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1000 Schlucke täglich: Eine Logopädin erzählt
1000 Schlucke täglich: Eine Logopädin erzählt
1000 Schlucke täglich: Eine Logopädin erzählt
eBook504 Seiten6 Stunden

1000 Schlucke täglich: Eine Logopädin erzählt

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Über dieses E-Book

Das Ausmisten einer Logopädin spült Zeitgeist und Anekdoten hoch - von der Kindheit in Wien bis zum Dasein in der Risikogruppe in Berlin. Ein Treffen mit Kaiserin Sissi, Sputnik, Kennedy und Chrustschow, legendären Popstars und weltbekannten Größen der Wiener Psychiatrieszene. Sigmund Freud wird vom Sockel gestoßen. Keine Atempause in Westberlin, dafür ein Dreifachname. Mauerfall verpasst, Ruhrpott-Fußball kennengelernt. Gesundheitskonzerne schlucken Kliniken. Der Wissenschaftsbetrieb erinnert an Loriot …
Die Pionierin der Schlucktherapie erzählt von ihrem Werdegang und ihrer Arbeit mit Betroffenen und Angehörigen - im anthroposophischen Krankenhaus, in der High-Tech-Medizin und in China. Dort wird anders geschluckt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Sept. 2021
ISBN9783347391000
1000 Schlucke täglich: Eine Logopädin erzählt

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    Buchvorschau

    1000 Schlucke täglich - Ricki Nusser-Müller-Busch

    Vorwort

    Am ersten Tag in Rente kann ich mir nun überlegen, ob es jetzt Zeit für die Apothekenrundschau wird. Oder soll ich mich doch lieber für ein paar angesagte Schuhe entscheiden? Oder was jetzt? Weitermachen wie bisher?

    Über fünfunddreißig Jahre Berufsleben sind epigenetisch drin in den Genen, in jeder Körperzelle gespeichert. Mittags um 12.30 muss warmes Essen auf den Tisch. Ich komme nur langsam runter. Ich vermisse den strukturierten Arbeitsalltag einer Klinik, auch wenn das vierzehn Jahre lang hieß, dass die Nacht um kurz nach fünf Uhr zu Ende war. Es ist in meinen Genen, abends nach dem Heimkommen reflektorisch den Computer hochzufahren und Skripte, Buchprojekte und Mails zu bearbeiten. Sich sagen zu können, morgen ist auch noch ein Tag, muss ich erst lernen. Es braucht Habituation, Anpassung…

    Die Logopädie mit ihrer ausgewogenen Kombination von Theorie und Praxis passt für mich wie die Faust aufs Auge. Logopädie ist nicht nur die Therapie des Lispelns und schon gar nicht „Spielen mit Kindern". Zum Aufgabengebiet gehören traditionell die Störungen der Sprache, des Sprechens und der Stimme. Transgender-Stimmarbeit gibt es schon seit Jahrzehnten. Viele Aufgaben sind in den letzten vierzig Jahren dazugekommen, wie Störungen des Schluckens und der Nahrungsaufnahme, des Rechnens, Lesens und der Rechtschreibung, des Spracherwerbs bei Mehrsprachigkeit. Kommunikationshilfen werden eingesetzt, wenn lautsprachlich nicht kommuniziert werden kann. Wir erheben Befunde, diagnostizieren, planen und führen Therapien und Rehabilitation durch, bei Menschen jeden Alters. Wir beraten Betroffene, ihre An- und Zugehörigen sowie betreuende Teams und sind in der Prävention tätig. Wir arbeiten in Praxen, in pädagogischen Einrichtungen und Kliniken und in der Lehre und an Hochschulen. Unsere Berufsgruppe erforscht Grundlagen, die Wirksamkeit von Therapien und vieles andere mehr.

    Mein Lebensthema ist das Schlucken. Ich schlucke, also bin ich. Das gilt für alle Lebenwesen. Atmung und Schlucken wechseln sich koordiniert ab. Yin und Yang! Fakt ist: Leben ist ohne Atmung nicht möglich, ohne Schlucken auch nicht. Jeden Tag in unserem Leben und auch in der Nacht schlucken wir, ohne darüber nachzudenken. Auch beim Lesen dieses Buches wird der Speichel geschluckt. Wir achten und schätzen es nicht. Bei schweren Schluckstörungen ist Leben nur mit medizinischer Hilfe möglich. Dazu später mehr…

    Ich arbeite mit Menschen von der Geburt bis zum Lebensende, die Probleme mit der Kommunikation und beim Essen, Trinken und Schlucken haben. Ich erinnere mich an zwei Therapien, in denen der Altersunterschied zweier Patientinnen über fünfundneunzig Jahre betrug. Ich startete mein Berufsleben mit Berliner Kindern, die familiärer Gewalt ausgesetzt waren. Die Auseinandersetzung mit dem Schlucken und Kau-, Trink- und Schluckstörungen begann im anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke in Nordrhein-Westfalen (NRW). Danach folgten der Wechsel in die „High-Tech-Reparaturwerkstätte", ins Unfallkrankenhaus Berlin, und ein paar Jahre Freiberuflichkeit.

    Aus heutiger Sicht ist zu konstatieren, dass ich Umwege gegangen bin. Ich habe das Psychologiestudium abgebrochen. Die Inhalte begegneten mir später wieder, ich konnte sie mit neuem Wissen vernetzen. Frau lernt nie etwas umsonst! Seit 1992 veröffentliche ich in Fachzeitschriften und Büchern. Anfangs gab es noch keine Standards. Ich staunte, als eine Herausgeberin in der Endredaktion ungefragt meinen Text änderte und eine Kehldeckellähmung einführte. Der Kehldeckel hat keine Muskeln, insofern kann er auch keine Lähmung haben. Meine Bielefelder Kollegin Dr. Heidi Macha-Krau, von der noch zu hören sein wird, schreibt in einer Laudatio, dass ich 73 Veröffentlichungen hätte. Das sind die, die ich notiert habe. Die Zeit läuft und es sind schon wieder ein paar mehr.

