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Winter: Projekt III
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eBook493 Seiten7 Stunden

Winter: Projekt III

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Über dieses E-Book

Wohin gehst du, wenn es kein Zurück mehr gibt? Der Winter ist eingebrochen und hat vernichtet, was den Herbst überlebt hat. Niemals frei von der Klinik kämpft Caressa um ihr Überleben, während mit jedem neuen Tag ein weiterer Albtraum erwacht. Bald wird Caressa bewusst, dass sie schon lange keine Wahl mehr hat.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum31. Dez. 2021
ISBN9783347423251
Winter: Projekt III
Autor

Celina Weithaas

1999 geboren, schreibe ich Geschichten seit meinem fünften Lebensjahr. „Götterdämmerung-Verschwörung“ ist mein fünfzehntes veröffentlichtes Buch für meinen 13-Jahresplan und fügt sich als Auftakt der Götterdämmerungstrilogie wie die Poison-Trilogie, die Jahreszeitentrilogie, die Märchen-Dilogie, die Dämonentrilogie und die Mitternachtstrilogie ein in die Chroniken des Grauen Mannes. Ihr findet mich auf Instagram als @cels_fabelhafte_buchwelt und könnt mich kontaktieren, wenn ihr eine eMail an celinaweithaas13@gmail.com schreibt.

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    Buchvorschau

    Winter - Celina Weithaas

    Was bisher geschah

    Nach der Explosion eines Supervulkans zieht die Wolke auf. Sie absorbiert einen Großteil der Wärme und des Lichts. Unter ihr gedeihen Krankheiten und Kreaturen, die aus den Klauen einer ominösen Klinik entflohen sind.

    In diesem apokalyptischen Chaos erwacht Caressa ohne Erinnerungen. Bald schon trifft sie auf Jason, der mehr über sie zu wissen scheint als sie selbst, und Ronan, an den sie ihr Herz verliert.

    Unglückliche Umstände treiben Caressa, Ronan und Jason zurück in die Klinik, in der sie einst aufgewachsen sind. Hinter den gut geschützten Mauern kommt Caressa den Geheimnissen der Klinik und der Apokalypse mehr und mehr auf die Spur. Mit jedem neuen Schrecken kehren neue Erinnerungen zurück. Auf dieser Reise durch die Wirren der Klinik muss Caressa herausfinden, wem sie vertrauen kann.

    Ehe sie Sicherheit hat, kollabiert die Klinik und spuckt Caressa erneut aus in den Gefilden der Apokalypse.

    Es ist Winter geworden. Erneut zählt nur eines: überleben.

    1

    Lucindas Albtraum weckt mich. Resigniert lege ich den Unterarm über meine Augen und atme tief durch, warte darauf, dass ihre Schreie abbrechen und endlich die verdiente Stille zurückkommt.

    Sieben Sekunden vergehen. Momente, in denen sie um Corells Leben schreit. In denen sie seinen Vater verflucht. Dass mit dem Verschwinden ihrer Kette der Herbst eingeläutet wurde? Dann verwandelt der gellende Schrei sich in ein Schluchzen und schließlich in ein gedämpftes Wimmern. Blinzelnd öffne ich die Augen. Cathrin plustert das Gefieder auf und wirft mir einen Blick zu, als wollte sie sagen: „Na, schon wieder die Ohrstöpsel vergessen?" Ich verabscheue diesen Vogel.

    Stöhnend wälze ich mich auf die andere Seite und sehe in die schwelenden Überreste des Lagerfeuers. Schwarze Reste von Holz strecken sich flehend in meine Richtung, verkohlte Finger, die verzweifelt versuchten, ihrem Schicksal zu entfliehen.

    Der Qualm lässt mich die Nase rümpfen, ist zu beißend und zu rau in meinem Hals, ließ mich schon viel zu oft würgen. Manche Äste, die wir über Nacht verbrannten, stanken genug, dass ich mich fragte, wie viele Menschen mit ihnen bereits gepfählt wurden. Oder welcher andere unangenehme Nebeneffekt den bitteren Gestank verursachte.

    Cathrin fiept laut und lässt mich die Lippen zusammenpressen. Sechs Stunden am Stück schlafen zu dürfen, ist zu viel verlangt. Entweder die Albträume quälen mich – schemenhafte Erinnerungen, Spencers Tod – oder Lucinda wacht schreiend auf. Wenn die Träume ruhen, taucht irgendwo in der Ferne ein menschenähnliches Wesen auf oder der Vogel hat Hunger. Je zäher sich die Kälte zieht, desto häufiger ertappe ich mich bei dem Wunsch, dass er doch einfach mit seinen Geschwistern gestorben wäre. Durch den Rauch spähe ich zu Lucinda hinüber. Sie hat sich aufgesetzt und starrt an den Horizont, wartet darauf, dass die Sonne aufgeht. Ihr Atem pufft deutlich in der Luft, schützend hat sie die Arme um sich geschlungen.

    „Geht es wieder?", wispere ich. Bei dem Klang meiner Stimme fährt sie zusammen. Hektisch sieht sie sich um. Lucina braucht ein paar Augenblicke, um zu erkennen, dass ich sie durch den brennenden Qualm hindurch mustere. Sie entspannt sich leicht.

    „Klar. Ich bin jetzt ja wach." Man muss sie nicht gut kennen, um zu wissen, dass sie lügt. Wir leiden alle unter dem Schlafentzug, der Kälte, der Sorge, den nächsten Morgen nicht zu erleben, aber niemand von uns macht Dracula eine ähnliche Konkurrenz wie sie. Die Augen sind dauerhaft gerötet, ebenso die Nase, die dunklen Augenringe sind zu Blutergüssen geworden. Am Unheimlichsten ist, dass keiner dieser Makel sie nur eine Nuance von ihrer umwerfenden Schönheit einbüßen lässt.

    „Wieder Corell?"

