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Soulkeeper: Seine Küsse schmecken nach Blut
Soulkeeper: Seine Küsse schmecken nach Blut
Soulkeeper: Seine Küsse schmecken nach Blut
eBook411 Seiten5 Stunden

Soulkeeper: Seine Küsse schmecken nach Blut

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Über dieses E-Book

Du hast Angst, den Verstand zu verlieren, anima mia. Dabei gehört er bereits mir - genau wie der Rest von dir.

Als Juliana Zeugin eines Mordes wird, kann sie nicht glauben, dass ausgerechnet ihr attraktiver Mitschüler Rune dem Opfer das Blut ausgesaugt hat. Statt sie jedoch ebenfalls zu töten, lässt er sie nicht mehr aus den Augen und zieht sie immer tiefer in seine dunkle Welt. Denn er gehört zu den Soulkeepern - einer Gruppe untoter Seelenfresser, die geschaffen wurden, um die Menschheit vor den abtrünnigen Seelen zu retten, und denen lediglich eines fehlt, um die Welt zu zerstören: Julianas Blut.
Nun soll ausgerechnet Rune ihr nicht mehr von der Seite weichen, dabei dürstet es ihm nach weit mehr als ihrer Seele. Er möchte ihr Herz und Juliana weiß nicht, ob sie es vor ihm beschützen kann.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum22. Jan. 2024
ISBN9783910791220
Soulkeeper: Seine Küsse schmecken nach Blut

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    Buchvorschau

    Soulkeeper - Liz Rosen

    Kapitel 1

    Der Tod ist (k)ein gerechter Mann (Rune)

    Gegenwart

    „Er ist tot, richtig?"

    Klaras laute Schreie hallten in der kühlen Nacht wider. Die Laute scheuchten einen Schwarm Raben auf, die in der Nähe saßen und wiederholt ein Krächzen von sich gaben, ehe sie ihre Flügel ausbreiteten und verschreckt davonflogen. Das Geräusch der raschelnden Federn lenkte mich einen Moment von dem Körper ab, der zu meinen Füßen lag und für Klaras Ausbruch verantwortlich war.

    Gern wäre ich wütend auf sie gewesen, weil sie sich professionell verhalten sollte, doch ich schaffte es nicht. Ich war nicht weniger erschüttert als sie. Dieser Teil meiner Arbeit wurde nicht einfacher.

    Nie.

    Die Jahrhunderte zogen an uns allen vorbei, doch jeder Tag kam mir vor wie der letzte. Ich war den Kampf leid, genau wie den Schrecken der Welt, der sich mir offenbarte wie niemand anderem. Aber ich konnte ihm nicht entfliehen. Genauso wenig wie der Tatsache, dass wir schon wieder versagt hatten.

    Ich musste den Körper auf dem Boden nicht berühren, um zu wissen, dass er nicht mehr atmete.

    Mein Gehör hatte mir schon verraten, dass kein Blut mehr durch seine Adern strömte.

    Und hätte ich meinen Ohren nicht getraut, hätten mir meine Augen bestätigt, dass er unmöglich noch leben konnte. Der blasse Körper war von dunklen Arterien durchzogen, die ein schwarzes Geflecht unter der Haut bildeten, als hätte ihn jemand vergiftet. Sein Teint erinnerte an ein weißes Bettlaken, und sein weit gespreizter Mund leuchtete in einem blutigen Rot auf wie ein Warnsignal. Seine Lippen glänzten feucht, die Mundwinkel waren bis zu den Wangenknochen eingerissen und seine Eckzähne fehlten, sodass an ihrer Stelle große Löcher prangten.

    Wobei, das war nicht ganz richtig. Die Zähne waren da, lagen aber einen Meter vom Besitzer entfernt. Man hatte sie ihm gezogen. Einen nach dem anderen und sie einfach auf die Straße geworfen. Das Opfer musste entsetzliche Schmerzen gehabt haben, bevor es endlich sterben durfte. Sie hatten ihn gefoltert. Stunden-, vielleicht sogar tagelang und dann hatten sie ihn einfach irgendwo abgelegt. Auf offener Straße, als wäre er nichts als Müll.

    Ich schluckte bei dem Gedanken. Wahrscheinlich waren wir das für sie auch. Wertloser Müll.