    Die Vorträge auf Kongressen, Messen und Symposien in großen und kleinen Städten habe ich nicht gezählt und nur lose gespeichert. Beim Unterricht in Pflegeschulen war angesichts des bescheidenen Honorars die Philanthropie gefragt. Meine Kurstätigkeit führte dazu, dass ich mich in Deutschland besser auskenne als in meiner Heimat Österreich. In ziemlich vielen deutschen Städten kenne ich die Kurszentren, den Weg zu den Pensionen und Hotels. Ich weiß, wo welche Betten knarren, wo keine Vergrößerungsspiegel im Bad vorhanden sind und welches Restaurant ich nach getaner Arbeit aufsuchen werde. Unerwartet haben sich durch Auslandseinsätze neue Herausforderungen ergeben, gleichwohl anregend, emotional wie spannend. Viel Neues ist immer noch zu lernen…

    Der Aufstieg zur Koryphäe – oder semantisch benachbart zur Konifere – war rasant und verwunderlich. Heute nennt frau das wohl Analog-Influencerin oder Chief National Practitioner. Augenzwinkernd will eine Kollegin, wenn sie groß ist, so werden wie ich, eine andere nennt mich ihre Logo-Mama. In einem Vorort von Wien arbeitet Großneffe David an seiner Zischlautstörung. Im Bücherregal der Logopraxis steht das editierte Lehrbuch der Großtante. So ist es gekommen.

    Ich bin keine Ausnahmetherapeutin. Viele meiner geschätzten Mitstreiter*innen arbeiten besser als ich. Eher bin ich ein Sherlock Holmes, dem Geheimnis des Schluckens auf der Spur. Ich will verstehen. Der Begriff ehrgeizig ist bei mir negativ besetzt. Zielstrebig trifft es auch nicht so richtig. Nur mäßig detailversessen destilliere ich Prinzipien aus dem Wust der Informationen. Botschafterin ja, Zauberlehrling nein! Meine Stärke ist das Erfassen von Situationen. Kopfkino! Vor meinem inneren Auge ploppen sofort Lösungsoptionen auf. Die jahrelange Erfahrung hat Sicherheit gebracht. Zugegeben, manchmal schalte ich zu schnell in den Aktivitäts- oder Notfallmodus…

    Als Kind wollte ich die Welt retten, stattdessen sollte ich mich mit Gesundheit und Krankheit auseinandersetzen. Ich hatte nie einen Plan für mein Leben. Privat und beruflich kam alles auf mich zu, wie noch zu lesen sein wird. Mein Glas ist halbvoll, nicht halbleer. Das regt die Ausschüttung positiver Hormone an. Ist besser so! Meine Stärke sind das neugierige Rangehen, Dranbleiben und auch das Durchbeißen, wenn in Therapien Plateauphasen durchlebt und tiefe Täler durchschritten werden müssen, die Patient*innen und Therapeut*innen gleichsam frustrieren. Der innere Antrieb, Neugier und Interesse setzen Kapazitäten frei! Als Anleiterin, Dozentin kann ich mitreißen – so die Schilddrüse Ruhe gibt. Es gibt durchaus Kolleg*innen, die mich als ungeduldig und aufbrausend erlebt haben. Tschuldigung!

    Pionierphasen mitgemacht zu haben ist ein unschätzbares Privileg! Wer kennt noch die Zeiten, als es kaum Rehabiliationskliniken gab? Wer kennt noch die paradiesischen Bedingungen in den 1990er Jahren Patient*innen mit Schlaganfall im Akutkrankenhaus vier Monate lang fünfmal die Woche therapieren zu können? Patient*innen konnten besser sprechend, andere essend entlassen werden. Heute gibt es Frührehakliniken, wo Menschen nach Schlaganfall oft nur zweimal dreißig Minuten Sprachtherapie pro Woche bekommen. Da geht die erste der drei Wochen schon für die Diagnostik drauf…

    Wer kennt noch die Zeiten, bevor die Ökonomie im Gesundheitswesen putschte und die Verwaltungen das Regime in den Kliniken übernahmen? Plötzlich wurden mehr Leute im Controlling als in den Therapieabteilungen eingestellt. Ab 2003 wurden den Krankenhäusern Fallzahlen, DRGs (Diagnosis-Related Groups), vorgegeben. Die Überschreitung der Obergrenzen, also mehr Patient*innen, bringt nicht mehr Geld.

    Ein derzeitiges Paradigma heißt Standardisierung. Die Abläufe sind festgelegt und zeitlich streng terminiert. Neues kann dabei eher nicht entstehen. Das Personal hat in einem starren Raster zu funktionieren, das kaum Kreativität und menschliche Bedürfnisse, wie einen Toilettengang, zulässt. Aufenthalt im Akutkrankenhaus – so kurz wie möglich. Aufenthalt in der Reha drei Wochen, mit Glück noch weitere drei Wochen Verlängerung. Und danach? Entweder „geheilt" oder mit weiterer ambulanter Versorgung ab nach Hause oder ins Pflegeheim.