    Ihre Antwort ist ein abgehacktes Schulterzucken. Kurz zögert sie, ehe sie sich auf die Seite legt und ebenso wie ich blinzelnd in die Überreste des nächtlichen Feuers starrt.

    Der eisige Wind hat sich gelegt. Seitdem wir die Klinik verlassen haben, ist er erstorben. Stattdessen ist die Kälte noch intensiver geworden. Ohne den Mantel hätte ich die erste Nacht nicht überlebt und selbst mit ihm, zittern und zucken meine Muskeln in nahezu jeder Minute. Käme auch nur die sanfteste Brise auf, vermutlich würden wir auf der Stelle erfrieren.

    Vor ein paar Tagen sind wir an dem einst tobenden Meer vorbeigewandert. Die Wellen peitschen nicht mehr gegen die Felsen. Sie sind in der Bewegung erstarrt, bilden eine einzige, glänzende, undurchdringliche Ebene, verwirrt und zerschlagen, die jede Bewegung, die das Meer je gemacht hat, einfängt, bis die Tage wieder wärmer werden und es Organismen möglich gemacht wird, weiter zu leben.

    „Ihm geht es gut", versuche ich Lucinda halbherzig zu beruhigen. Der Vogel hüpft aus Jasons halb geschlossener Hand heraus und verschwindet in meiner Jackentasche. Ich spüre ein sanftes Schütteln an meiner Hüfte, ehe er sich gegen meinen Körper drückt.

    „Woher willst du das wissen? Du hast ihn dort zurückgelassen. Vermutlich ist er einfach verbrannt oder erstickt." Es würde mich wundern, wenn die Katastrophe der Klinik den Ort erreicht hat, wo sie programmiert wurde. In den Gängen ist Corell vermutlich am sichersten. Der Komplex wird tot sein, alles was über der Erde liegt, aber das Labyrinth aus Korridoren war zu groß und verzweigt, als dass ein Knopfdruck genügen würde, um sie gänzlich zu vernichten.

    Wenn Corell in diesem Raum geblieben ist, stirbt er am ehesten an seinem Irrsinn oder Langeweile.

    „Er hat mir gefühlt hundert Mal gesagt, dass er zurückkommt. Das hätte er nicht getan, wenn er sich seines Todes so sicher gewesen wäre", murmle ich.

    Lucinda schnaubt abfällig und zieht sich den Schlafsack unter das Kinn. Ihre Lippen sind aufgesprungen, leicht blutig. Ich kann nicht behaupten, dass mein Zustand besser wäre als ihrer.

    „Könnt ihr versuchen, etwas leiser zu sein?, murmelt Jason neben mir. „Der Tag wird so oder so lang. Noch im Halbschlaf streckt er die Hand nach mir aus. „Du solltest schlafen." Vermutlich.

    Er gähnt und rollt sich zu einer Kugel zusammen, schützt Arme und Beine so gut es geht vor den unbarmherzigen Temperaturen. Für eine heiße Dusche würde ich einen Mord begehen.

    Nachdenklich betrachte ich Jason. Die Falten haben sich tief in seine Stirn gegraben. Er scheint sich jeden Atemzug über seine eigenen Rätsel den Kopf zu zerbrechen, sagt aber nie, welche Ideen er hin und herwendet. Manchmal frage ich mich, ob seine Persönlichkeit zeitweise durch Jonathans ausgetauscht wird und ich es bloß nicht bemerke.

    Hier draußen, ehe wir die Klinik betraten, lernte ich ihn als einen sehr redseligen Menschen kennen. Nun ist er es, der am häufigsten schweigt. Oft betrachtet er still den Vogel, versucht ihn irgendwie mit Nichts und wieder Nichts über Wasser und am Leben zu halten. Es bringt mich um zu sehen, dass er Teile seines dringend benötigten Essens an ein Tier abtritt, das den Winter ohnehin nicht überstehen wird.

    Manchmal glaube ich, dass Cathrin ein Symbol der Hoffnung für ihn ist, eine Chance diese eisige Zeit zu überstehen. Wenn dem so ist, sollte er sich eine hoffnungsvolle Alternative suchen, bevor der Vogel stirbt.

    Lucinda bleibt wach, genau wie ich, beobachtet die Sonne, wie sie versucht, aus der Welt von Nebel und Schatten emporzusteigen und sich als Königin über sie zu erheben. Wir schweigen beide, geben den beiden Jungen den Schlaf, den sie dringend benötigen. Ronan ist erschöpft genug, damit weder Lucindas Schreie noch unser leises Gespräch ihn geweckt haben. Manche Nächte schläft er so fest und tief, ich war mehr als einmal davon überzeugt, dass er gestorben ist. Als einziger verzichtet er auf einen Schlafsack in der Nacht, trägt nur den Mantel, der im Moment keiner Menschenseele genügen sollte.

    Lucinda und Jason machen sich wenig Sorgen um ihn. Seine Fähigkeit hält ihn selbst unter diesen lebensfeindlichen Bedingungen am Leben.

    Und ich? Selbst wenn ich Bedenken hätte, gäbe Ronan mir keine Gelegenheit, sie zu äußern. Wir haben kaum ein Wort gewechselt seit der Nacht, in der wir uns so ziemlich alles an den Kopf geworfen haben, über das wir hätten schweigen sollen. Nur im absoluten Notfall spricht er mit mir. Ich kann nicht behaupten, dass mich das in einem übermäßigen Maß stört.

    Wir sind zurück in den Fängen der Wolke. Es ist besser, wenn man sein Herz an so wenig wie möglich hängt.

    Selbst wenn Jason mir nicht anvertraut hätte, dass er einen Großteil der Zeit nach der Apokalypse in der Klinik verbracht hat, hätte ich es spätestens an seiner Liebe zu dem Vogel bemerkt. Niemand, der bereits zwei Jahre unter der Wolke überlebt hat, würde sein Herz an so etwas Sterbliches, Fragiles wie einen Vogel hängen. Mit etwas Glück ist er Nahrung. In diesem Fall würde der Vogel zumindest einen letzten Nutzen erfüllen.

