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Ciompi reflektiert: Wissenschaftliches, Persönliches und Weltanschauliches aus der Altersperspektive
Ciompi reflektiert: Wissenschaftliches, Persönliches und Weltanschauliches aus der Altersperspektive
Ciompi reflektiert: Wissenschaftliches, Persönliches und Weltanschauliches aus der Altersperspektive
eBook307 Seiten3 Stunden

Ciompi reflektiert: Wissenschaftliches, Persönliches und Weltanschauliches aus der Altersperspektive

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Über dieses E-Book

Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann.


Gegen Ende des Lebens macht man sich Gedanken: über eigenes wie fremdes Erleben, über besondere Vorkommnisse, über den allgemeinen Lauf der Welt und die eigene, persönliche Stellung und Rolle in diesem so schwer fassbaren großen Ganzen, über Erreichtes und Verpasstes, über Vergessenes und plötzlich wieder Erinnertes, über das Wie und warum alles gerade so und nicht anders gekommen ist, und ob diesem Ganzen wohl irgendein Sinn oder doch Folgerichtigkeit abzugewinnen ist. Solche und ähnliche Fragen treiben Luc Ciompi um. Ihn verlangt es, Antworten zu finden. Dass sich dabei allgemeine und wissenschaftliche Probleme auch mit allerhand Persönlichem mischen, ist ein Gewinn für die Leserschaft. Sie wird Zeugin eines reichen Lebens und Geistes.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Nov. 2020
ISBN9783647999951
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    Buchvorschau

    Ciompi reflektiert - Luc Ciompi

    PERSÖNLICHES

    Schreiben und Wandern

    Schreiben ist für mich schon immer eine Art von Passion gewesen. Bereits in der Sekundarschule und vor allem dann im Gymnasium schrieb ich gern Aufsätze, zuweilen auch kleine Geschichten oder Gedichte. In der Adoleszenz wähnte ich mich eine Zeit lang sogar, von Rilke, Hesse und Thomas Mann schwärmend, zum Schriftsteller oder Dichter berufen. Doch kaum dass ich nach der Matura dann tatsächlich ein Literaturstudium begonnen hatte, wurde mir über der scheinbaren Beliebigkeit und Uferlosigkeit der Geisteswissenschaften richtiggehend schwindlig. Ich hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und wechselte nach knapp einem Semester fluchtartig zur Medizin.

    Zu Recht? Wer kann das wissen? Was wäre aus mir geworden, wenn ich damals mehr Ausdauer gezeigt und dann – vermutlich – auch in der Literatur allmählich Tritt gefasst hätte? Jedenfalls bereue ich meine Kehrtwende nicht. Die Naturwissenschaften, die Medizin und darin dann vor allem die Psychiatrie haben mich reich beschenkt und entschädigt, obwohl natürlich auch sie mein ständiges Fragen nach dem Menschen und dem großen Ganzen nicht zu stillen vermochten.

    Ein Lebenselixier

    Allerdings dachte ich mir insgeheim schon damals, dass sich meine Freude am Schreiben, wenn dies denn meine Bestimmung wäre, so oder so irgendwie durchsetzen würde. Und tatsächlich griff ich in der Folge insbesondere dann immer wieder zur Feder, wenn ich quälende Unklarheiten schreibend überwinden oder plötzlich erlangte Klarheiten schwarz auf weiß festhalten wollte. So füllten sich im Lauf der Jahre Tausende von Seiten mit Notizen bald mehr wissenschaftlicher und bald mehr persönlicher oder (im weiten Sinn) philosophischer Art. Diese Notizen wurden mehrfach auch zum Nährboden für größere Buchprojekte; im Buch »Außenwelt – Innenwelt« (1988a) habe ich Auszüge sogar direkt in meine Texte eingebaut.

    Obwohl kein Schriftsteller aus mir geworden ist, ist Schreiben für mich doch so etwas wie ein Lebenselixier geworden. Ich feile gern wochenlang an schwierigen Texten herum, suche tagelang nach einem passenden Ausdruck oder Wort und empfinde die Freude, wenn ein kleiner Passus oder auch ein größeres Werk dann endlich befriedigend »zur Sprache gebracht« (und damit auch »mitgeteilt«, d. h. mit einer potenziellen Leserschaft geteilt ist), immer neu als beglückendes Fallen in eine Stimmigkeit.