    Die Teams heute sehen nur mehr einen kleinen Ausschnitt des Krankheitsverlaufs der Patient*innen. Alle fangen an zu denken, Schluckstörungen sind nicht heilbar. Sie erleben es nicht anders! Allein das Management der Schluckstörung mit diätetischen Maßnahmen wird propagiert. Aber Schlucktherapie hilft – wenn sie fachlich fundiert, kontinuierlich und ausreichend lang durchgeführt werden kann!

    Mit dem aktuellen Wissen, wie wir motorisch lernen, sind Reha-Kliniken obsolet. Betroffene müssten die verlorenen motorischen Fertigkeiten in ihrer gewohnten Umgebung trainieren. Dort, wo sie sie brauchen! Was nutzt es, wenn sie im barrierefreien Klinikbadezimmer die Körperpflege selbständig durchführen können, zu Hause aber nicht? Wenn sie trainieren, wie sie über die rechte Seite aus dem Bett kommen, zu Hause aber über die linke Seite aus dem nicht höhenverstellbaren Bett müssen? Der Spätkapitalismus bäumt sich auf. Gesundheit ist zur Ware geworden. Kliniken, meist in Konzernhand, wollen verdienen und die Industrie versucht mit viel Sponsoring Weichen in der Forschung zu stellen. Wer wird siegen?

    Und ich? Soll, kann, muss ich loslassen? Die über 90-jährige Psychoanalytikerin Erika Freeman sagt, „warum soll ich in Rente gehen, jetzt, wo ich mehr weiß als je zuvor?" Da ist Wahres dran. Heute meine ich zu wissen, wie Therapie effektiv sein kann. Was würde ich jetzt am liebsten tun? Ich gäbe was drum, mit meiner heutigen Erfahrung noch einmal mit allen meinen bisherigen Patient*innen zu arbeiten! Ich bin mir sicher: Es würde keine vierunddreißig Jahre dauern!

    Death Cleaning – Marie Kondo for Geriatrics

    Ich komm einfach nicht zum Death Cleaning! So heißt jetzt das Ausmisten im Alter, damit die Erb*innen nicht so viel zu tun haben. Meine Schwiegermutter hat gut ein Jahrzehnt geschreddert, Steuererklärungen und so. Nach ihrem Tod war vom stattgehabten Ausmisten nichts zu merken. Im aufzulösenden Haus fanden wir Kinoprogramme aus den 1930er Jahren.

    Früher ist unsere Familie alle zehn Jahre umgezogen, immer eine Gelegenheit sich von Dingen zu trennen. Aber seit mehr als zwei Jahrzehnten leben wir in Berlin. Letztens war dann doch der Kleiderschrank dran! Viva Marie Kondo! Ich habe mich von mindestens zwölf Hard Rock Cafe T-Shirts getrennt, die ich in den 1990ern gesammelt hatte. Sie lagen seit dem Millennium ungetragen im Kleiderschrank. Was soll ich sagen, keine zwei Wochen nach dem Weggeben fragt das Enkelkind E-kid1 (13), wie immer mit dem leicht ironischen, lang gezogenem Ö, „Öhm(s)chen, Mama hat gesagt, du hast Hard Rock Cafe T-Shirts?"…

    Vorsichtiger gehe ich mit Büchern um. Wir sind 1985 mit neunzig Bücherkisten von West-Berlin nach Herdecke in NRW gezogen. Zwölf Jahre später bei der Rückkehr ins vereinte Berlin waren es hundertzwanzig Kisten! In allen Zimmern sind wir umgeben von Holzmedientapeten, wie die im Digitalzeitalter groß gewordenen Digital Natives Bücherregale nennen. Fast nichts kann weg. Es könnte ja sein, dass eines der E-kids mal Literaturwissenschaften, Kunst oder Geschichte studieren wird oder über die 68er promovieren will…

    Sagen wir mal so: Frau weiß nie, wie viel Zeit sie noch hat. Die Fachbücher müssen bleiben, geben sie doch Aufschluss über das Wissenschaftsdenken früherer Epochen. Aktenordner können erst entsorgt werden, wenn ihr Inhalt auf mögliche weitere Verarbeitung geprüft worden ist. Die gesammelten Studien sind hoffnungslos veraltet, aber jede einzelne hat mir geholfen, das Mosaik meines Lebensthemas Schlucken zu erweitern. Eigentlich könnte ich noch drei Bücher schreiben: Ein Therapiebuch, eines über die frühe Kindesentwicklung mit Videodokumentationen von den E-kids 1-3 und die privaten Erinnerungen, letztere aber nur für die Familie. Ob ich noch so lange fit bin, noch so lange atme und schlucke? Zum Ausruhen habe ich in der letzten Ruhestätte noch alle Zeit der Welt…

    Mein Mann, in der Folge Mü-Bu genannt, und ich haben ein großes gemeinsames Arbeitszimmer. Das hatte jahrelang den Vorteil, dass wir uns wenigstens abends physisch nahe waren und nicht in verschiedenen Arbeitszimmern verschwanden. Es kommt vor, dass wir uns E-Mails von Schreibtisch zu Schreibtisch schicken. Mein Schreibtisch steht so, dass ich am Ende der Straße den Berliner Funkturm, also den Miniatur-Eiffelturm, sehen kann. Je nach Stadtevent erstrahlt er in einer anderen Farbe. Zur Landwirtschaftsmesse leuchtet er grün. Über den Dächern bin ich aufgewachsen. Als Heranwachsende konnte der Blick aus einem der ersten Wiener Hochhäuser über die Stadt schweifen, in Herdecke dann vom Anthroposophen-Hügel ins Sauerland und jetzt die freie Sicht auf den Funkturm!