    Würde einer von uns Cathrin anrühren, wäre er tot. Vermutlich mit Recht.

    Ein Gutes hat es, dass ich wieder unter freiem Himmel bin: Die Erinnerungen sind in wachen Momenten versiegt. Als hätte ich mit der Tür zu dem Gebäudekomplex auch die zu meiner Vergangenheit geschlossen. Ich kehre zu meiner geliebten Ruhe zurück, kann verarbeiten, was ich gesehen habe in dieser Zeit und mich auf all das konzentrieren, was mir bevorsteht. Was es auch sein mag. Dieser Fokus auf das Heute schärft den Blick fürs Wesentliche. Glaube ich zumindest.

    Ein verspätetes Knacken des bereits toten Holzes und Lucinda zuckt zusammen. Sie kaut auf ihrer Lippe, wie so oft. Ihr Zeichen von nagender Nervosität. Für sie ist das alles neu. Man hat ihre Zeit vor dem Kollaps pausiert. Jetzt habe ich wieder auf Play gedrückt und sie wird auf ein Feld gestellt, an dessen heruntergekommenen Zäunen man noch immer die verblichenen Überreste von ganzen Kuhherden erahnen kann.

    Als sie die Auswirkungen der Wolke das erste Mal gesehen hat, brach Lucinda in Tränen aus. Inzwischen nimmt sie die Streifzüge der Apokalypse stoisch hin.

    Hin und wieder, wenn ich mitten in der Nacht aufwache, kann ich sie beim Beten beobachten. Ihre Lippen formen stille Worte, während ihre Finger fest aneinandergepresst sind.

    Jeder hat in diesen Zeiten etwas, an dem er sich festhalten muss. Bei Jason ist es der Vogel, bei mir ist es mein Starrsinn. In Lucindas Fall ihr Glaube. Zu gerne wüsste ich, was es für Ronan ist. Der Wunsch nach Rache?

    Keine unmögliche Erwägung. Manchmal dreht er sich zu mir um und die Blicke, die er mir zuwirft, sind so voller Hass, dass ich es für unmöglich hielte, dass er mich jemals geküsst hat, wenn die Erinnerungen daran nicht noch frisch wären.

    Cathrin plustert in meiner Tasche wieder das Gefieder auf, drängt sich noch enger an mich. Selbst in meinem Mantel wird sie nicht die Wärme finden, die sie braucht.

    Seufzend ziehe ich sie aus der Tasche. Viel zu laut fiept sie in den anbrechenden Tag hinein, breitet Beinchen und Flügel aus, um sich festzukrallen. Ich lasse das nicht zu, ignoriere ihre verzweifelten Versuche, ziehe meinen Schlafsack bis zu meinem Hals und lasse sie hineinspazieren. Den Mantel öffne ich.

    Gedämpfte Proteste folgen, das tastende Pieken in alle Richtungen, ehe sie eine Innentasche findet und sich dort niederlässt.

    Wieder ein Aufplustern, dann gibt sie endlich Ruhe und ich atme auf.

    „Du hast den Vogel lieber, als du zugeben würdest", stellt Lucinda fest. Ihre Blicke haften auf mir.

    Ich zucke die Schultern. „Corell meinte, wenn die Vögel aufhören zu singen, sind wir alle tot. Es ist wohl am besten, wenn man die Lebensversicherung am Körper trägt."

    Sie verzieht abfällig die Lippen. Ein dünnes Blutrinnsal tropft ihr auf das rissige Kinn. „Es ist schrecklich, wie pragmatisch du geworden bist. Ihr leises Seufzen gefriert in der Luft. „Nachdem ich das hier aber gesehen habe, kann ich es dir kaum verübeln. Zwei Jahre geht das jetzt schon?

    „Nahezu." Ein bisschen weniger, wenn ich mich nicht verzählt habe. Aber diese zwei, drei Monate machen auch keinen Unterschied zum Endresultat. Man findet noch weniger Leben als zu dem Zeitpunkt, als wir die Klinik betraten. Ich bin davon überzeugt, dass diejenigen, die sich hier noch verkriechen, böser sind als alles, was ich bereits habe in den Tod laufen sehen.

    „Das Schlimmste ist, dass es kein Grün mehr gibt, flüstert Lucinda. „Es sieht alles so unglaublich tot aus. Das ist es. Die Wesen, die die größte Population bilden, sind hirnlose Monster, die die Ähnlichkeit zu den Menschen, die sie einmal waren, mit jedem Tag ein Stück mehr verlieren. Hat das Virus sie lange genug in seinen Fängen, frisst es ihre Haut und lässt die Überreste in Flocken zu Boden regnen. Die Knochen werden angegriffen, das Gehirn restlos zerstört. Nach und nach tötet das Virus seinen Wirt mit menschlicher Raffinesse.

    Es wird erst verschwinden, wenn es kein Leben auf Erden mehr gibt. Wie lange also noch? Ein Jahr? Weniger?

    „Warte nur, bis du dem ersten Untoten über den Weg läufst, murmle ich. „Sie sind das Skurrilste, das du dir ausmalen kannst.

    Sie runzelt die Stirn und schnieft leise. „Dann möchte ich sie gar nicht sehen." Aber das wird sie. Es ist ein Wunder, dass wir in den frierenden Ewigkeiten, die wir bereits durch diese Ödnis wandern, während wir versuchen Abstand zu der Klinik zu gewinnen, auf keinen von ihnen gestoßen sind. Auf keines dieser lechzenden Geschenke der Klinik. Ja, wir meiden die Wälder wie die Pest. Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem uns das nicht mehr möglich sein wird, und dann Gnade uns Gott. Die Untoten waren bereits ausgehungert, als ich sie das letzte Mal sah. Inzwischen gibt es noch weniger Leben, das sie vernichten können. Sie werden sich auf alles stürzen, das sich auch nur in ihre Nähe begibt.