    Wandern

    Schreiben ist auch eine Art von Gehen oder Wandern. Man fängt irgendwo an, ist dann lange bei wechselndem Wetter unterwegs und kommt schließlich, wenn alles gut geht, müde aber glücklich am Ziel an.

    Meine andere Passion ist in der Tat das Wandern. Wie viel bin ich doch immer wieder gewandert, bald in den Bergen oder am Meer, mehrfach in Umbrien oder auf Kreta, immer wieder auch in meinen geliebten Calanques zwischen Marseille und Cassis und noch in den letzten Jahren, soweit mein Hinkebein dies zuließ, in Etappen auf dem Jakobsweg quer durch die Schweiz von Konstanz bis Genf. Vielfach allein, manchmal auch in Gesellschaft, immer aber berückt vom Zauber des langsamen Vorankommens, Schauens und Entdeckens auf neuen oder auch altbekannten Wegen.

    Schreiben und Wandern ergänzen sich vorzüglich. Fuß- und Denkwege haben viel gemeinsam: Hier wie dort gibt es schwierige Passagen, unverhoffte Abkürzungen, Umwege und Holzwege. Nicht selten löst sich ein mühsamer Schreibknoten im langsamen Rhythmus des Gehens wie von selbst, oder es kommt plötzlich eine treffende Wendung, ein guter Übergang oder ein überraschender Durchblick in Sicht.

    Erst jetzt, beim Abfassen dieser Zeilen ist mir klar geworden, dass meine Schreib- und Denklust seit jeher auch im Dienst der Identitätsbefestigung stand. Dies und jenes habe ich erlebt, getan oder gedacht, diese Stellung bezogen und jene verworfen, das bin »ich«. Im Hintergrund rumort offenbar selbst noch im hohen Alter die ewige Kindheits- und Jugendfrage in meinem Kopf herum, wer ich eigentlich bin, wo ich hingehöre und was ich hienieden zu suchen habe.

    Ich bin kein Philosoph

    Ich bin – leider – weder ein »g’studierter Philosoph« (wie wir hierzulande sagen) noch Theologe. Dennoch haben mich schon von klein auf die gleichen Grundfragen ständig beschäftigt, die sich auch die professionellen Denker seit jeher stellten: Wer und wo bin ich? Wo komme ich her und wo gehe ich hin, und wie und warum und mit welchen Zielen? Und ebenfalls: Was kann ich eigentlich wissen und erkennen, oder vielmehr: Kann ich überhaupt irgendetwas sicher wissen? Und wie steht es mit dem Glauben? An einen Gott, an die Natur, oder an was sonst?

    Schweizer oder Italiener?

    Warum die Frage, wer ich bin? Vielleicht weil ich während meiner ersten fünf Lebensjahre aus Gründen, die mir noch heute nur zum Teil klar sind, alle paar Wochen oder Monate zwischen Italien und der Schweiz – oder besser gesagt: zwischen der Toskana und dem Emmental – hin- und hergeschoben wurde und deshalb nie recht wusste, wer ich war und welcher dieser beiden gegensätzlichen Welten ich eigentlich angehörte. War ich Italiener oder Schweizer? Gehörte ich eher zu dem (meist abwesenden) italienischen Vater und seiner ebenfalls kaum je präsenten Familie, oder zu der für mich schon immer irgendwie unheimlichen »Mamma« aus der Schweiz? An keinem ihrer ständig wechselnden Aufenthaltsorte, von Pontedera, Florenz, Pisa, Rimini, Riccione und Cattolica bis Mercantino Conca (ein kleines Nest in der Provinz Pesaro, wo mein Vater eine Zeit lang als Gemeindearzt oder medico condotto tätig war), zwischen denen Mamma meine Schwester und mich ständig hin- und herschleppte, hatte ich Wurzeln schlagen können.