    Und überhaupt Schreibtisch. Death Cleaning ja – Desk Cleaning nein. Ziel ist nicht das Leerarbeiten des Schreibtisches, damit am nächsten Tag Neues bearbeitet werden kann. Ich halte es eher mit Nietzsche, dazu gleich mehr…

    Im ersten Aufräum-Modul finde ich Briefe an Frau Buschmüller oder sehr häufig an Frau Müller-Nusser-Busch. „Ich heiße NN und habe ein Problem." So beginnen Briefe, später E-Mails von Angehörigen, Betroffenen nach einschlägigen Zeitungsberichten oder Fernsehbeiträgen, an denen ich mitgewirkt habe. Anhand einer Korrespondenz mit einem Therapeuten, Student der Medizin, forsche ich nach. Bernhard Heimbach leitet heute eine ambulante geriatrische Rehabilitationseinrichtung, ist Professor für Neurologie, Geriatrie, Sozialmedizin, Rettungsmedizin, Palliativmedizin, Weiterbildungsermächtigter im Fachbereich Geriatrie an der Uni Freiburg. Respekt! Ich finde Dankesbriefe der Rubrik Der Groschen ist gefallen von Kolleg*innen, Praktikant*innen und Betroffenen – sogar aus Himmelpfort! Das Schreiben der Selbsthilfegruppe Niemann-Pick erinnert mich daran, dass mir diese empathischen Menschen noch einige Jahre nach einem Vortrag, für den ich kein Honorar nahm, einen Dresdner Stollen zukommen ließen. Ein Vortrag – drei Stollen!

    Mailkorrespondenzen mit den US-Koryphäen Jerilyn Logemann und Susan Langmore treten zutage. Der New Yorker Professors Jonathan Aviv stellt mir 2001 per E-Mail seine spezielle endoskopische Untersuchung vor. Auch eine Anfrage zur Hospitation in Kasachstan erreichte mich, adressiert an „Herr RickiBergweg", eine Melange aus Namen und damaliger Adresse. Im Vorwort der Zeitschrift not wird auf einen Artikel von Frau Katrin Müller-Busch hingewiesen. Die ZDF-Sportmoderatorin Katrin Müller-Hohenstein lässt grüßen? Ein Foto aus dem Jahr 2000 zeigt mich im Gespräch mit der damaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer. Ich habe vergessen, was das Thema war. Sie sicher auch. Mal sehen, was noch so zutage kommt…

    Ich schreib gerne am Laptop. Aber Mü-Bu empfiehlt mir einen Speechtexter, also eine App, die Gesprochenes verschriftlicht. Das Problem ist, dass die App mich noch nicht gut versteht. Das Gesprochene wird so verfremdet, dass frau es im Text nutzen kann. Sag ich Fobi, die Abkürzung für Fortbildung, notiert sie Phobie, für Sonntag Santana. Das hebt zumindest meine Stimmung!

    Schreiben sieht so aus: Früh auf, Mü-Bu ist auf Vortragsreise, also Ruhe zum Schreiben. Carpe Diem! Einige Absätze, dann erste Rauchpause auf dem Balkon. Die Assoziationskette rattert beim Rauchen und beim Morgensport. Zum Beispiel so: Der Streit um Ötzi und seine Zugehörigkeit. Österreicher oder Italiener? Ein Irrwitz, da es zu seiner Zeit keine Staaten gab. Ich gehe ins Bad, um die Haare in Form zu bringen – das muss ich auch noch nachschauen, heißt es föhnen oder fönen? Ich muss zum Schreibtisch, sonst vergesse ich die Stichworte wieder, Ötzi und föhnen. Auf dem Weg dahin fällt mir ein, ich kann das doch in den Speechtexter eingeben. Aber wo ist das Handy? Wieder zurück. Ich finde es im Bad. Beim Öffnen des Mobilphones werde ich abgelenkt durch neue Nachrichten. Mein chinesischer Übersetzer Colin hat Videos per weChat geschickt. Er verbringt seine Semesterferien in seiner Heimatstadt Wuhan. Es ist der 25. Januar 2020, chinesisches Neujahr. Ein neues Coronavirus wütet. Also erstmal Videos gucken. Wuhan ist in einem rigorosen Shutdown. Die Menschen bestellen Lebensmittel online und ein Familienmitglied holt sie dann beim Nachbarschaftskomitee in der Straße ab. Die restliche Familie muss zu Hause bleiben. Sportliche Betätigung draußen ist nicht möglich. Der chinesische Opa guckt auf sein Handy, die Eltern braten Bouletten, Fleischlaberln – mit Masken. Meine Nachfrage ergibt, dass sie immer mit Mund-Nasen-Schutz kochen, wegen der Hygiene. Speechtexter öffnen und diktieren. Speechie notiert: Wo Hahn (Wuhan) und das Coronavirus von der seinen Studien Urlaub bringt zu Hause bei den Eltern Videos auch zu Hause benutzen die Eltern nichts Masken wegen des Coronavirus. Alles klar. Ich schicke den gesprochenen Text dreimal an meine Mailadresse. Es kommt aber nur ein Teil des Textes an. Warum? RTFM (read the fucking manual) – Bedienungsanleitungen sind nicht mein Ding. Ha! Stichwort RTFM notieren! Zurück ins Bad. Der Blick in den Spiegel verrät, es ginge besser. Aber genug des Gefö(h)nes. Keine Geduld. Rauchpause! Habe ich grad Der Blick gedacht? Schon wieder rattern die Assoziationen, immer auf dem Balkon! Meine Theorie: Die beim Schreiben festgefahrenen Gedanken wirbeln bei Bewegung durcheinander. Zurück am Schreibtisch fällt mir ein, dass ich für den Abspann noch Fachbegriffe und Abkürzungen erläutern muss, für Leser*innen jenseits der Medizin. Über die Therapeut*innensprache sollte ich auch schreiben. Das muss ich notieren, aber für welches der zu schreibenden Bücher?