    „Nicht so laut, Klara! Beruhige dich!", zischte ich ihr zu und beugte mich über die Leiche. Der Geruch nach Verwesung kroch mir in die Nase. Ich hielt die Luft an. Es stank nach verbranntem Fleisch und rostigem Eisen - beides Aromen, die meinen Magen grummeln ließen und Erinnerungen hervorriefen, die ich am liebsten vergessen würde. Der Körper musste schon eine Weile hier gelegen haben, bevor Klara ihn auf ihrer nächtlichen Patrouille gefunden hatte. Das getrocknete Blut war überall verteilt und die Farbe erinnerte mehr an Braun als an sattes Rot.

    Obwohl der Leichnam auf dem Gehsteig lag, war die Flüssigkeit auf die Straße geronnen und hatte einen riesigen Fleck gebildet, der sich immer weiter in den Asphalt fraß.

    Ein Wunder, dass bisher niemand die Polizei gerufen hatte. Aber wenigstens eine Auseinandersetzung mit den Behörden blieb uns dieses Mal erspart, sodass wir die Leiche wegräumen und dann … ja, was? Weitermachen würden, als wäre nichts gewesen?

    Nein, bestimmt nicht. Ich konnte bereits in Klaras Gesicht sehen, dass sie nicht einfach in ihren Alltag zurückgehen und freudestrahlend den Tag in Angriff nehmen würde. Sie litt und sie hatte Angst.

    Fuck, eigentlich hatten wir das alle.

    „Ich soll mich beruhigen? Du weißt, wo wir sind, oder? Keine zehn Kilometer von unserem Haus entfernt. Sie hätten Simon auch vor unsere Tür legen können."

    Klara strich eine ihrer platinblonden Strähnen zur Seite, die ihr sofort wieder vor die Augen fiel, als sie die Hände vor der Brust verschränkte. Ihr Körper bebte. Sie schluckte nervös und ging einen Schritt auf mich zu, um im nächsten Moment den Blick abzuwenden. Mitleid für sie keimte in mir auf. Sie hatte den Toten gekannt, schon bevor die beiden das erste Mal gestorben waren. Er war ein guter Junge gewesen. Na gut, zumindest nicht schlechter als jeder andere von uns. Niemand hatte es verdient, so zu sterben, auch er nicht. Trotzdem hatten sie ihm das angetan und wenn wir nicht aufpassten, waren wir die Nächsten. Sie waren uns nah. Daran hatte ich keinen Zweifel.

    Wir konnten uns nicht länger verstecken. Wir mussten etwas tun.

    Irgendwas. Ich hatte nur keine Ahnung, was genau. Im schlimmsten Fall würden wir alle enden wie Simon und dann … Ich seufzte.

    Dann würde die Welt zugrunde gehen.

    Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Geräusche der Umgebung, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war. Nicht auszumalen, was passieren würde, wenn ein Passant uns mit einer Leiche entdecken würde, die schon vor einem knappen Jahrhundert für tot erklärt worden war. Und genau das war Simon. Er hatte einen Autounfall gehabt, als er von einem Tatort eines Mordes geflüchtet war, den er selbst begangen hatte. Er war gestorben. So wie wir alle.

    Und er kam zurück. Genau wie der Rest von uns.

    Ich schnaubte. An manchen Tagen fragte ich mich tatsächlich, ob es nicht besser gewesen wäre, einfach in einem Sarg von Maden zerfressen zu werden. Dann hätte ich mir all das ersparen können. Dafür war es allerdings zu spät und mir blieb nichts anderes übrig, als wenigstens zu versuchen, Klara zu beruhigen.

    „Sie haben ihn aber nicht vor unser Haus gelegt. Also wissen sie nicht, wo wir sind." Meine Stimme klang kraftvoll, überzeugt, auch wenn ich es besser wusste. Unsere Gegner hatten einen schrägen Sinn für Humor und sie waren uns immer einen Schritt voraus. Vielleicht fühlte ich mich deshalb, als würden wir ständig auf der Verliererseite stehen.

    Klara prustete.

    Sie glaubte mir nicht.

    Aber wieso sollte sie auch? Ich glaubte mir ja selbst nicht. Sie hätten die Leiche nicht einfach für alle sichtbar liegen gelassen. Sicher, sie fürchteten sich nicht vor den Menschen und hielten alle Sterblichen für Ungeziefer. Aber auch sie versuchten, unser Geheimnis zu bewahren und Massenpanik zu verhindern. Zumindest solange es meine Familie gab, die ihren Plan durchkreuzen konnte.