    Oder war ich eigentlich in der zwar immer gleich behäbigen, aber wegen der ungewissen Dauer meiner dortigen Aufenthalte dennoch unbeständigen Schweizer Dorfwelt von Worb am Rand des Emmentals zu Hause – bei der liebevollen Großmutter (die bezeichnenderweise sogar die Angestellten nur »ds Muetti« nannten), den vielen gemütlichen Großtanten und dem geschäftigen Onkel Gottfried (dem »Unggi«) und seinen freundlichen Angestellten im Käseexportgeschäft, dessen Leitung er nach dem frühen Herztod seines Vaters als Zwanzigjähriger hatte übernehmen müssen?

    Für die Worber Dorfjungen (und sicher auch für manche Erwachsene) blieb ich lange, bis ich schließlich Mittel und Wege fand, ihnen zu imponieren, bloß der »Tschinggu«, ein vom italienischen cinque (»fünf«) abgeleiteter Spottname für Italiener. In Italien dagegen galt ich (wenn ich überhaupt irgendetwas galt, denn ich hatte außerhalb der Familie praktisch keine Kontakte) als der Fremde, lo Svizzero – eine höchst prekäre Situation, die mir indessen, wie mir erst viel später bewusst wurde, auch mancherlei Gewinn eingebracht hat: Ich musste mich immer wieder neu anpassen; ich musste ständig umlernen, nicht nur sprachlich, sondern ebenfalls im ganzen Lebens- und Umgangsstil, und wurde dadurch wahrscheinlich früh schon besonders wendig und eigenständig sowohl in meinem krausen kindlichen Denken wie, gezwungenermaßen, bald einmal auch im Handeln.

    Doppelzüngige Erwachsene

    Denn bei den Erwachsenen fand ich, wie mir im Rückblick scheint, kaum Hilfe. Eher im Gegenteil, ihr Verhalten verwirrte mich zusätzlich – so wie etwa jener Kari (Karl), ein Büroangestellter meines Onkels, der mich jedes Mal, wenn ich aus Italien wieder in Worb eintraf, zu fragen pflegte, wo es mir besser gefalle, in Italien oder der Schweiz. Als ich einmal ganz wider seine Erwartung antwortete: »in Italien«, nahm er mich bedeutungsvoll beiseite und erklärte mir, dass ich, um gut angeschrieben zu sein, in der Schweiz immer sagen müsse, hier gefalle es mir am besten, während ich in Italien das Gegenteil versichern solle. Eine Welt brach in mir zusammen, hatte man mir doch beigebracht, dass Lügen eine Sünde sei. Dass ein so respektabler Erwachsener wie der Kari mich unverblümt dazu aufforderte, die Unwahrheit zu sagen, gab mir unendlich zu denken: Offenbar sprachen die Erwachsenen eine doppelte Sprache. Wie sollte ich denn einem bisher als Freund eingestuften Menschen wie dem Kari noch trauen, wenn er mich gleichzeitig zum Lügen anstiftete?

    Eine verblüffende Entdeckung

    Ein ganz anderes Erlebnis aus jener Zeit, das mir bedeutsam scheint, war die Entdeckung, dass Schmerz wie durch Zauberei verschwinden kann: Auf den parkartigen Wegen rund um die herrschaftliche Jugendstilvilla in Worb, wo ich unter der Obhut von Onkel und Großmutter meine kurzen Schweizer Aufenthalte verbrachte, waren zwei Arbeiter im Begriff, grobkörnigen Kies zu verteilen, auf dem barfuß zu laufen äußerst schmerzhaft war. Dennoch wagte ich mich einmal, baren Fußes vorsichtig auf den Kieselsteinen balancierend, bis zur Straße beim Parkeingang vor, wo ein paar Jungen meines Alters herumstanden, mit denen ich gern Kontakt aufgenommen hätte. Doch kaum war ich in ihre Nähe gelangt, so fingen sie an, mich zu hänseln und drohten sogar, mich zu verprügeln, wenn ich mich nicht schleunigst aus dem Staube mache. Worauf ich voller Angst in gestrecktem Galopp über den ganzen Kiesplatz bis zum sicheren Hauseingang fegte – und erst dann mit Staunen bemerkte, dass meine Füße den groben Kies überhaupt nicht gespürt hatten.