    Die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne der Menschen wird immer kürzer. Ich sehe es an mir, bei Fußballübertragungen löse ich nebenher Sudokus. In letzter Zeit sind Bücher erfolgreich, die knapp zweihundert Seiten haben. Das schaffe ich nie. Ich werde den Leser*innen Geduld und häppchenweises Lesen abverlangen. Therapeut*innen erklären genau, gehen ins Klein-klein, oder nur ich? Irgendwie zu viele Assoziationen, immer Serpentinen. Da fällt mir Friedrich Nietzsch ein: Man muss Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Superheadline! Wo ist überhaupt das T-Shirt mit diesem Spruch? Habe ich es auch mit den Hard Rock Cafe T-Shirts weggegeben? Ich muss noch ecosiaen. Ich nutze die Suchmaschine Ecosia statt Google, die für meinen elektronisch bedingten CO2-Verbrauch Bäume pflanzt. Ich suche Nietzsches Spruch im Netz. Da sind ja noch andere gute Headlines dabei. Alles notieren. In Ordner Buch 1 und Buch 2 speichern. Wo war ich stehengeblieben?

    Drei Namen – so viel Zeit muss sein

    Alles fing mit dem Rezept eines Professors für Hautkrankheiten in West-Berlin an. Mü-Bu konnte wegen eines Handexanthems keine Narkosen durchführen. Schon zwei Arbeitsversuche mussten abgebrochen werden. Auf die Frage des Professors, was er denn den ganzen Tag im Krankenstand so mache, antwortete er: Ich fahre meine Tochter im Kinderwagen spazieren. Das war 1976 eine noch unübliche Beschäftigung von Vätern. Der Professor erkundigte sich nach dem Familienstand. Ja, ledig stimmte, „ah, dann sind Sie mit der Mutter der Tochter nicht verheiratet?" Damals auch relativ unüblich. Wortlos überreichte er Mü-Bu ein Rezept mit folgender Medikation: Matrimonium mater filiae. (Heirat mit der Mutter der Tochter) gezeichnet Prof. Dr. Nürnberger.

    So kam es, dass der Kindesvater (KV) und die Psychologiestudentin heirateten. In der Blase einer West-Berliner Wohngemeinschaft (WG) lebend, empfand Mü-Bu das als Niederlage. Unverheiratet hatte er aber als KV überhaupt keine Rechte, nur Pflichten. Sollte das bürgerliche Establishment am Ende doch siegen?

    1976 war die Wahlmöglichkeit des Familiennamens ganz neu. Frauen mussten nicht mehr automatisch den Namen des Mannes annehmen. Die Kindesmutter (KM) griff die Frage auf. Mü-Bu lehnte ihren Nachnamen als Familiennamen mit der schwachen Begründung ab, dann kenne frau ihn nicht mehr an seinem Arbeitsplatz in der Klinik. Er hatte im Kreißsaal die traumatische Erfahrung gemacht, dass er mit Herr Nusser angesprochen worden war. Das mentale Krisenmanagement der KM setzte ein. Was war möglich? Den eigenen Namen voranstellen? Laut Standesbeamten waren drei Namen möglich. Die Überlegung war, im Alltag die hinteren zwei Drittel, den angeheirateten Doppelnamen, einfach zu vergessen. Irgendwann würde kein Mensch mehr daran denken. Dann bliebe ja alles beim Alten. Bingo.

    Soweit, so gut! Nusser voran und Müller-Busch hinten dran. Die KM hatte allerdings die Rechnung ohne die Behörden ihres Heimatlandes gemacht…

    Schon wieder diese Österreicher!

    1977 Puttkamerstraße, West-Berlin. Der Beamte der Ausländerbehörde stöhnt genervt auf. „Mit allen Staaten kann man sich einigen, mit Thailand, der Türkei. Nur die Österreicher sind stur." Auch er hatte vergeblich versucht, den österreichischen Behörden eine Ausnahmegenehmigung für die verfahrene Namenssituation zu entlocken.

    Aber der Reihe nach: Ende 1976 stellt die KM die Babywippe mit der neun Monate alten Tochter K1 im Büro des österreichischen Konsulats in Berlin-Dahlem ab. Nach der vollzogenen Eheschließung stehen Namensänderungen in den Pässen der nun gesetzlich legitimierten Mutter, Ehefrau und des Kindes an. K1 hat seit ihrer sechsten Lebenswoche einen österreichischen Pass wie ihre Mutter. Da sagt die Konsulatsbeamtin im breitesten Wienerisch zu dem Kind in der Wippe: „So, jetzt bist ausbürgert!" Was? Ja, durch die Eheschließung ist K1 als Tochter eines deutschen Vaters nun deutsche Staatsbürgerin! Egal, was sie vorher war! So die österreichische Gesetzgebung der Zeit.

    Das vegetative Nervensystem der KM entgleist. Der Nervus sympathicus geht hoch. Fight or flight! Sie nimmt den Kampf auf. Das darf doch nicht wahr sein! Schon nach der Geburt hatten die Schikanen begonnen. Unerwartet hatte die dreiundzwanzigjährige KM einen Vormund für ihr Kind bekommen. Österreich im Jahre 1976!

    Damit nicht genug, die Beamtin fährt fort: „Und das mit Ihrem Namen geht so auch nicht. Der Sympathicus steigt weiter! Die KM schnappt nach Luft: „Und was geht? „Nach österreichischem Namensrecht können Sie ihren Mädchennamen nur hinten anhängen! Damit die Beamtin situativ mehr Arbeit hat, also drei Namen schreiben muss, presst die KM hervor: „dann hängen Sie ihn jetzt hinten dran! Die Beamtin schreibt in die Formularzeile den neuen Familiennamen: Müller-Busch-Nusser.