    Diese Message - Simons Leiche - war eine erneute Kampfansage. Sie wollten uns zerstören.

    Endgültig.

    Und wir hatten ihnen nichts entgegenzusetzen.

    „Warum bist du dir so sicher? Vielleicht haben sie uns gefunden und warten darauf, dass wir eine falsche Bewegung machen." Klaras spitze Eckzähne blitzten in der Dunkelheit auf. Sie knurrte erzürnt und überbrückte die letzten Meter, sodass sie mir gegenüberstand. Ihre schwarzen Iriden glänzten, als hätte sie geweint.

    Aber das hatte sie nicht. Das konnte sie gar nicht. Nicht mehr. Keiner von uns.

    Weil wir genau genommen tot waren.

    „Wir sollten hier weg, solange wir noch die Möglichkeit haben."

    Ich unterdrückte ein weiteres Seufzen. War sie es nicht leid, mit mir diese Diskussion zu führen? Jedes Mal dasselbe, wenn wir jemanden verloren. Statt zu trauern, diskutierten wir. Stundenlang.

    Langsam waren wir alle müde und erschöpft. Die Angst machte uns rastlos, aggressiv. Wir verloren das Ziel aus den Augen und das durften wir nicht.

    Leider schien ich der Einzige zu sein, der daran dachte, während der Rest meiner Familie weiterhin auf die Leiche starrte.

    „Wir werden nicht schon wieder umziehen", bestimmte ich.

    Gleichzeitig überlegte ich mir aber, wohin wir im Notfall gehen konnten. Das tat ich immer. Wir waren schon überall auf der Welt gewesen. In den Vereinigten Staaten, Skandinavien, Asien – sogar in Afrika, obwohl uns die Hitze dort zu schaffen gemacht hatte. Dennoch hatten sie uns immer gefunden.

    Aus unserer letzten Heimat hatten wir über Nacht fliehen müssen. Und nun waren wir hier gelandet.

    In Hardegg. Der kleinsten Stadt mit genügend Infrastruktur, die ich hatte finden können.

    Ich war es leid, ständig den Ort zu wechseln.

    Nirgendwo waren wir zu Hause. So hatte ich mir die Ewigkeit nicht ausgemalt. Aber das war immer noch besser, als seelenlos zu sterben, richtig? Ich hoffte es.

    „Wieso nicht?" Klara stemmte die Hände in die Hüften und zog einen Schmollmund, der mich daran erinnerte, wie jung sie im Gegensatz zum Rest von uns war. Noch kein Jahrhundert alt. Klara wusste noch, wie es war, atmen zu müssen, um zu überleben, und sie war es noch nicht leid, auf diese Weise zu existieren. Mal abgesehen davon, dass sie auch sehr jung gewesen war, als sie das erste Mal sterben musste.

    Kaum erwachsen. Aber gut, das war ein Schicksal, das wir alle teilten. Wir alle hatten unser menschliches Leben viel zu schnell hinter uns lassen müssen.

    „Worauf sollen wir warten? Ich habe keine Lust, so zu enden wie die anderen", schoss Klara hinterher und sah sich in der Dunkelheit um, als hätte sie Angst, irgendwer könnte uns belauschen.

    Oder schlimmer: Uns auflauern und uns umbringen.

    Die anderen. Das klang, als wären sie nicht ein Teil von uns gewesen. Dabei waren sie wie wir. Sie gehörten zu den „Soulkeepern". Das verband und unterschied uns gleichzeitig von den Schlächtern, die den Toten wie Vieh am Straßenrand liegen gelassen hatten.

    Wir hatten eine gemeinsame Aufgabe:

    Die Menschheit vor den Schatten, die im Dunkeln lauerten, zu beschützen.

    Na ja, wir hatten eine gemeinsame Aufgabe gehabt. Inzwischen war kaum noch etwas von den Soulkeepern übrig. Wir waren beinahe ausgelöscht und es würde nicht mehr lange dauern, bis unsere Gegner auch den mickrigen Rest unschädlich machen würden.

    „Wir sind noch kein Jahr an diesem Ort", mischte sich Magnus ein und löste sich endlich aus seiner Starre. Dennoch konnte ich den Schock und die Angst in seinen Augen sehen, die sich auch in Klaras Gesicht wiederfanden. Doch in Magnus‘ Züge mischte sich noch etwas anderes. Sorge. Er hatte nicht nur Panik vor seinem eigenen Tod.

