

    Sie hat sich nur meinetwegen darauf eingelassen.

    Ein Schrei schwoll in meiner Kehle an, während ich immer wieder durchlebte, wie sich Lynn mit Tränen in den Augen von mir weg- und dem sicheren Tod entgegendrehte.

    Die Steinschicht, die meinen Körper umgab, begann zu splittern. Risse zogen sich über meine Gliedmaßen, Klumpen bröckelten von meiner Haut, bis ich mich langsam selbstständig wieder bewegen konnte.

    Der Drang zu schreien verstärkte sich immer mehr, bis schließlich das Gestein von meinen Lippen gesprengt wurde und sich ein Ruf entfaltete, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich befreite mich damit aus meinem eigenen Albtraum.

    »Lynn!«

    Kerzengerade saß ich im Bett und keuchte schwer. Schweißperlen krochen über meine Stirn und liefen an meinen Schläfen hinab. Ich wischte sie unachtsam hinfort, während ich meine hektische Atmung beruhigte.

    Mein Herz raste, als sei ich einen Marathon gelaufen, und das Shirt, das ich mir für die Nacht übergezogen hatte, war von Schweiß durchtränkt. Es klebte wie eine zweite Haut an mir.

    Es musste bereits früh am Morgen sein, denn die ersten Sonnenstrahlen schlichen sich in das bescheidene Apartment, das Lynn und ich bewohnten.

    Die Finsternis lauerte nur in den entlegensten Ecken des Zimmers, ansonsten wurde die Einrichtung von einem blassen Schimmer umspielt, der förmlich über die Möblierung floss.

    Es war ein Traum.

    Bloß ein Traum.

    Nicht die Realität.

    Ich vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte meine Gedanken zu erden, um wieder zur Ruhe zu kommen. Ein Ding der Unmöglichkeit.

    In den letzten Wochen war so vieles geschehen, was ich nicht verstand. Lynn und ich hatten eine unfassbare Reise hinter uns gebracht, den Dämonenherrscher Fra Mauro aufgespürt und verhindert, dass er ganz Venedig einäscherte. Mit seinem Gefolge aus Höllenwesen wäre das ohne unseren Widerstand ein Leichtes gewesen.

    Doch schlussendlich hatten wir ihn aufgehalten. Genauer gesagt Lynn. Sie hatte ihre Existenz von ihm absorbieren lassen und in seinem Inneren das verlorene Seelenfragment gefunden, das Fra Mauro Erlösung geschenkt hatte. Der einstige Herrscher wurde gespalten in seine gute und seine böse Seite, ebenso wie seine Seele zuvor schon gespalten war. Zerfetzt von seinem eigenen Inneren, war es für ihn unmöglich, sich weiterhin an seine Unsterblichkeit zu klammern und der Tod hatte ihn schließlich ereilt.

    Allerdings ergaben sich aus dieser Situation zwei Probleme, mit denen ich nicht gerechnet hätte.

    Erstens: Das Dämonenheer Fra Mauros verflüchtigte sich und zerstreute sich in alle Himmelsrichtungen. Es stand außer Frage, dass wir in Venedig blieben und die Augen offen hielten nach entlaufenen Höllenwesen. Schließlich konnte sich ein ganzes Heer unmöglich einfach in Luft auflösen, richtig?

    Das zweite Problem stellte sich allerdings als weitaus schwieriger heraus als ein entlaufenes Dämonenheer. Zumindest in meinen Augen. Ich hatte Lynn geküsst. Nachdem ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen, hatte mich eine solche Verzweiflung gepackt, dass ich bereit war, mein eigenes Leben für sie zu riskieren und Fra Mauro mit bloßen Händen anzugreifen, obwohl ich offensichtlich in der Unterzahl gewesen war. Ich hatte mich gegen eine Armee und ihren König gestellt, nur weil die verschwindend geringe Chance bestanden hatte, dass ich Lynn wiedersehen könnte.

    Als ich sie dann in meine Arme schließen konnte und mir sicher war, dass sie noch lebte und das Mädchen war, ohne das ich mir ein Leben gar nicht mehr vorstellen konnte, wäre es eine Sache der Unmöglichkeit gewesen, sie nicht zu küssen.