    Dieses überraschende Erlebnis hat sich mir wohl nicht nur deshalb tief ins Gedächtnis eingegraben, weil in mir dabei zum ersten Mal eine Spur von Stärke und Robustheit statt der gewohnten Schwächlichkeit zum Vorschein kam. Es führte mir auch erstmals drastisch vor Augen, dass die Wahrnehmung ein und derselben Wirklichkeit je nach Gefühl und Situation enorm variieren kann.

    Farbige Fensterscheiben

    Dazu kommen mir grad noch die farbigen Fensterscheiben auf dem Balkon des Hofmatt-Stöcklis¹ in der Nähe unseres Hauses in den Sinn, durch die ich bei meinen gelegentlichen Besuchen bei zwei alten und von allen »Tante Elise« und »Tante Anna« genannten Schwestern mit immer neuem Staunen die Welt in radikal verschiedenen Färbungen und Stimmungen wahrnehmen konnte: In blau bekam sie etwas Feenhaftes, in grün etwas merkwürdig Verzerrtes, und in rot fast etwas Unheimliches. Ich glaube, nicht fehlzugehen, wenn ich in diesen schon damals sehr bewusst bedachten Erlebnissen erste Keime zu meiner viele Jahrzehnte später entwickelten Theorie der Affektlogik vermute.

    1Ein »Stöckli« ist eine kleine Alterswohnung, die im Emmental traditionell neben den großen bernischen Bauernhöfen steht.

    Ein Durchschnittsmensch

    Ich bin ein Durchschnittsmensch, ein uomo qualunque (beliebiger Mensch), und als solcher möchte ich auch beschreiben, wie es im Alter ist, oder sein kann. Denn durchschnittlich heißt ja auch: irgendwie repräsentativ.

    Aber repräsentativ wofür? Und Durchschnitt wovon? Bin ich ein durchschnittlicher alter Mann von heute? Ein durchschnittlicher Psychiater oder emeritierter Universitätsprofessor und -forscher? Ein durchschnittlicher Familienvater und Ehemann? Vielleicht ein durchschnittlicher Schweizer (oder vielmehr »Papierlischweizer«, wie mir der Spottname plötzlich durch den Kopf schießt, mit dem die »echten« Schweizer in meiner Jugend naturalisierte Ausländer wie mich zu betiteln pflegten)? Oder verkörpere ich vielleicht so etwas wie einen aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert stammenden und merkwürdigerweise vom Krieg verschonten Westeuropäer, den es wider Erwarten noch weit ins einundzwanzigste Jahrhundert hinein verschlagen hat?

    All das stimmt ein Stück weit, nichts ist ganz falsch – und doch ist nichts von all dem einfach Durchschnitt. Der Durchschnittsmensch ist ein fiktiver Mittelwert aus allen nur möglichen Über- und Unterdurchschnittlichkeiten. Jeder Mensch ist auf seine Weise einzigartig. Und somit bin auch ich durchschnittlich einzigartig. Und wie ich lebe und denke oder schreibe mag zwar in irgendeiner Weise repräsentativ sein – aber für etwas, das ich nicht genauer zu fassen vermag.

    Meine verrückte Mutter

    Meine Mutter, Klara Ciompi geb. Lehmann, am 16. September 1902 in Langenthal auf die Welt gekommen und gestorben am 19. Februar 1974 in der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau bei Bern, Mamma genannt, war verrückt, Diagnose: schleichende Schizophrenie, wie in der Krankenakte, die ich als junger Assistenzarzt in ebendieser Klinik anno 1957 einmal heimlich studiert habe, zu lesen war.