    Und so begann der lebenslange Move mit dem Namen und seinen Variationen, der ein eigenes Kapitel füllen könnte. Führerschein, Krankenkasse, Rentenversicherung waren schon geändert, nach deutschem Namensrecht: Nusser-Müller-Busch. Der Name im österreichischen Pass lautet andersrum. Das Potpourri der wechselnden Familienstände und Namen wurde anfangs von der KM ausgeschlachtet und führte zu mehreren Geburtsurkunden für K1! Mal hatte das Kind Nusser nur eine Mutter. Das passte dem KV nicht. In der zweiten Urkunde rutschte die KM im Formular hinter den KV an die zweite Stelle. In der dritten Urkunde wurde die Ehefrau zwar nach österreichischem Namensrecht, aber als Hausfrau bezeichnet. Das ging nun gar nicht! Und so kommt K1 auf insgesamt vier Geburtsurkunden. Soweit der amüsante Teil.

    Bei jedem Behördengang, Bankbesuch oder Reisebuchung muss seither überlegt werden, welcher Name geschrieben und welche Unterschrift jetzt getätigt werden muss. Schwacher Trost: Das hält das Hirn auf Trab!

    Dem nicht genug. Die nächsten Possen warten. 2018 fragte die österreichische Konsulatsbehörde telefonisch an, welche zwei der drei Namen ich im neuen Personalausweis haben möchte. Durch Verfahrensfehler beim Auszählen der Briefwahlstimmen bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl 2016, die zu einer Wahlwiederholung 2017 führte, geriet der Innenminister unter Druck und reagierte über. Nun sind plötzlich keine drei Namen mehr erlaubt. Auch Adelstitel nicht mehr! Hallo? Ich hatte als Kind in der Schule gelernt, dass Adelstitel in Österreich mit dem Adelsaufhebungsgesetz schon 1919 abgeschafft worden waren? Typisch österreichisch – Gnädige Frau, Herr Hofrat… – wurde das in den letzten Jahrzehnten vergessen? Derzeit habe ich im Personalausweis den Namen Müller-Busch. Im Pass meinen Dreifachnamen MBN. Das bringt es mit sich, schon bei Flugbuchungen darüber nachzudenken, mit welchen Ausweis Madame zu reisen gedenkt. Denn Name auf der Flugticket und im Ausweis müssen übereinstimmen, wie mir einmal die freundliche Mitarbeiterin von Air Berlin erklärte – und mich ausnahmsweise trotzdem in den Flieger nach Wien steigen ließ. Ich ahne, Fortsetzung folgt! Da kommt bei der nächsten Verlängerung des Reisepasses was auf die Auslandsösterreicherin zu…

    Österreich bürgert nicht aus. Österreich ist keine Diktatur!

    Dieser Satz des österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky – in Österreich eine Lichtgestalt wie Willy Brandt in seiner Hochzeit – lässt mich im Juni 1978 in der WG-Küche umgehend zum Hörer greifen und das österreichische Konsulat anrufen. Der Stachel ob der Ausbürgerung von K1 saß noch tief. Nicht nur die Form, die Ausbürgerung an und für sich, wie wir Ösis gerne sagen, war ein Skandal!

    Anlass für die Äußerung Kreiskys war die Tatsache, dass Otto Habsburg, Sohn des letzten österreichischen Kaisers, soeben die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte. Die CSU und Franz Josef Strauß wollten ihn als Spitzenkandidaten für das neue europäische Parlament nominieren. Angesprochen auf die – in Österreich nicht vorgesehene – Doppelstaatsbürgerschaft, bezog sich Kreisky mit dem Diktatur-Satz auf die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR während einer Konzertreise 1976.

    Ich kann es durch den Hörer spüren. Der Konsulatsbeamte windet sich am anderen Ende der Leitung, als ich ihn auf die Ungleichbehandlung von Otto Habsburg und meiner ausgebürgerten Tochter anspreche. Eine Doppelstaatsbürgerschaft wäre möglich, wenn sich die Person um Österreich verdient gemacht hätte. Wie aus der Pistole geschossen kommt meine Gegenfrage, wie er darauf käme, dass das auf Habsburg zuträfe? Die Familie meiner Großmutter väterlicherseits war durch den Niedergang des Kaiserreichs bettelarm geworden. Sehen so Verdienste aus? Er führt dann noch Karajan an und zu guter Letzt schlägt er mir vor, das österreichische Bundeskanzleramt anzuschreiben. Gesagt, getan.

    Es entspann sich ein Briefwechsel. Ich klärte Dr. Kreisky darüber auf, „was in unserem Land sonst noch möglich ist! Der Durchschlag – so nannte frau früher die mit Kohlepapier erstellte Kopie des mit einer Schreibmaschine verfassten Briefes – und zwei Antworten des Bundeskanzleramtes liegen im Familienarchiv. Tenor der Antwort: Es wäre alles rechtens. „Wäre die Geburt des Kindes nach Ihrer Heirat erfolgt, hätte ihr Kind nie die österreichische Staatsbürgerschaft besessen. Nie unterstrichen! Schluck! Und im generischen Maskulin weiter: „Ihr Kind war jedoch ursprünglich nur Österreicher gewesen, weil das österreichische Gesetz Schutzbedürftigen (z.B. unehelichen Kindern) besonders behandelt, um Staatenlosigkeit zu vermeiden." Hallo? Ich war zum Zeitpunkt der Geburt volljährig! Aber halt nur eine Frau…