    Die Narbe an meinem Daumen, ein exaktes Abbild eines Gebisses, ist eine Mahnung an mich, es nicht auf ein weiteres Zusammentreffen ankommen zu lassen.

    Zwanzig Meter hinab in ein tobendes Meer zu springen, mag verrückt sein. Zehn Meter nach unten auf eine Eisschicht zu stürzen, tödlich.

    Ich habe nicht so viel durchgemacht, damit Untote mir die Kehle herausreißen.

    „Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Du brauchst den Schlaf." Das tue ich tatsächlich.

    Ich hebe die Schultern. „Man gewöhnt sich daran." Viel zu gern würde ich ihr die Situation zum Vorwurf machen. Dass sie Nacht um Nacht um Corell schreit, aber allein der Gedanke daran, dass ich einen von beiden, Ronan oder Jason, in der Klinik hätte zurücklassen müssen, bringt mich um den Verstand. Was, wenn Corell sich verkalkuliert hat? Ich traue der Klinik zu, dass sie alles dafür tut, damit er sie zu uns führt. Sie würden ihn dafür foltern. Sie würden in seinen Verstand kriechen. Sie würden ihn zerreißen. Die Klinik kennt keine Gnade.

    Prüfend sehe ich Lucinda an. Träumt sie davon? Dass die Ärzte Elektroschocks durch ihn hindurch jagen, bis das Blut in seinem Körper kocht und er unter Tränen um Gnade fleht? Sieht sie seine Schmerzen?

    „Es ist nur so schwer, wispert Lucinda. „Ich war mir immer sicher, dass, wenn etwas Schreckliches geschieht, er an meiner Seite steht. Aber hier bin ich und er ist nicht da und ich habe keine Ahnung, was mit ihm gemacht wird. Bitter lächle ich. Die Ungewissheit ist ihre Folter. Diese Ungewissheit, die nicht die Klinik ihr aufgelegt hat. Sondern Corell. Aus freien Stücken.

    „Du hast auf mich nicht den Eindruck gemacht, als würdest du an irgendwem hängen."

    Lucinda zuckt zusammen, schnieft wieder leise. „Corell ist ja auch nicht irgendwer. Das zwischen uns war so ähnlich wie bei Jason und dir. Kurz schweigt sie. „Das war kein Witz, als Jason mir erzählt hat, dass du dich nicht an das Leben in der Klinik erinnerst, bevor die Wolke aufgezogen ist, oder? Du hast wirklich keine Ahnung. Ich verlagere das Gewicht, immer darauf bedacht, den Vogel nicht zu verletzen. Er rührt sich nicht mehr. Entweder er ist tot oder schläft endlich.

    „Das, was ich über Ronan und Jason gesagt habe, das war eigentlich ein halber Scherz, flüstert Lucinda. „Vor allem das über Jason. Klar, er ist so, wie ich es dir beschrieben habe, aber es hat dich nie gestört. Du wärst für ihn durch die Hölle gegangen, ebenso wie er für dich.

    Da irrt sie sich. Bereits vor der Wolke habe ich mit seinem besten Freund rumgeknutscht. Das ist die einzige Aktion, an die ich gern mehr Erinnerungen hätte. Eine Art von Kontext. Aber die Momente werden mir verwehrt. Ronan und Jason sprechen nicht darüber. Sieht ganz so aus, als würde ich nie erfahren, warum ich diesen Keil zwischen die beiden getrieben habe.

    „Es ist eh egal, murmle ich. „Andere Dinge sind wichtiger. Lucinda widerspricht nicht.

    „Wir müssen bald weiter. Die Sonne geht auf." Das Beunruhigende ist, dass mit dem Sonnenaufgang die Temperaturen nicht steigen. Es kommt mir vor, als befände sich eine dichte Glasschicht zwischen der Sonne und uns. Das Glas absorbiert die Hitze und über uns regiert die Eiseskälte.

    „Ich will noch nicht gehen", flüstert Lucinda. Die Sorge steht ihr in die großen, mattblauen Augen geschrieben. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass ich sie nicht verstehe, aber es ist vernünftiger, in Bewegung zu bleiben, als für immer eingekuschelt in dem Schlafsack zu liegen. An diesem Feuer werden die Vorräte nur immer knapper und der Kreislauf kommt auch nicht in Schwung.

    Ich ignoriere Lucinda und drehe mich zu Jason um, tippe ihm gegen die Schulter. Seine Augen fliegen auf. Bewegungslos lässt Jason den Blick über sein nahes Umfeld wandern, dann dreht er den Kopf in meine Richtung. Seine Schultern sacken nach unten und er atmet erleichtert aus.

    „Was ist los?" Er blinzelt sich den Schlaf aus den Augen. Wortlos deute ich gen Horizont. Die Sonne ist inzwischen als Ganzes zu erkennen, in einem düsteren Orange gemalt, während sie schwerfällig das Himmelszelt hinaufsteigt.

    Seufzend setzt Jason sich auf und erstarrt. „Wo ist Cathrin?" Er ist schneller auf den Füßen, als ich ihm antworten kann. Panisch geht er ein paar Schritte. Der Schlafsack fällt raschelnd zu Boden. Die Hände fahren in seine Taschen. Ich höre das leise Rascheln von Papier.

    „Caressa, hast du sie gesehen? Sie kann nicht weggelaufen sein, sie muss irgendwo hier sein. Kannst du in deinem Schlafsack nachsehen?"

    „Sie schläft in meiner Tasche. Ihr ist kalt geworden." Jason öffnet den Mund und schließt ihn, ohne einen Ton hervorzubringen.