    Nein, er wusste, was auch ich bereits ahnte. Schon bald würden wir jemanden aus unseren Reihen, aus unserer Familie verlieren und er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte. Ich auch nicht, aber damit würde ich mich gezwungenermaßen auseinandersetzen, wenn es so weit war.

    „Sie finden uns schneller. Es wird Zeit, dass wir etwas unternehmen", murmelte ich, beugte mich hinunter und strich über die eiskalte Haut des Toten. Seine Lippen waren verkohlt, seine Zunge fehlte. Sie waren nicht zimperlich gewesen. Er musste unheimlich gelitten haben, als sie ihm die Seele aus dem Leib gesaugt und diese anschließend gefressen hatten. Ob er geschrien oder um seine Existenz gebettelt hatte? Würde ich es tun, wenn ich an der Reihe war?

    Klara schlug meine Hand weg und schenkte mir einen erzürnten Blick, als würde sie sich Sorgen machen, ich könnte Simon verletzen. Der Gedanke war lächerlich, immerhin würde ihm nie wieder etwas schaden können, dennoch zog ich meine Finger weg.

    „Und was sollen wir tun? Wir sind zu wenige", erinnerte sie mich und streichelte sanft über Simons Hand, oder über das, was davon noch übrig war. Auch hier war die Haut geschwärzt und tiefe Wunden waren im Fleisch zu erkennen. Es war furchtbar.

    Ein Gemälde aus Grauen und Schmerz.

    „Wir sind alle, die noch übrig sind", entgegnete Magnus und schob mit dem Mittelfinger seine Brille mit Fenstergläsern auf die Nase. Wieso er sie auch nachts trug, obwohl er sie nur tagsüber nutzte, um normal auszusehen, wusste ich nicht.

    Vielleicht aus Gewohnheit, oder weil sie Aleksandra gefiel und er alles tat, damit sie glücklich war.

    Was passieren würde, wenn wir sie verlieren würden? Die beiden hatten Jahrhunderte miteinander geteilt, während Maria und ich nur ein paar Jahre zusammen verbracht hatten, und dennoch hatte mich ihr Tod … zerstört. Besser konnte ich es nicht beschreiben.

    Wieder an diesem Tag kamen mir die schrecklichen Bilder von damals in den Sinn, doch ich kämpfte dagegen an und konzentrierte mich auf Klara, die mich anklagend ansah, als wäre es meine Schuld, dass Simon tot war.

    Doch das war ich nicht. Ich wusste es und sie ebenfalls, aber an den richtigen Schuldigen konnte sie keinen Dampf ablassen, weshalb sie mir all ihre Wut entgegen schrie.

    „Weil die anderen tot sind." Klara schnalzte mit der Zunge und schüttelte verständnislos mit dem Kopf, während ihre Stimme weiter anschwoll, bis sie ihren Höhepunkt erreichte.

    Ihre Worte lösten ein schmerzhaftes Klingeln in meinen empfindlichen Ohren aus. Gerne hätte ich sie erneut ermahnt, die Klappe zu halten, aber sie hatte nicht unrecht.

    Als ich vor drei Jahrhunderten zum Soulkeeper wurde, gab es noch neunzig Mitglieder. Bei Klaras Wiedergeburt waren davon nicht einmal mehr die Hälfte übrig und nun standen die letzten Mitglieder mit vor Schrecken geweiteten Augen um uns herum.

    Insgesamt acht. Mehr existierten nicht mehr von uns.

    Wie konnte das in der kurzen Zeit passiert sein? Unsere Zahl schrumpfte gefühlt täglich, während die Masse unserer Feinde wuchs. Schon jetzt hatte ich den Überblick verloren, wer sich alles unseren Gegnern angeschlossen hatte.

    „Wenn wir nicht aufpassen, sind wir die Nächsten."

    Klara senkte die Stimme und versuchte, uns ins Gewissen zu reden.

    Mir. Und es funktionierte.

    Je länger ich ihr zuhörte, desto größer wurde der Drang in mir, ihr beizupflichten. Doch immer wieder hörte ich dieses Betteln in meinem Hinterkopf, das mich anflehte, zu bleiben. Ich wusste nicht, woher es kam, oder weshalb ich es hörte. Doch es klang zu wichtig, um es zu ignorieren. Es war keine Stimme, die zu mir sprach, eher ein Gefühl. Es sagte mir, dass wir sterben würden, wenn wir weggingen.