    Einlenkend wie zukunftsweisend steht weiter: „In diesem Zusammenhang möchte ich Sie darauf hinweisen, dass im Geiste der Gleichberechtigung von Mann und Frau auch in Österreich gegenwärtig die Idee diskutiert wird, so wie dies in gewissen anderen Staaten bereits geschehen ist, die gesetzliche Bestimmungen dahingehend zu ändern, dass das eheliche Kind eines ausländischen Vaters und einer österreichischen Mutter neben einer allfälligen ausländischen Staatsangehörigkeit nach dem Vater nach der Mutter auch die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten soll." Zeit, den Gender-Geist aus der Flasche zu lassen. In Hochzeiten des beginnenden Feminismus war das nicht mehr zu schlucken. Mü-Bu empfahl eine Eingabe beim europäischen Gerichtshof. Dies wurde aufgrund anderer Prioritäten dann nicht weiterverfolgt…

    Auch der Schauspieler Christoph Waltz kann ein Anekdote beisteuern. Mit österreichischer Mutter und deutschem Vater war er qua Gesetz Deutscher. Nach seinem Durchbruch in Hollywood wurde ihm 2012 generös die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Er hatte sich „um Österreich verdient gemacht. Waltz genervt: Ich bin in Wien geboren, ich bin in Wien aufgewachsen, ich bin in Wien zur Schule gegangen, ich habe in Wien Matura gemacht, ich habe in Wien studiert, ich habe in Wien mein Berufsleben begonnen, ich habe in Wien zum ersten Mal Theater gespielt, ich habe in Wien zum ersten Mal gedreht, es gibt noch ein paar Wiener Details. Wie österreichisch wollen Sie es denn noch haben?"

    Ich selbst firmierte weiterhin unter meinem Mädchennamen und absolvierte die Ausbildung zur Logopädin selbstverständlich unter diesem Namen. Mit Schuleintritt von K1, Familienname Müller-Busch, begann das Konstrukt zu bröckeln.

    „Guten Tag Frau Müller-Busch, wir freuen uns, dass Sie da sind! Die Begrüßung am ersten Tag im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke im Jahr 1985, signalisierte mir, jetzt ist der West-Berliner Spaß vorbei. Als ich im Berufsverband aktiv wurde, besann ich mich meines Dreifach-Namens nach deutschem Recht. So würden mich die Logos im fernen West-Berlin am ersten Namensteil wiedererkennen. Das Konzept ging auf, obwohl viele Menschen Mühe mit dem Namen hatten und haben. Bei einem meiner ersten Vorträge half es ungemein gegen das Lampenfieber, als sich der Sitzungsleiter bei meiner Ankündigung beim Dreifach-Namen verhaspelte. Ein Glücksgefühl verspürte ich, als Kollege Marc Schneider auf einer Mitgliederversammlung rhythmisch und stolperfrei sagte: Wie schon meine Vorrednerin Ricki Nusser-Müller-Busch erwähnte…" Geschafft! Becker-Faust!

    Alle Jahre wieder: Weintrauben, Reisgebäck, Staubsauger im Hals

    Ich kann die Uhr danach stellen. Anfang Januar, Jahr für Jahr ist es in den Tageszeitungen zu lesen. Es ist Brauch in Spanien in den letzten zehn Sekunden vor Mitternacht pro Sekunde eine Weintraube in die Luft zu werfen, mit dem Mund aufzufangen und zu schlucken. Das endet hin und wieder desaströs. An Neujahr sterben in Japan alte Menschen nach dem Verzehr von Mochi. Dieser klebrige Reiskuchen hat die Eigenschaft, im Rachen und Kehlkopf stecken zu bleiben. Hier eine gute Nachricht. Eine couragierte Tochter habe zum Staubsauger gegriffen, das Gebiss aus dem Mund des Vaters entfernt, den Schlauch in den Hals eingeführt und auf höchste Stufe gestellt. Hat geklappt!

    Sensibilisiert für das eigene und das Schlucken Anderer begegnen mir in vielen Büchern und Filmen Szenen zum Schlucken und Verschlucken. Beim Death Cleaning finde ich vergilbte Zeitungsausschnitte. Ein Autofahrer verschluckt sich während der Fahrt, verliert die Kontrolle über sein Fahrzeug und löst eine Kettenreaktion aus. Sein Kleintransporter kommt von der Straße ab, kracht gegen mehrere Autos. Das mitschleifende Werbeschild beschädigt noch weitere Fahrzeuge. Das macht hunderttausend Euro Schaden. Wir lernen: Nicht beim Fahren essen!

    Spiegel online schreibt, ein Mann will in einem Mindener Supermarkt ein gebratenes Hähnchen nicht bezahlen. Ertappt versucht er, den Hühnerschenkel „in sich hineinzustopfen". Er verschluckt sich am Knochen. Der Rettungsdienst muss kommen. Eine Strafanzeige und Hausverbot sind die Folge. Ein 1,4 Meter langer Wels verstirbt beim Verzehr einer Schildkröte, die dabei ebenfalls das Zeitliche segnet. Zwischendrin eine gute Nachricht. Eine Studie aus Schweden legt nahe, dass Bewegung in Form moderater Alltagsaktivitäten wie Hausarbeit das Risiko an Parkinson zu erkranken senkt. Also los!