    Lucinda seufzt leise. „Einigt euch doch einfach darauf, wer das Sorgerecht bekommt, dann gibt es diesen Stress nicht mehr."

    Ich werfe ihr einen mörderischen Blick zu. „Sie ist zu mir gekommen. Ich wollte das nicht."

    Lucinda hebt wegwerfend die Schultern und neigt sich zu Ronan. Bei ihm genügt es nicht, ihn einmal anzustupsen. Lucinda schüttelt ihn fünf Mal mit ganzer Kraft, damit er blinzelnd die Augen öffnet und einmal herzhaft gähnt. Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Ronans Sinne sind geschärft. Waren geschärft. Ist es möglich, die Fähigkeiten nach und nach einzubüßen?

    „Ist es schon wieder hell?", murmelt er.

    „Gibst du mir Cathrin wieder?, bittet Jason mich leise. „Ich muss sie füttern.

    Mir wird nie begreiflich werden, was Cathrin nun genau für ihn ist, dass Jasons erster und letzter Gedanke ihr gilt, aber ich widerspreche nicht, sondern ziehe den schlafenden Vogel wortlos aus meinem Mantel. Sie hat das Köpfchen unter dem Flügel mit dem orangen Tupfen vergraben und zieht ihn nicht einmal dann hervor, als Jason sie behutsam in seine eigene Innentasche bettet.

    „Danke."

    „Keine Ursache." Die Spannung zwischen uns ist greifbar. Beim besten Willen, ich kann nicht bestimmen, ob es eine gute oder eine schlechte ist. Mit Jason habe ich einige Worte mehr gewechselt als mit Ronan. Was auch immer das zwischen mir und Jason ist, bleibt zu kompliziert, als dass wir es auf der Flucht vor dem Kältetod klären könnten.

    „Komm, steh auf, wir müssen weiter", wiederholt Lucinda. Ich höre ein leises Schnaufen, als Ronan sich auf seine Füße kämpft. Die Lippen, nein, seine gesamte Haut ist bläulich. Er müsste längst tot sein. Aber der Junge klopft sich sorglos den Staub von der Kleidung und verschränkt die Arme vor der Brust.

    „Na dann, packt mal euer Zeug zusammen." Erwartungsvoll sieht er in die Runde, meidet meinen Blick. Ich kann es ihm nicht verübeln.

    Die Schlafsäcke werden zusammengerollt und in den Rucksäcken verstaut. Mit einem leisen Zurren werden sie geschlossen. Ich werfe mir meinen über die Schultern und ziehe die Gurte etwas fester, ehe ich mich daran festhalte.

    „Bereit für den Aufbruch?", fragt ausgerechnet Lucinda. Ich sehe zu Jason. Er hat den Blick bereits zum Horizont gerichtet.

    „Hoffen wir einfach, dass es heute etwas wärmer wird."

    Ronan quittiert Jasons Aussage mit einem abfälligen Lachen, ehe er sich in Bewegung setzt und vorangeht. Wir folgen ihm, nicht als wüsste er den Weg, sondern als wäre er der einzige, der die Kraft und Motivation hat, ins Ungewisse zu laufen. Nichts ist ermüdender als das Wissen, mit Sicherheit niemals irgendwo anzukommen.

    2

    Keuchend beugt sich Lucinda über den Rand der Klippe. Fast befürchte ich, dass sie fällt, aber der Wind gibt Ruhe, während sie das Kunstwerk des Winters bewundert. „Das ist unglaublich. Es ist der gleiche Anblick, der die gesamte Welt überrollt zu haben scheint. Weiße Böen, die im Wind stehen, das Eishaar gen Himmel gekämmt und die Zähne gefletscht. „Kommt her, das müsst ihr euch ansehen. Ronan. Sie dreht sich zu ihm um und winkt. Ein aufgekratztes Funkeln liegt in ihrem Blick. Seufzend vergräbt Ronan die Hände in den Jackentaschen und gesellt sich zu ihr, späht über die Kante.

    „Was zur Hölle ist das?"

    „Keine Ahnung. Aber es ist unglaublich." Es ist das erste Mal seit vielen Tagen, dass Ronan sich zu mir umdreht und mich direkt ansieht.

    „Hast du eine Ahnung, was das sein könnte?" Nein. Ich sehe es nicht und mein Wunsch, sich dieser Kante zu nähern, befindet sich im einstelligen Bereich. Sollte ich aus irgendeinem Grund abrutschen, der Stein unter mir nachgeben oder ein unerwartetes Beben durch den Boden gehen, würde ich stürzen und dieses Mal gäbe es kein Wasser, das mich auffangen könnte. Ich habe mir geschworen, einer solchen Felswand nie wieder zu nah zu kommen. Sie birgt den Tod.

    Jason lässt mir keine Wahl. Während er sich zu den anderen beiden begibt, zieht er mich mit sich. Fluchend folge ich ihm, stolpere dabei über meine eigenen Füße.

    Es sind nur vier Meter bis zum gellenden Abgrund. Als Jason und ich sie überbrückt haben, blickt Ronan auf das erstarrte Meer. Jason lässt meine Hand selbst dann nicht los, als wir den Rand erreicht haben und hinab in die eisigen, ewigen Fluten blicken.

    Was sich dort auftut, direkt vor uns, entzieht sich meinem Verständnis. Luftblasen schlängeln sich den eisigen Wolken entgegen, zu Teilen gigantisch groß, als wären sie mitten in der Bewegung eingefangen worden. Verschwommen glaube ich darin Lebewesen zu erkennen. Untote? Die Haut wirkt unversehrt, das Rückgrat verbogen. Eine Art Fisch? Fische benötigen Wasser zum Atmen und Feuchtigkeit? Scheint aus diesen Blasen verpufft zu sein.

    „Wie Käfige", spricht Lucinda meine düstersten Gedanken aus. Ich presse die Lippen fest aufeinander.