    Eine exzentrische Frau

    Wer war diese »Mamma« in Wirklichkeit? – Nach Fotos zu schließen, war sie eine ausgesprochen schöne, feinfühlige und etwas schwermütig wirkende Frau mit großen dunklen Augen. Sie war lange als Einzelkind der Liebling ihres Vaters, bis sie siebenjährig von ihrem Bruder Gottfried (*1909) und zwei Jahre später auch noch von ihrer Schwester Elisabeth (genannt Bethli, *1911) entthront wurde – ein offenbar schlecht verwundenes Trauma, denn einerseits soll sie »das Gottfriedli« abgöttisch geliebt und gepflegt, ihm andererseits aber auch mehrfach explizit den Tod gewünscht und ihn tatsächlich einmal lebensgefährlich vernachlässigt haben.

    Jedenfalls galt »das Kläry« allen Berichten gemäß schon immer als etwas eigentümlich und unberechenbar bis exzentrisch: Sie trieb Sport und fuhr Ski schon in den Zwanzigerjahren und verbrachte Jahre in exklusiven Haushalts- und Sprachschulen, ohne (wie das bei Töchtern aus gutem Haus damals üblich war) je »etwas Rechtes« zu lernen. Als sie ungefähr sechsundzwanzig Jahre alt war, brachte sie mein Großvater Gottfried Lehmann senior, ein Bauernsohn aus dem Emmental, der sich nach einer kaufmännischen Lehre und einer glücklichen Erbschaft zum erfolgreichen Käseexporteur mit weit verzweigter internationaler Kundschaft aufgeschwungen hatte, zum Sprachstudium zu Geschäftsfreunden nach Florenz. Das Kläry habe damals, gleich wie die ganze Familie, einen richtigen Italienfimmel gehabt, in Florenz mit italienischem Jungvolk ein lustiges Leben geführt und dort dann meinen Vater Manlio Ciompi, einen hübschen, schlanken und um sechs Jahre jüngeren Medizinstudenten kennengelernt. Nach anfänglichem Zögern sollen insbesondere die Schweizer Eltern auf Heirat gedrängt haben, offenbar in der Hoffnung, ihre immer etwas unstabile Tochter dadurch zu festigen. 1928 heirateten Klara Lehmann und Manlio Ciompi, im Oktober 1929 wurde ich in Florenz geboren und anderthalb Jahre später folgte meine Schwester Lill (Liliana).

    Erste Anzeichen von Verrücktheit

    In diese Zeit müssen verschiedene traumatische Ereignisse gefallen sein, denen die verletzliche und in keiner Weise auf eine komplizierte Ehe vorbereitete Frau nicht gewachsen war, darunter nicht nur die prekäre Partnerschaft mit einem um sechs Jahre jüngeren Medizinstudenten, der chronische Geldmangel und die zwei rasch aufeinanderfolgenden Schwangerschaften, sondern offenbar auch eine vorübergehende Liebesaffäre meines Vaters mit einer nahen Verwandten Mammas kurz vor Lills Geburt. Jedenfalls soll Mamma nach den zwei Schwangerschaften immer auffälliger geworden sein; mich soll sie schon als kleines Kind, wie die jüngere Schwester meines Vaters wiederholt berichtet hat, schwer vernachlässigt haben. Sie hätte mich oft stundenlang schreien lassen und sei, statt mir die Brust zu geben, einfach spazieren gegangen. Auch hätte sie seit Anfang der 1930er Jahre eine krankhafte Bakterienangst entwickelt und fortwährend (woran auch Lill und ich uns noch sehr gut erinnern) alles Mögliche – Möbel, Gegenstände und insbesondere Türklinken – mit dem Desinfektionsmittel Lysoform gereinigt. In ihren absonderlichen Verhaltensweisen konnte sie unbändige Energien entfalten, die alle Widerstände brachen und die Umgebung zur Verzweiflung trieben. Daneben aber war sie, wie ebenfalls einige Fotos bezeugen, auch eine passionierte Skifahrerin und Sportlerin, die – wie es hieß – mit Geld nicht umzugehen wusste, mit verschiedenen Skilehrern befreundet war und unstet von Hotel zu Hotel zog.