    Irgendetwas war hier. Und wir brauchten es, um zu gewinnen, um das Blatt noch einmal zu wenden. Es war dasselbe Gefühl, das mich erst dazu gebracht hatte, meine Familie nach Hardegg zu lotsen.

    Aber das konnte ich Klara schlecht sagen. Sie würde mich für verrückt erklären, wenn ich unser aller Leben aufs Spiel setzte, nur weil sich mir der Magen umdrehte. Und fuck, auch damit hatte sie recht. Dennoch … wir durften nicht gehen. Noch nicht.

    Vielleicht nie. Ich wollte ein Zuhause. Ein richtiges.

    Das Leben als Nomade wurde anstrengend und ich war nicht der Einzige, dem es so ging. Auch der Rest hatte die Welt schon dreimal gesehen. Sie verlor irgendwann ihren Charme, wenn man bereits jeden Winkel erkundet hatte.

    „Was schlägst du vor?", erkundigte sich Magnus bei Klara, ging auf die Knie und durchsuchte die Taschen des Toten. Telefon, Geldbörse, Schlüssel – nichts Aufregendes. Es waren Gebrauchsgegenstände der heutigen Zeit. Die Hälfte davon mochte ich nicht. Vielleicht hörte ich mich dabei alt an, aber früher war tatsächlich vieles besser. Einfacher. Uns zu verstecken zum Beispiel.

    „Du weißt genau wie wir alle, dass wir irgendwann auffallen, wenn wir alle paar Monate den Ort wechseln, Klara. Die Menschen fangen an, Fragen zu stellen, und in den ersten Städten werden sie uns noch glauben, aber dann? Schon jetzt ist unsere Geschichte dürftig und würde keiner genaueren Überprüfung standhalten."

    Er hatte recht. Anfangs hatten wir noch behauptet, wir wären alle blutsverwandt und eine große glückliche Familie. Das hatte auch ganz gut funktioniert, bevor ein Teil von uns beschlossen hatte, dass die Ewigkeit allein trist und langweilig war.

    Als die Ersten von uns sich zu Paaren zusammengeschlossen und angefangen hatten, miteinander zu ficken, waren wir noch versucht gewesen, die Scharade aufrecht zu erhalten.

    Die anderen hatten sich bemüht, ihre Gefühle füreinander zu verstecken, aber sie waren eben, wie sie waren, und nachdem wir aus einer Stadt wegen Inzestvorwürfen fliehen mussten, bevor unsere Feinde uns aufspüren konnten, hatten wir die Geschichte abgeändert.

    Offiziell waren wir alle volljährige Waisen und hatten uns zusammengeschlossen, weil wir unsere befreundeten Eltern beim selben Schiffsunglück verloren hatten.

    Es war eine gute Ausrede. Solide.

    Niemand wollte mit Waisen über deren Eltern sprechen, sodass niemand von uns je in Bedrängnis kam, weitere Fragen zu dem Vorfall zu beantworten. Zumindest nicht, solange wir nicht auffielen. Und das taten wir nicht. Dafür sorgten wir.

    Es war anstrengend, aber notwendig.

    Klara schnaubte. Sie warf erneut eine ihrer Locken zurück und zog die Augenbrauen zusammen, sodass ihre Stirn sich leicht in Falten legte. Die Furchen passten nicht auf ihr makelloses Gesicht, das sie sonst wie eine Puppe aussehen ließ.

    „Und die Lösung ist, zu bleiben und darauf zu warten, dass sie uns erwischen?" Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Kämpferisch hob sie das Kinn und wartete auf Magnus‘ Reaktion.

    Es war Vorsicht geboten. Klara war die Emotionalste von uns. Dafür liebte ich sie, aber an manchen Tagen schlug sie deshalb um sich und dann schaffte es niemand mehr, sie zu bremsen. Das war auch Magnus klar, der verstummte und sich hilfesuchend nach seiner Frau umsah, die nur wenige Schritte entfernt stand.

    Aleksandra reagierte sofort. Sie überbrückte die Distanz zwischen uns innerhalb eines Wimpernschlags.