    „Ja, und was auch immer da drin ist, sollte es noch leben, will ich ihm auf gar keinen Fall begegnen", sage ich. Ronan gibt ein zustimmendes Geräusch von sich. Begibt sich wie hypnotisiert noch näher an die Kante. Er zieht die Gurte seines Rucksacks fester und lehnt sich nach vorn.

    „Wehe dir. Wehe du springst da runter." Die Worte sind schneller raus, als ich sie überdenken kann.

    Stirnrunzelnd sieht er mich an. „Ich springe da doch nicht runter. Er schüttelt leicht den Kopf, als hätte ich den Verstand verloren. „Ich klettere. Dabei ist er es, der seine Sinne nicht mehr beisammen hat.

    „Das tust du nicht."

    Ronan zieht eine Augenbraue nach oben und schwingt sich in sein eigenes Verderben. „Du musst ja nicht mitkommen."

    „Werde ich auch nicht." Ich bin doch nicht bescheuert. Das letzte, was ich von ihm sehe, ist ein gleichgültiges Achselzucken, ehe er an der Wand verschwindet. Ungläubig drehe ich mich zu Jason um.

    „Was, wenn das Eis nicht dick genug ist?"

    Er kratzt sich ratlos am Kopf. „Dann werden wir es vermutlich gleich wissen."

    Jason macht keine Anstalten, Ronan zu folgen und ich kämpfe mit mir, um jeden selbstmörderischen Impuls im Keim zu ersticken. Das gelingt mir mäßig. Ronan und ich waren nicht lange gemeinsam unterwegs, aber selbst als wir uns noch nicht kannten, bin ich hinter ihm hergesprungen. So ändern sich die Dinge. Manchmal heilt die Zeit keine Wunden. Sie reißt sie auf und verlangt Kompromisslosigkeit.

    Schnaubend lasse ich mich in einen Schneidersitz sinken und sehe zum Horizont. Gebe vor, dass Ronan nicht jeden Moment das Meer betreten wird. Was, wenn die Eisdecke bricht? Er würde erfrieren und wenn nicht, dann ertrinkt er. Und ich könnte ihm nicht helfen. Ich wäre hier oben und bräuchte einige Minuten, um zu ihm zu kommen. Die könnten entscheidend sein. Selbst für ihn.

    Mühsam schüttle ich die irrationale Sorge ab.

    „Also, es ist mir egal, was ihr macht, aber ich gehe da runter", setzt Lucinda uns in Kenntnis. Eine sanfte Brise zupft an ihrem langen, blonden Haar.

    Ich rümpfe die Nase. „Denkst du wirklich, dass das so clever ist? Corell hat mich gebeten, dir zu sagen, dass du auf dich aufpassen sollst."

    Sie strafft die Schultern und funkelt mich an. „Corell ist nicht hier, oder? Vermutlich ist er nicht einmal mehr am Leben. Du kannst mich also ruhigen Gewissens nach unten steigen lassen." Nein, kann ich nicht. Wenn ihr etwas geschieht, dann habe ich Schuld daran. Ich habe Corell versprochen, dass ich auf sie achtgebe. Ein unmögliches Unterfangen, solange ich hier oben sitze.

    Frustriert verschränke ich die Arme vor der Brust und sehe zu Jason auf.

    „Ich gehe da nicht runter", sage ich stoisch.

    Seine Lippen verziehen sich zu einem kleinen Lächeln. „Auch nicht, wenn ich hinter dir bin?"

    Ich schüttle den Kopf. Je faszinierender der Anblick, desto tödlicher ist das, was er verbirgt. „Ich klettere nie wieder so eine Felswand nach unten. Außerdem habe ich mit den Handschuhen überhaupt kein Gefühl in den Fingerspitzen. Was, wenn ich abrutsche? Das könnte mir alle Knochen brechen. Und wenn meine Wirbelsäule gesplittert ist? Was dann? Dann liege ich wie ein zappelnder Fisch auf dem Trockenen." Wütend komme ich auf die Füße und sehe nach unten. Ronan steht kurz davor, die Oberfläche zu erreichen, Lucinda trotz des verspäteten Starts dicht hinter ihm. Sie bewegt sich an der Wand, als wäre sie eins mit ihr. Geisterhaft elegant.

    „Ich gehe da nicht runter", wiederhole ich.

    Jason seufzt und stellt sich neben mich. „Warum habe ich nur das ungute Gefühl, dass du dich selbst davon überzeugen musst." Ich beiße mir auf die aufgesprungenen Lippen. Sofort schmecke ich neues Blut, als alte Wunden aufreißen.

    „Denkst du, das Eis hält sie?"

    Ronans Fuß berührt es, kurz zögert er, dann lässt er sich mit seinem gesamten Gewicht darauf nieder. Ich erwarte ein lautes Knacken, das sich über den gesamten Ozean zieht und tausendfach von der kalten Luft verstärkt zu uns zurückhallt. Ein gigantischer, brechender Knall, der in den Ohren schmerzt wie der Frost auf der Nasenspitze.

    Stille. Selbst von hier aus kann ich erkennen, wie Ronan die Schultern sinken lässt. Lucinda springt sorglos neben ihn und lehnt sich nah über die Luftblase direkt unter ihren Füßen.

    „Was, wenn sie Hilfe von oben brauchen? Flehend sehe ich Jason an. „Verdammt, kannst du mir nicht einfach sagen, dass es am vernünftigsten ist, wenn ich da nicht runter gehe?

    Er seufzt schwer und nimmt mir die Entscheidung ab. Mit einer katzenartigen Eleganz, die ich bereits in den Gängen der Klinik gelernt habe an ihm zu bewundern, schwingt er sich an den Felsen und lässt sich mit sicheren, zügigen Bewegungen nach unten hinab.