    Doch seitdem hatte sich alles verändert.

    Lynn hatte sich nicht wie erwartet in einen Geist zurückverwandelt und verblieb bis heute in ihrer menschlichen Form. Keiner von uns beiden wusste, wie wir damit umgehen sollten und ob es in diesem Fall eine Lösung gab. Jetzt, wo es keine Hindernisse und Barrieren zwischen uns beiden gab, schienen wir die Probleme selbst zu erschaffen, die verhinderten, dass wir zusammen glücklich wurden. Als hätten wir Tag für Tag einen weiteren Stein auf die unsichtbare Mauer gelegt, die uns nun voneinander trennte.

    Seit jener Nacht hatte ich sie nicht mehr geküsst. Obwohl mein Herz wie wild schlug, wann immer sie mich ansah. Obwohl meine Gedanken sich beständig um sie drehten, als sei sie meine Sonne. Obwohl meine Fingerspitzen kribbelten, wann immer die Möglichkeit bestand, sie zu berühren.

    Doch irgendetwas hielt uns zurück. Vielleicht der Gedanke, dass sie sich jeden Moment wieder in einen Geist zurückverwandeln könnte. Eine Beziehung zwischen uns beiden hatte keine Zukunft. Wir hatten keine Perspektive.

    Also taten wir, was wir am besten konnten. Wir verdrängten die Erinnerung an diesen besonderen Augenblick und konzentrierten uns auf das Wesentliche. Überleben in einer Welt voller Gefahren und das Aufspüren von Höllenbewohnern.

    Inzwischen war ich mir allerdings gar nicht mehr so sicher, ob die Dämonen nicht auch bereits in meinem Inneren schlummerten.

    Lynn

    »Lynn!« Sein Schrei riss mich aus meinem traumlosen Schlaf. Seit ich in einem menschlichen Körper steckte, musste auch ich auf die regenerativen Methoden der Sterblichen zurückgreifen. Schlafen gehörte also von nun an ebenso zu meinem Alltag wie umfangreiche Mahl­zeiten und Klogänge.

    Allein der Gedanke daran, über Stunden hinweg bewegungs- und bewusstlos herumzuliegen und nichts tun zu können, verursachte mir Übelkeit.

    Allerdings unterschied mich eine Sache von den anderen Menschen: Ich träumte nicht.

    Während Nic die Erlebnisse des vergangenen Tages in Traum­bildern verarbeitete, war ich dazu einfach nicht imstande. Stattdessen versank ich in einer Welt abseits der Realität. Ich betrat einen Raum, in dem das Nichts mein ständiger Begleiter war und meine Probleme nicht existierten. Als würde ich durch die Zeit schweben und von ihr hinfort getragen werden.

    Doch nun war ich wach. Aufgeweckt durch den Schrei von Nic, der im Nebenzimmer schlief.

    Ich verharrte still und wartete.

    Die dünne Decke umhüllte mich wie ein wärmender Kokon. Ich musterte die Wand vor mir, traute mich kaum zu atmen. Obwohl uns eine Mauer aus Stein trennte, wagte ich es nicht, einen Laut von mir zu geben.

    Er hat also immer noch Albträume.

    Seit jener Nacht konnte Nic nicht mehr ruhig schlafen. Entweder streifte er mitten in der Nacht durch die Wohnung und saß stundenlang am Küchentisch, bis die Sonne aufging, oder er schrie meinen Namen. Kurz nach unserem Kampf gegen Fra Mauro, als wir in unser Apartment gezogen waren, war er in der ersten Nacht in mein Zimmer gekommen und hatte unschlüssig im Türrahmen gestanden, als wüsste er nicht, was er da gerade tat. Bis zu jenem Abend hatten wir immer im gleichen Zimmer geschlafen. Doch die Tatsache, dass ich nun ein Mensch war und offensichtlich kein vollwertiger Schutzgeist mehr, hatte eine Barriere zwischen uns kreiert, die ich einfach nicht überwinden konnte.