    Halstücher, Föhn, Bohrmaschine und Mixer sind gefährliche Gerätschaften. In meiner jahrzehntelangen Fortbildungstätigkeit bin ich immer am Puls der Zeit. Ich bekomme brandneue Modetrends mit, wie das Aufkommen der Tattoos, lange aufgeklebte Wimpern und überdimensionierte Halstücher. Kursteilnehmer*innen tragen oft große wärmende Tücher um den Hals, die sie auch beim Üben der Techniken nicht ablegen. Das lässt mich regelmäßig zu einer Warnrede anheben. Ich berichte dann über zwei Patient*innen, die sich beinahe strangulierten. Eine erlitt ein lebenslanges Trauma, als sich ihr Tuch in der Bohrmaschine verfing. Ihr Zungenbein war auf einer Seite abgebrochen, das konnte mein HNO-Kollege, von dem noch zu hören sein wird, reparieren.

    Aber eine posttraumatische Belastungsstörung kann Mann nicht wegoperieren. Nur wenn sie vom Sofa mit leicht nach links geneigtem Kopf zum Fernseher schaute, konnte sie die Chips gut schlucken. Ihre Probleme beschäftigten uns lange in der ambulanten Therapie. Linderung verschaffte ihr die Technik zur Dämpfung des vegetativen Nervensystems.

    Meine Kollegin Barbara Augustin erzählt, dass sie sich als Jugendliche fast mit dem Föhn skalpiert hätte. Ein Stück der Kopfhaut mit den darauf befindlichen langen Haaren war weg. Im Herbst 2019 lese ich eine tragische Nachricht. Die Mutter, die ihrem Sohn einen Geburtstagskuchen backen wollte, strangulierte sich mit Mixerkabel und Halstuch. Sie hat es nicht überlebt.

    Tribute to Henry Heimlich

    Was haben Cher, Ronald Reagan, Elizabeth Taylor, Goldie Hawn, Walter Matthau, Carrie Fisher and Jack Lemmon gemeinsam?

    Sie alle wurden durch den Heimlich-Handgriff gerettet. Mit dieser Sofortmaßnahme können bei drohendem Ersticken Essensreste oder Fremdkörper – aber auch zähes Sekret bei Asthma-Anfällen – aus dem Kehlkopf oder der Luftröhre gelöst werden. Durch Kompression des Bauchbereichs soll möglichst viel Luft aus den Lungen nach oben befördert werden. Wenn es klappt, gibt es den geräuschvollen Effekt eines Sektkorkens, der von der Flasche fliegt. Das kann ich bezeugen. In New York fotografierte ich 1991 die Plakate mit dem lebensrettenden Handgriff, die auf behördliche Anordnung in allen Lokal hingen.

    Der US-amerikanische Arzt Henry Heimlich entwickelte diesen Handgriff und unterrichtete ihn, ohne ihn während seiner Berufstätigkeit je selbst anzuwenden. Mit dem Heimlich Manöver – in der US-Medizin hat die Kriegssprache Eingang gefunden – rettete Henry indirekt die Leben hunderttausender Menschen. Er selbst hat den Handgriff zweimal anwenden müssen. Einmal als 80-jähriger in einem Restaurant und das zweite Mal im hohen Alter von 96 Jahren, sieben Monate bevor er starb. In der Seniorenresidenz in Cincinnati rettete er im Mai 2016 seine 87-jährige Mitbewohnerin Dorothy, die sich an einem Stück Burger verschluckt hatte.

    Köche scheinen zur Hochrisikogruppe zu gehören. Alle paar Jahre kann frau es in der Zeitung lesen. Sie gehen nach dem stressigen Restaurantjob spät nachts zu Hause an den Kühlschrank, um sich noch ein Stück Fleisch zu gönnen, das ihnen dann im Halse stecken bleibt. Seit einiger Zeit ist der Handgriff wegen zu häufiger Komplikationen umstritten. Er soll nicht bei Schwangeren und alten Menschen angewendet werden. Ersticken lassen oder Rippenbrüche riskieren? In meinem Fachgebiet ist die Intervention manchmal unvermeidlich. Also habe ich mir die Technik angelesen. Naiv dachte ich, der Griff heißt heimlich, weil frau den um Luft ringenden Menschen von hinten mit beiden Armen umfasst. Das Missverständnis klärte sich auf. Eine Kollegin, die Patientin im Herdecker Querschnittzentrum war, zeigte mir, wie sie das Verfahren modifiziert anwendet. Von der Brustwirbelsäule abwärts gelähmt und im Rollstuhl sitzend warf sie bei gegebenem Anlass ihren Oberkörper nach vorne über einen Stuhl, um besser abhusten zu können. Von wegen heimlich…

    Mir ging es ähnlich wie Henry Heimlich. Ich habe den Handgriff jahrelang unterrichtet. Bis dann die Stunde des Einsatzes kam. Die Vorgeschichte geht so: Der an Alzheimer erkrankte Boxweltmeister Bubi Scholz erstickte im Jahr 2000 an einem Stück Toastbrot in einem Brandenburger Pflegeheim. Die Zeitung mit den vier Buchstaben schlachtete die Story tagelang aus. Die Mitarbeiter*innen im Pflegeheim waren geschockt und schickten sofort einen Patienten zu uns ins Unfallkrankenhaus Berlin, der sich immer wieder an geschnittenen Apfelstückchen verschluckte. Ich untersuchte ihn, meldete ihn in der Schlucksprechstunde an und verordnete bis dahin passierte Kost. Als ich ihn das zweite Mal aufsuchte, hörte ich ihn schon auf dem Flur besorgniserregend husten. Ich drückte die Klingel und stürzte ins Zimmer. Nun war es soweit! Von hinten umfasste ich den Patienten und führte die Oberbauchpresse aus. Fehlanzeige, zweites Mal: wieder nichts. Beim dritten Mal war das Timing von Husten

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