    Schaudernd schlinge ich die Arme um mich. Wenn ich allein oben bleibe, ist das gefährlicher, als wenn wir gemeinsam auf dem zugefrorenen Meer stehen, das jeden Moment aufbrechen könnte. Das sich jede Sekunde als neue Falle der Apokalypse entpuppen könnte. Ich meine sie hämisch kichern zu hören.

    Fluchend gehe ich in die Hocke und schimpfe über mich selbst, als ich an den Händen baumelnd zehn Meter über der Oberfläche hänge. Mir jeden Pfund meines Körpers übermäßig bewusst, suche ich einen Punkt, der mir die Last von meinen Armen nehmen kann. Als mein Fuß eine Nische ertastet, atme ich erleichtert auf. Von da an befinde ich mich an einem rauen Duplikat einer Kletterwand. Nachgreifen, dehnen, Gewicht verlagern, strecken. Ein Ablauf, der sich unter der Wolke in jede meiner Fasern gebrannt hat.

    Hinter mir höre ich einen dumpfen Aufprall, als Jason das Eis betritt.

    „Was zur Hölle?", murmelt er. Ich lande neben ihm und drehe mich, dicht an der Wand, um mich jederzeit ans sichere Land retten zu können, zu den anderen um. Die Gestalten, die sich in Zeitlupe unter meinen Füßen bewegen, treiben mir den Atem aus den Lungen. Ich schnappe nach Luft.

    „Ist das ein Mensch?" Die Antwort auf meine schwachsinnige Frage ist offensichtlich. Nein, ist es nicht. Unter mir befindet sich eine kriechende Leiche. Und ich kenne das Gesicht, ebenso wie die unter ihm, die sich Stück für Stück aufreihen. Grausige Perlen an einer unsichtbaren Kette.

    „Sie sind tot, kein Grund zur Panik." Ronan klingt abfällig. Als ich ihn ansehe, spiegelt sich in seinen Augen meine Angst. Diese Blasen erinnern an Kühlschränke. Sie bewahren auf, was verloren und verrottet gehört.

    Ich sehe ihn ungläubig an. „Dann erkläre mir bitte, wie seine Hand gerade zucken konnte." Ronan schweigt. Er kniet sich auf das Eis und lässt die Finger Millimeter über der matten Schicht schweben. Ein Zauberer, der seinen größten Fluch beschwört.

    „Fass das bloß nicht an, sagt Lucinda. „Vielleicht wachen sie dann auf. Sollten sie sich aus ihrer Starre befreien können, hat sie das Betreten der Fläche bereits aus ihrem eisigen Schlaf gezogen.

    Jeder von ihnen sollte tot sein. Das wäre die gerechte Strafe gewesen.

    Aber sie sind alle hier, all die Kannibalen, deren Gesichter mir vage in Erinnerung geblieben sind, stehengeblieben in der Zeit. Von den Meeresfluten an einen Ort gespült, Kilometer von ihrer verrotteten Stadt entfernt. In ihrer Gegenwart schrie ich mir die Seele aus dem Leib, während Panik mich zerfraß. In ihrer Gegenwart verzweifelte ich, während ihre zuckenden Körper über mir um Leben kämpften. Ich schmecke das verdorbene Salz des Meeres.

    Es ist, als lachte mir die Apokalypse ins Gesicht. Sie sollten tot sein. In ihre Einzelteile zerlegt. Ich fühle mich betrogen, so unglaublich betrogen, als ich auf die ausdruckslosen Gesichter der Kannibalen hinabsehe. Mit jeder verdorbenen, widerlichen Seele werden sie kleiner. Puppen in einem endlosen Spiegelkabinett.

    Ronan schüttelt langsam den Kopf und betastet das Eis. „Es ist fest." Wir stehen darauf. Würde es jetzt einbrechen, wäre das ungünstig.

    „Was haltet ihr davon, wenn wir wieder hochklettern?" Flehend sehe ich sie an, einen nach den anderen. Keiner schenkt mir Aufmerksamkeit, sind viel zu fasziniert von den grausigen Kreaturen unter unseren Füßen. Gespenstische Erscheinungen. Man sollte doch meinen, dass die Haut begonnen hat zu faulen oder die Kleidung ihnen vom Leib gespült wurde, so zerrissen wie sie ist. Aber Wunden heilten und der Stoff blieb um ihre Körper, bewegt sich sanft in einem Windzug, den ich nicht spüren kann.

    „Das sind die Männer, die euch verfolgt haben, murmelt Jason. Ja, genau die. Er dreht sich zu mir um und sieht mir fest in die Augen. „Erinnerst du dich? An diesen Tag?

    „Fällt schwer zu vergessen, oder?" Meine Stimme klingt rau, voller Emotionen, die ich einfach nur verleugnen und begraben will.

    Er schüttelt den Kopf. „Das meine ich nicht." Jason konkretisiert seine Frage nicht. Die Antwort ist offensichtlich genug.

    „Hat irgendwer von euch eine Ahnung, wie das sein kann?" Lucinda blickt Ronan erwartungsvoll an.

    Er zuckt die Schultern. „Keine Ahnung. Ihr?"

    Jason fährt sich mit dem Handrücken über die bläuliche Nase. „Lasst uns das oben klären. Mir sind das zu viele Ohren in unmittelbarer Nähe." Es fühlt sich an, als würden sie uns durch den Boden hindurch belauschen. Womöglich tun sie es? Womöglich ist dieser eine Eindruck nicht meiner Paranoia geschuldet? Die bräunlichen Augen des Mannes unter mir haben sich auf uns geheftet. Scheinen uns zu durchbohren. Keine bewusstlose Person könnte einen derart intensiv taxieren.

    Ich warte nicht auf Lucindas oder Ronans Zustimmung, stattdessen ziehe ich mich den ersten Meter hinauf. Immer in Richtung Leben, fort von den zitternden und zuckenden Toten. Von den Schaufensterpuppen, die sich zu meinen Füßen bewegen. Das ist zu viel. Unter diesen Umständen beschütze ich niemanden, egal wie herzerweichend Corell mich angefleht hat.