    Es stand quasi außer Frage, dass ich ein eigenes Zimmer bekam. Früher hatte es keinen von uns beiden gestört, wenn ich mich im selben Raum befand, in dem Nic gerade schlief. Was hatte sich geändert?

    Die Antwort lag wohl auf der Hand.

    Ich.

    Ich habe mich verändert.

    In der Nacht, in der er zu mir gekommen war, hatte ich die Grenzen allerdings unbeabsichtigt noch weiter verschärft. Anstatt mit Nic zu reden und ihm zu zeigen, dass ich immer noch für ihn da war, obwohl ich ein Mensch war, hatte ich mich schlafend gestellt.

    Nic war auf mich zugekommen und hatte innegehalten, bevor er sich abrupt auf dem Absatz umgedreht hatte und aus dem Zimmer gestürmt war. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er damals schon gewusst hatte, dass ich nur so tat, um die Konfrontation mit ihm zu umgehen.

    Und nun lag ich hier, mit dem gleichen miserablen Gefühl wie damals, und wusste nicht, ob ich es riskieren sollte, auf ihn zuzugehen. Mir war bewusst, dass ich ihn trösten und für ihn da sein sollte, aber ich konnte es nicht. Früher hätte ich mich ohne zu zögern zu ihm gesellt und ihm das Gefühl vermittelt, dass er nicht allein war.

    Wie soll ich für Nic da sein, wenn ich an meinen eigenen Emotionen und Problemen ersticke?

    Im Moment war selbst eine flüchtige Umarmung zu viel. Wir sahen uns nicht mehr in die Augen und fokussierten uns auf die Aufgabe, die wir uns selbst gestellt hatten.

    Dämonen aufspüren und jagen.

    Das können wir.

    Darauf sollten wir uns beschränken.

    Alles darüber hinaus ist dazu verdammt, schiefzugehen.

    Und so kniff ich meine Augen fest zusammen, um die Wirklichkeit aus meinen Gedanken zu verbannen, ebenso wie dieses hässliche Gefühl in meinem Inneren, das mich überfiel, sobald ich auch nur daran dachte, mich gegenüber Nic zu verschließen.

    Doch es ging nicht anders.

    Es musste sein.

    So war es besser für uns beide.

    Einige Stunden später

    Es war inzwischen zur Routine geworden, dass ich Nic bis zu seiner neuen Arbeitsstelle begleitete. Wie auch in Rom verdiente er sich hier sein Geld als Barista hinzu und arbeitete in einem kleinen Café am Ufer des Canal Grande. Das Geld reichte gerade so, um die winzige Zweizimmerwohnung zu finanzieren. Ich fühlte mich deswegen furchtbar, schließlich blieb die ganze Arbeit wortwörtlich an Nic hängen. Am liebsten hätte ich mich auch um eine Stelle bemüht, allerdings hatte ich absolut nichts vorzuweisen. Keinen Schul­abschluss, keine Berufserfahrung, einfach nichts.

    Ich kaute auf meiner Unterlippe und wusste nicht, was ich tun sollte. Hinzu kam, dass ich auch im Bereich Finanzen absolut keinen Schimmer hatte. Nic wollte mir nicht einmal mehr die Einkäufe anvertrauen, nachdem ich einmal für den dreifachen Preis Lebensmittel eingekauft hatte, weil ich nicht wusste, dass man auf die Marke achten musste.

    Mir kam es vor, als sei ich mein ganzes Leben lang nur die Begleitung gewesen, ein Anhängsel, das nichts selbst zu erledigen brauchte. Genau genommen entsprach das auch der Wahrheit. Dinge wie Geld und Nahrung erschienen mir damals so nichtig, doch inzwischen kannte ich das Gefühl von Hunger. Ich war inzwischen ein Mensch, also hatten sich auch meine Prioritäten verschoben.

    Wie auf Kommando knurrte mein Magen los und ich legte reflex­artig die Hand auf meinen Bauch. Einen festen Körper zu haben, war so unfassbar anstrengend. Man musste ihn pflegen wie eine zarte Pflanze oder ein Haustier. Vergaß man ihn zu füttern oder sich um ihn zu sorgen, wurde man sofort mit Schmerzen bestraft. Ich seufzte entnervt auf.