    Mit einem beruhigenden Lächeln sah sie auf Klara herab und hielt ihr auffordernd die Hand entgegen, um sie an sich zu ziehen. Sanft drückte Aleksandra Klara und strahlte dabei, als wäre sie ein Lichtstrahl in der Dunkelheit.

    „Egal, was wir tun, wir sollten die Entscheidung schnell treffen. In wenigen Minuten geht die Sonne auf und der Unterricht beginnt", gab sie zu bedenken und veranlasste Klara damit, das Thema fallen zu lassen, bevor es eskalieren konnte. Wenigstens vorerst.

    Diese Sache war noch nicht vorbei.

    Klara hatte viel Schlimmes erlebt, als sie noch ein Mensch gewesen war. Eigentlich alle von uns.

    Dieses Trauma verschwand nicht von heute auf morgen. Auch nicht innerhalb eines Jahrhunderts. Manches begleitet uns sogar noch lange nach dem Tod. In ihrem Fall war es so.

    Für mich war klar, dass die Familie über allem stand. Nur so hatte man eine Chance zu überleben.

    Bei ihr war das nicht so.

    Sie wollte leben und würde alles opfern, wenn sie dafür ihre Existenz retten konnte.

    Die Frage war nur, ob sie uns auch verlassen würde, wenn es hart auf hart kam. Ich betete, dass es nicht dazu kommen würde. Wir brauchten sie.

    Jeder Einzelne von uns war inzwischen unentbehrlich.

    „Aleksandra hat recht. Einige von uns dürfen den Unterricht nicht verpassen. Nicht schon wieder." Magnus sprang auf den Zug auf und wechselte das Thema. Schule.

    Das hätte ich beinahe vergessen. Die Ferien waren vorbei, der Unterricht begann. Ich würde in die Abschlussklasse kommen. Wieder einmal.

    „Wir klären das, wenn ihr zurückkommt. Ich werde in der Zwischenzeit die Grenze ablaufen", schoss Magnus hinterher. Statt zum Unterricht zu gehen, weil ich es mir leisten konnte zu fehlen. Er sagte es nicht, aber ich hörte den verbalen Seitenhieb.

    Ich hatte das vergangene Semester kaum Zeit in der Schule verbracht. Wieso auch? Ich kannte den Stoff in- und auswendig. Dennoch war es aufgefallen, sodass ich versprochen hatte, dieses Mal mit weniger Abwesenheit zu glänzen. Inzwischen wusste ich nicht mehr, wie oft ich das letzte Jahr gemacht habe.

    Anfangs hatte ich mitgezählt, aber irgendwann hatte es seinen Reiz verloren, genauso wie der Unterrichtsstoff, der nur noch langweilig war. Keine Frage: Faust, Romeo und Julia und die Odyssee waren fantastische Werke, aber wenn man sie zum gefühlt millionsten Mal lesen und analysieren muss, hängen sie allen zum Hals raus und man kann sie nicht mehr sehen. Dennoch würde ich mich durchbeißen und mein Bestes geben. Für die Familie.

    „Allein?", hinterfragte ich gespielt besorgt Magnus‘ Aussage. Ich witterte meine Chance, den heutigen Schultag ausfallen lassen zu können. Dafür würde ich praktisch alles geben.

    Ein Teil von mir mochte das Schulsystem und die Tatsache, dass inzwischen alle daran teilnehmen mussten. Was ich jedoch verabscheute, war der Zickenkrieg, das Mobbing und die Gruppenbildungen. Früher wurde man in einer Kirche und wegen Hexerei angeklagt, wenn man einen Ehemann seiner Ehefrau ausgespannt hatte. Nun wurde man einfach quer über den Schulhof als Schlampe beschimpft und danach von allen verbal gesteinigt. Es tat genauso weh, wie in den Flammen zu verbrennen, aber es nahm kein Ende. Am Scheiterhaufen ging das Feuer irgendwann aus, doch der Hass unter Schülern endete niemals. Er blieb bestehen, bis man seinen Abschluss in der Tasche hatte und alles hinter sich ließ.

    „Das ist keine gute Idee. Du solltest nicht allein sein. Keiner von uns. Ich werde bleiben und dich unterstützen", sagte ich bestimmt und grinste Magnus an. Ich erhob mich ebenfalls, während Maxim aus dem Hintergrund trat und Aleksandra schweigend einen Benzinkanister reichte. Die Flüssigkeit darin schwappte durch die Bewegung ein wenig hin und her, ehe Aleksandra sie über die Leiche schüttete und anschließend ein Feuerzeug aus der Hosentasche zog, das sie achtlos auf den nassen Leichnam warf.