    Der Stein schneidet durch den Stoff meines Handschuhs und weckt unangenehme Erinnerungen. Die an Schmerz, der sich irgendwann in ein Nichts von Taubheit verflüchtigt hat und nichts zurückließ als Leere, die mich nicht einmal bemerken ließ, dass ich bei lebendigem Leibe aufgefressen werde.

    Blut sickert mein Handgelenk hinab, während meine Muskeln sich auf nur zu bekannte Art und Weise bewegen.

    Als ich mich über die Kante schwinge, sind die drei noch immer dort unten und starren auf die Kannibalen, deren Zeit längst abgelaufen sein sollte. Die bleiche, von den Wolken gedämpfte Sonne ist das höhnische Auge der Apokalypse.

    „Kommt ihr?", rufe ich hinunter. Lucinda macht eine wegwerfende Geste in meine Richtung. Angespannt ziehe ich die Riemen meines Rucksacks fester und warte. Lausche in mein nächstes Umfeld aus Sorge, ein überlebenswichtiges Detail zu übersehen. Um mich herum knistert der Winter und ich dichte ihm Jäger an, Monster, Ungeheuer, mit denen ich es noch nicht aufnehmen musste.

    Die Stille macht mir mehr Angst, als es die Geräusche von schlurfenden Untoten täten. Einen Blick werfe ich über meine Schulter, vergewissere mich, dass dort wirklich rein gar nichts auf mich lauert. Dann sehe ich zurück zu meinen lebensmüden Weggefährten. Wenn die Apokalypse sie sich holt, wie hoch stehen meine Chancen, zu überleben? Allein. In dieser Eiswüste.

    Jason redet leise auf Lucinda und Ronan ein. Um sie zum Umkehren zu bewegen?

    Von hier oben habe ich eine hervorragende Sicht auf das Geschehen. Meine Rückenmuskulatur verkrampft sich. Ein zarter Riss zieht sich über die Meerdecke.

    Wenn Menschen sich auf Eis begeben, gibt es direkt unter ihrem Gewicht nach. Eine schöne Theorie, die in den meisten Fällen zutrifft. Es sei denn, die Eisplatte birgt erst weit in der Ferne ihre Tücken und durch die Vibration wurden die falschen Teilchen in Schwingung versetzt. Zitternd scheint der Riss sich näher zu kämpfen, Stück für Stück.

    „Ihr solltet euch umdrehen", rufe ich. Meine Stimme bricht.

    Jason zieht eine Augenbraue nach oben und deutet auf sein Ohr. Er hat mich nicht verstanden. Mein Herz beginnt zu rasen. Hilflos deute ich in die Ferne. Seine Blicke folgen meinem Finger. Jason sagt hastig einige Worte zu Ronan und Lucinda.

    Sie setzen sich in Bewegung. Erleichtert atme ich auf. Der Riss frisst sich tiefer.

    Ein lautes Klirren bringt mich aus dem Gleichgewicht. Eis verwandelt sich in Glas, klingt wie berstende Scherben. Durchdringend, splitternd. Mörderisch.

    Lucinda kreischt auf und rudert mit den Armen. Ronan ist ihr am nächsten, wirbelt herum, umfasst unsanft ihr Handgelenk und reißt sie zu sich. Ich höre Lucindas Knochen brechen. Sie schreit und Jason weicht an die Felswand zurück.

    Mir rauscht das Blut in den Ohren. Hilflos japse ich nach Luft. Lucinda baumelt halb in einer Luftblase. Das Gebilde ist geplatzt, saß ein Stück zu dicht unter der gefrorenen Oberfläche, besaß nichts, was diesem sich zu schnell nähernden Riss etwas entgegensetzen könnte. Blut läuft über ihre Wangen. Zarte Spuren werden hindurchgewaschen. Weint sie?

    Ronan versucht einen besseren Halt an Lucindas Handgelenk zu gewinnen. Ihr Körpergewicht zieht ihn langsam aber sicher selbst in das Loch.

    Jason ruft den beiden irgendetwas zu, drückt sich von der Wand ab und stürmt zurück zu ihnen.

    Adrenalin pumpt durch meine Adern. Ich will verschwinden. Mich dieser ausweglosen Situation entziehen. Die Beine in die Hand nehmen und nie zurückkehren. Vergessen, was geschehen ist, vergessen, was ich sehe. In den Blasen zappeln die Kannibalen.

    Atemlos drücke ich mich ab und mache mich an den Abstieg. Wenn sie auf mich gehört hätten, wäre das alles kein Problem gewesen. Wären sie nie nach unten gestiegen, wäre keine dieser Blasen geplatzt. Meine Hände würden sich nicht anfühlen, als hätte ich ein Feuer darin geschürt und kein Blut würde mir von den Ellbogen in den Mantel tropfen.

    „Bleib oben", schreit Jason mich an. Auf halber Höhe verharre ich und drehe mich um. Ronan klammert sich mit aller Macht an dem scharfen Rand der Blase fest und drückt sich selbst fort von ihrem gierigen Maul, während er alles daran setzt, Lucinda nicht fallen zu lassen. Mit beiden Händen umfasst sie seinen Arm, strampelt mit den Beinen. Sie brauchen mich. Wenn ich fortlaufe und sie sterben, bin ich tot. Jeden einsamen Wanderer wird die Apokalypse zerreißen. Ich ignoriere Jasons Anweisung.

    „Geh nach oben!"

    „Und dann? Sehe ich euch beim Sterben zu?"

    Seine Augen werden schmal.

    Lucinda schreit und tritt nach irgendetwas.

    „Wir brauchen dich oben, zischt er mich an. „Du musst sie aufhalten. Das kannst du nicht, wenn du in der Schussbahn stehst.

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