    Nic warf mir ein flüchtiges Lächeln zu, während er neben mir herging. Wir überquerten gerade eine kleine Brücke mit einem Geländer aus Gusseisen. Schnörkel wanden sich umeinander und erzeugten die Illusion von eisernen Blumen.

    »Hast du etwa schon wieder Hunger?«, fragte er belustigt. Ich zuckte nur mit den Schultern und erwiderte sein Lächeln.

    So war es also von nun an. Wir teilten unsere Sorgen nicht mehr miteinander, aber über Nichtigkeiten konnten wir uns dennoch austauschen. Wollte Nic so verhindern, dass es seltsam zwischen uns beiden wurde? Tja, da musste ich ihn wohl enttäuschen, denn das war es längst.

    Vielleicht machten Menschen das auch so, um ihren Problemen auszuweichen.

    Was wusste ich schon? Ich lernte schließlich gerade erst, ein Mensch zu sein.

    Versuchsweise antwortete ich schnippisch: »Vielleicht liegt es daran, dass du mir das Frühstück vor der Nase weggegessen hast.«

    Nic schaute mich erstaunt an, als hätte er nicht erwartet, dass ich überhaupt mit ihm sprach. Leider musste ich ihm in diesem Punkt recht geben, denn seit dem Kampf hatte ich mich vor fast jeder Unterhaltung mit ihm gedrückt. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte, um nicht alles noch kaputter zu machen, als es ohnehin schon war. Die Angst schnürte mir jedes Mal die Kehle zu. Meine Antworten fielen immer dementsprechend knapp aus. Bis heute Morgen.

    Nic lachte über meinen schlechten Witz. Das helle Geräusch rieselte über meine Haut und erzeugte einen warmen Schauder, der mich mehr wachrüttelte, als es eine große Tasse Kaffee jemals könnte.

    Das Echo des Lachens hallte noch lange in meinem Kopf wider, bis ich mich innerlich fragte, wann ich Nic das letzte Mal hatte lachen hören.

    Vielleicht ist das Menschsein doch nicht so schwer wie gedacht.

    Kapitel 2

    Stolpernder Alltag

    Nic

    Sie spricht wieder mit mir.

    Zwar nicht viel, aber es ist ein Anfang.

    Ich hatte das Gefühl, als sei ich Lynn in diesem unscheinbaren Moment näher gewesen als in dem ganzen vergangenen Monat. Ich wollte noch nicht so weit gehen und behaupten, dass wir in naher Zukunft wieder zusammenfinden würden. Unsere Beziehung zueinander würde nie wieder die Ebene erreichen, auf der sie vor der Begegnung mit Fra Mauro gewesen war, doch wir waren immerhin auf dem richtigen Weg.

    Auch der längste Weg beginnt schließlich mit einem ersten, kleinen Schritt.

    Der Mut hatte mich wieder gepackt und strömte durch meine Adern, als hätte ich eine Extraportion Adrenalin zu mir genommen.

    Beschwingt trat ich auf das kleine Café zu, in dem ich seit knapp drei Wochen arbeitete. Inzwischen hatte ich mich an die Abläufe gewöhnt und war vertraut mit meiner neuen Routine, die mich immer mehr an meine alte Arbeit daheim in Rom erinnerte.

    Leider war mein neuer Chef ein pedantischer Nörgler, sodass wir bereits mehr als einmal aneinandergeraten waren. Mir blieb allerdings nichts anderes übrig, als seine Kritik hinunterzuschlucken und weiterzumachen wie bisher.

    Das Öffnen der Eingangstür wurde von einem hohen Klingeln begleitet, das laut Lynn an das Plätschern von Wasser erinnerte. Ich wusste nicht genau, was sie damit meinte, nickte aber trotzdem, weil ich so froh war, dass sie überhaupt wieder mit mir sprach. Ihr wochenlanges Schweigen und Ignorieren war schlimmer gewesen als alles andere.