    Es zischte. Ein Knistern erklang. Die Flüssigkeit entzündete sich eilig und Rauch stieg auf. Flammen schossen aus dem Nichts und breiteten sich über der Leiche aus. Der Gestank von angekokeltem Fleisch kroch in meine Nase und wurde gleich darauf vom Wind fortgetragen.

    Dennoch holte der Geruch unangenehme Erinnerungen an die Oberfläche. Ob es Zufall war, dass ich heute vermehrt an damals denken musste? Lag es daran, dass Klara recht hatte und wir tatsächlich alle bald sterben würden?

    Vielleicht. Glauben wollte ich es allerdings nicht. Wir hatten so hart gekämpft. Es musste eine Möglichkeit geben. Irgendeine.

    Doch es fiel mir schwer, klar zu denken. All die Bilder der Vergangenheit schwirrten in meinem Kopf herum und Simons brennende Leiche vermischte sich mit den angebrannten braunen Locken, den aufgerissenen blauen Augen und den roten Lippen von Maria. Ich schluckte schwer und drängte die Erinnerungen zurück an ihren Platz. Es gelang mir nicht ganz. Der Geruch nach Blumen, der sich mit dem Gestank des Brand mischte, haftete in meiner Nase, als hätte ihn jemand an dieser Stelle festgeklebt.

    „Bestimmt nicht, Rune! Du wirst zur Schule gehen!", widersprach Magnus und machte mit diesen Worten meine Hoffnungen zunichte, während das Feuer loderte. Es dauerte nur wenige Minuten, bis außer einem Haufen Asche nichts mehr von dem Toten übrigblieb. Ausgelöscht für immer. Ich hörte Klara schluchzen, während Magnus die Funken des Feuers mit dem Fuß austrat und dann seine Finger mit denen von Aleksandra verschränkte.

    Aleks lächelte immer noch, doch der Zug um ihre Mundwinkel wirkte angespannt. Gezwungen.

    Zeitgleich streichelte sie mit einer Hand immer noch über Klaras Handrücken, während sie sich an Magnus lehnte. In Momenten wie diesen konnte ich sehen, wie sehr wir alle einander ans Herz gewachsen waren.

    Niemand von uns müsste dem anderen Trost spenden und dennoch taten wir es. Zwar reichten die kleinen Gesten noch lange nicht, um all die Streitigkeiten zwischen uns zu vergessen, doch vielleicht machten gerade sie uns alle zu einer richtigen Familie.

    „Du hast am meisten Fehlstunden. Du wärst letztes Mal fast nicht versetzt worden", erinnerte mich Magnus streng, auch wenn er es nicht tun müsste. Wir hatten kaum über etwas anderes am Ende des letzten Semesters gesprochen. Dabei machte es für mich persönlich keinen Unterschied, sollte ich nicht bestehen. Ich würde kurzzeitig von der Bildfläche verschwinden und in einer anderen Stadt wieder von Neuem mit der Schule beginnen. Es war einfach, wenn man die Ewigkeit zur Verfügung hatte. Doch wir wollten hierbleiben. Noch nie war der Drang, wenigstens einmal zehn Jahre am Stück irgendwo zu sein, so groß wie jetzt.

    „Aber…", fing ich an und wurde sofort von Magnus mit einem wütenden Blick zum Schweigen gebracht. Es gab nicht viele Personen, die es schafften, mich einzuschüchtern. Doch Magnus war eine Klasse für sich.

    Mit einem stolzen Alter von 570 Jahren war er nicht nur der Älteste von uns, er kümmerte sich auch um organisatorische Angelegenheiten. Er hatte den Überblick über unsere Finanzen und verwaltete das Geld, das sich über die Jahrhunderte angehäuft hatte, besorgte jedem von uns in regelmäßigen Abständen neue Dokumente und hielt uns von unnötigen Gefahren fern. Er war wie ein Vater für uns. Für mich.

    Und das hasste ich an manchen Tagen. So wie jetzt.