    Sie hatte sich vor mir verschlossen und in sich selbst verkrochen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie sehr sie unter der Situation leiden musste. Ihr ganzes Dasein war umgekrempelt worden und ihre Welt stand völlig auf dem Kopf. Ich musste mir immer wenn sie einen Fehler machte, ins Gedächtnis rufen, dass sie gerade erst lernte, menschlich zu handeln. Und dann kam noch hinzu, dass sie ihre ganzen übersinnlichen Fähigkeiten eingebüßt hatte. Wie würde es mir wohl gehen, wenn ich von einem Tag auf den anderen nicht mehr laufen oder sprechen könnte? Diese Fertigkeiten waren für mich so selbstverständlich wie Lynns Fähigkeiten für sie.

    Ich hatte sie jetzt schon mehrmals dabei erwischt, wie sie in ihrem kleinen Zimmer mit den Dolchklingen übte, die ich uns beiden kurz nach unserem Einzug gekauft hatte. Schließlich mussten wir vorbereitet sein, wenn das Dämonenheer von Fra Mauro zuschlug. Momentan war uns noch nichts Auffälliges untergekommen, doch es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis die Höllenwesen sich aus ihren Verstecken trauten.

    Bis dahin verblieben Lynn und ich in der Beobachterrolle und sammelten so viele Informationen, wie es uns nur möglich war. Eine Aufgabe, die ich – zugegeben – in letzter Zeit hatte schleifen lassen. Besonders seitdem wir nicht mehr miteinander sprachen.

    Die Tatsache, dass Lynn ohne mich ihre Kampfübungen machte, hatte mich mehr getroffen als gedacht. Bis zu diesem Zeitpunkt waren wir ein Team gewesen.

    Doch was waren wir nun?

    Einzelkämpfer, die nebeneinander existierten?

    Das durfte ich nicht zulassen. Das Team musste reanimiert werden. Und ich hatte das Gefühl, dass dieser unscheinbare Morgen der Startschuss sein könnte.

    Mit schnellen Handbewegungen legte ich meine Schürze um und schnappte mir ein Portemonnaie sowie Block und Stift, um die ersten Kunden zu bedienen, die sich vor wenigen Sekunden an den kleinen Tischen und Stühlen vor der Hausfassade des Cafés niedergelassen haben.

    Ich verabschiedete mich schnell von Lynn und eilte nach draußen. Sie wollte sich bestimmt wie jeden Morgen eine große Portion schwarzen Kaffee zum Mitnehmen bestellen.

    Ich beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sie sich an meinen Kollegen Flavio hinter dem Tresen wandte. Dieser hatte wie immer eine mürrische Miene aufgesetzt und beobachtete Lynn abschätzig. Er war ein von Grund auf pessimistisch eingestellter Menschen, der schnell aus der Haut fahren konnte, wie ich in den letzten Wochen bereits gelernt hatte.

    Die beste Taktik war, ihm aus dem Weg zu gehen und damit von seinem Radar zu verschwinden. Mir tat die Tatsache, dass Lynn sich nun an ihn wenden musste, irgendwie leid.

    Es dauerte nur zwei Minuten, bis ich mit den Bestellungen der Gäste fertig war und ins Café zurückkehrte.

    »Was soll das heißen, du hast kein Geld?«, brüllte Flavio im gleichen Moment, in dem das Wasserklingeln der Glocke über meinem Kopf ertönte. »Bist du total verblödet? Wie kann man ohne Geld aus dem Haus gehen? Verschwinde, bevor ich die Polizei rufe, und vergeude nicht weiter meine Zeit!«

    Vorm Tresen stand Lynn und starrte ihn schockiert an. In ihrer Hand lag das geöffnete Portemonnaie. Ich konnte genau sehen, wie ihr Kehlkopf hüpfte, als sie schwer schluckte.

    In ihren Augenwinkeln bildeten sich bereits kleine Seen, die kurz davor standen, überzulaufen.

    Was zur Hölle ist denn hier los?

    Ich vergaß meine Bestellungen sofort und eilte an Lynns Seite. Vor ihr auf dem Tresen stand der dampfende Becher Kaffee.

    »Was ist passiert, Flavio? Ich hoffe du hast einen guten Grund dafür, Lynn so anzufahren.« Ein giftiger Unterton hatte sich in meine Stimme geschlichen. Lynn hielt ihren Blick weiterhin zu Boden gerichtet. Von Nahem konnte ich erkennen, wie sehr sie zitterte. Ihre Schultern bebten regelrecht.

    Die schwarzen Haare bildeten nun einen Vorhang für ihr Gesicht, sodass ich nicht erkennen konnte, ob sie weinte. Wie von selbst fand meine Hand ihren Rücken und ich strich mit langsamen Bewegungen beruhigend über den dünnen Stoff ihres Sommerkleides.

    »Deine Freundin …«, er betonte das Wort geradezu abfällig und Lynn zuckte daraufhin ein weiteres Mal zusammen, »… hatte nicht vor zu bezahlen. Ich könnte sie dafür anzeigen, wenn ich wollte.«

    »Ich habe mein Geld daheim vergessen. Ich hatte niemals vor zu stehlen.« Lynns Kopf ruckte nach oben und offenbarte die Tränenspuren, die sich wie Flüsse über ihr Gesicht zogen.

    Allerdings war ihre Stimme inzwischen fest und klar. Sie war nicht dazu bereit, sich von meinem Kollegen runtermachen zu lassen. Trotz spiegelte sich in ihren violetten Augen. Sie starrte Flavio in Grund und Boden, bis dieser einen entnervten Ton ausstieß und sich abwandte.

    Ich bewunderte die Stärke, die Lynn an den Tag legte, doch ich wusste ebenso gut, dass das alles nur eine Farce war, um Flavio einzuschüchtern. Ihre Augen zuckten verräterisch. Ich kannte sie einfach zu gut. Sobald sie diesen Laden verließ, würde die Fassade, die sie so sorgfältig aufgebaut hatte, in sich zusammenfallen.

    Manche Dinge änderten sich einfach nie.

    »Ich bezahle«, sagte ich schnell, bevor die Situation noch weiter eskalieren konnte. Flavio sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an, doch das interessierte mich keineswegs.

    Stattdessen nahm ich nur wahr, wie Lynn ihren Becher nahm und mit schnellen Schritten das Café verließ.

    Das Klingeln des Glockenspiels hallte endlos in meinem Kopf wider.

    Lynn

    Ich hasse das.

    Ich hasse, hasse, hasse das!

    Dieses Unwissen, diese Ahnungslosigkeit. Ich verabscheute es zutiefst.

    Doch am meisten ärgerte ich mich über mich selbst. Über meine Unfähigkeit, in einem solchen Moment zu wissen, wie man am besten reagieren sollte.

    Ich könnte schwören, dass ich gestern erst den Inhalt meiner Geldbörse überprüft hatte, doch heute Morgen hatte ich lediglich ein paar Cents vorgefunden, die ich natürlich unmöglich dem Verkäufer in die Hand drücken konnte.

    Ich war wie gelähmt gewesen, als er mich beschuldigt hatte, die Zeche zu prellen.

    Ich war nicht in der Lage gewesen, mich zu bewegen, und hatte ihn angestarrt, als würde ich kein Wort von dem verstehen, was er sagte.

    Das hatte ihn offenbar nur noch wütender gemacht.

    Wäre Nic nicht dazwischengegangen … Ich wüsste nicht, wie die Situation ausgegangen wäre.

    Nic.

    Ich erinnerte mich zurück an das warme Gefühl, das mich durchströmt hatte, als er mir zur Beruhigung seine Hand auf den Rücken gelegt hatte. Als würde er mir damit zeigen wollen, dass er hinter mir stand. Erst als mir das bewusst geworden war, war ich dazu fähig gewesen, aus meiner Trance auszubrechen und Flavio die Stirn zu bieten.

    Schmor doch in der Hölle.

    Ich hielt immer noch den Kaffeebecher mit eisernem Griff

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