    Ich verschränkte die Hände vor der Brust und setzte erneut zum Sprechen an. Aleksandra kam mir jedoch zuvor, ehe ich wieder protestieren konnte. Dabei wollte ich mich wirklich nur ins Bett verkriechen und nicht mehr nachdenken müssen, um die Bilder in meinem Kopf zu vergessen.

    Stattdessen durfte ich mich in wenigen Minuten mit einer Reihe von Schülern herumschlagen, die tatsächlich dachten, sie wären der Mittelpunkt der Welt.

    Sie waren es aber nicht. Keiner von ihnen.

    In spätestens hundert Jahren waren sie alle tot und dann interessierte es niemanden mehr, ob sie im Unterricht geschminkt gewesen waren, ihre Hausaufgaben gemacht oder sich mit der Oberzicke angefreundet hatten. Nein, alle von uns wurden als Niemand geboren und starben auch genauso.

    Unbedeutend für die Welt und die Menschheit.

    Es gab nur sehr wenige Ausnahmen und selbst von denen waren nur ihre größten Verbrechen oder ihre besten Errungenschaften bekannt. Und nicht, mit wem sie auf irgendeiner Party knutschten.

    „Ich werde bleiben", erklärte Aleksandra einfühlsam und führte Magnus Handrücken an ihren Mund, um ihn zu küssen. Ein Stich fuhr schmerzhaft durch mein Herz. Ich biss die Zähne zusammen, um keinen Ton von mir zu geben.

    Die Geste hatte auf mich etwas Beruhigendes. Die beiden liebten sich auch nach all den Jahren immer noch. Jeder Blinde konnte das sehen. Sie waren füreinander bestimmt und bildeten eine Konstante. Egal, was passierte – ob menschliche Arbeiter von Maschinen abgelöst wurden oder Kriege das Land verwüsteten - man konnte darauf zählen, dass sie zusammenblieben.

    Ich freute mich für sie, gleichzeitig war es ein schmerzhafter Anblick.

    Die beiden waren beneidenswert. Sie hatten sich gesucht, gefunden und waren niemals vom Schicksal getrennt worden.

    Anders als ich und …

    Schnell schloss ich die Augen und atmete tief durch, als aus dem einen Stich viele wurden. Sie prasselten auf mein Herz ein und durchlöcherten es, bis kaum noch etwas davon übrigblieb. Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. Mein Brustkorb hob und senkte sich, dennoch drohte ich zu ersticken. Dabei konnte ich das gar nicht.

    Ich brauchte keine Luft zum Atmen. Ich war bereits tot. Trotzdem dauerte es eine Ewigkeit, ehe sich der Schmerz wieder legte und ich die Lider öffnen konnte. Der Druck in meiner Brust blieb allerdings und war eine ständige Erinnerung an meinen Verlust.

    Gott, ich hatte sie geliebt. So sehr. Auch nach all den Jahren hatte ich das Gefühl, jemand hätte nicht nur sie getötet, sondern auch mich.

    „Ihr solltet gehen. Die Sonne geht auf und keiner von euch hat irgendwas dabei. So könnt ihr nicht zur Schule", warf Aleksandra mit einem Blick gen Himmel ein und blickte zu Klara, die sich keinen Millimeter rührte. Sie starrte auf Simons Asche.

    Für einen Moment und noch einen.

    Die Zeit verstrich, doch Klara löste sich einfach nicht von dem Anblick. Nicht freiwillig.

    Irgendwann beschloss Maxim, dass es reichte. Er schnappte sich ihr Handgelenk, rannte los und zog Klara hinter sich her. Sie ließ es zu. Wie mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, während ein Ausdruck völliger Leere auf ihrem Gesicht lag.

    Mit einem flehenden Blick in Magnus‘ Richtung, der mir nur ein Seufzen des Älteren einbrachte, folgte ich Maxim und Klara. Eilig lief ich durch die endende Nacht und genoss das Gefühl der Schwerelosigkeit beim Rennen. Geübt nahm ich an Geschwindigkeit auf und wurde immer schneller, bis ich vom menschlichen Auge nicht mehr gesehen werden konnte. Um diese Zeit trauten sich die ersten Menschen vor die Tür und ich wollte keine Massenpanik auslösen. Sie würden nur einen Schatten sehen, der an ihnen vorbeihuschte. Eine Begegnung - so flüchtig -, dass sie daran zweifeln würden, überhaupt etwas gesehen zu haben.

    Denn genau das sollten wir sein. Unsichtbar.

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