    Schleichende Verschlimmerung

    So anfänglich auch noch in Grindelwald im Berner Oberland, wohin sie Lill und mich im Winter 1938/39 richtiggehend verschleppt hatte. Nach mehrfachem Umzug landeten wir in der Pension Eigerblick ganz hinten im Dorf, wo sie im Lauf des folgenden Jahres immer stiller und stiller wurde, bis sie schließlich, ins Leere starrend, nur noch tagaus tagein auf immer derselben kleinen Holzbank vor einer Scheune in der Nähe der Pension saß und sich um Lill und mich praktisch überhaupt nicht mehr kümmerte – abgesehen davon, dass sie uns ab Frühsommer 1939 streng verbot, zur Schule zu gehen. Es begann eine herrliche, mehr als anderthalb Jahre währende schulfreie Zeit, die wir beide, zunehmend ungebunden und selbstständig, zu unendlichen Spielen und Streifzügen kreuz und quer durch die Berge ausnutzten, ohne dass uns, allen Gefahren zum Trotz, je etwas Ernsthaftes passiert wäre.

    Berechtigte Angst

    Eine Begründung für ihr sonderbares Verhalten gab Mamma nicht, alles ging in der Folge für jedermann einfach auf das Konto ihrer Verrücktheit. Dass so lange niemand eingriff, hatte sicher viel damit zu tun, dass rund um die Schweiz Krieg herrschte, alle waffenfähigen Männer mobilisiert waren und Behörden wie Nachbarn ebenso wie die ferne Worber Familie zweifellos Wichtigeres zu tun hatten, als sich um zwei Kinder zu kümmern, die irgendwo in den Bergen nicht mehr zur Schule gingen. Erst lange nach dem Krieg und dem tragischen Unfalltod unseres Vaters – er wurde im Februar 1944 auf dem Weg zu seinen Patienten in der Nähe von Pontedera bei Pisa auf seinem Fahrrad von einem deutschen Militär-Lkw überfahren und tödlich verletzt – kam indes an den Tag, dass Mamma uns offenbar deshalb so tief in den Bergen versteckt und nicht mehr zur Schule geschickt hatte, weil sie ständig, und zwar zu Recht, eine Kindesentführung durch meinen Vater oder vielmehr durch jesuitische Helfershelfer aus der Schweiz nach Italien befürchtet hatte. Jedenfalls gab die Schwester des Vaters Lill gegenüber später mehrfach unmissverständlich an, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr 1940 die Vorbereitungen zur Aufnahme von Lill und mir in Pontedera schon so weit gediehen waren, dass zwei frisch bezogene Betten für uns bereitstanden.

    Im Übrigen fürchteten Lill und ich Mamma mehr als dass wir sie liebten, wenn sie auch in einigen ganz seltenen lichten Momenten plötzlich mal überraschend lieb und sogar weich sein konnte. Für gewöhnlich aber war sie eigentümlich starr, ernst und eigentlich fast ausschließlich verbietend. An irgendwelche Zärtlichkeiten, wie etwa je auf den Schoß genommen, umarmt oder auch nur zärtlich berührt worden zu sein, kann ich mich jedenfalls in keiner Weise erinnern, auch nicht in früher Kindheit. Eingeprägt hat sich mir dagegen, wie Mamma nicht selten im zweiten Stock der elterlichen Villa, wo wir ab 1943 im Anschluss an ihren Klinikaufenthalt zu dritt in einer chaotischen Notwohnung wohnten, mit wuchtigen und das ganze Haus erschütternden Schritten im Korridor auf und ab ging und Unverständliches vor sich hin schimpfte. Einmal stürmte sie sogar ins schöne, mit Perserteppich und Lüstern ausgestattete »große Zimmer« neben den Büroräumen im Erdgeschoss hinunter, das ihrem Bruder als Empfangs- und Konferenzraum für noble Kunden diente, und sagte dem erschrockenen Mann vor einer Gruppe von belgischen Geschäftsfreunden mit gewaltiger Stimme Unsägliches.

    Ein chaotischer Haushalt

    Zumeist aber lag sie völlig passiv bei verdunkelten Fenstern und zusammengerollten Teppichen in ihrem Zimmer im Bett, oder vielmehr in einem der drei Zimmer der Wohnung, die sie, kaum hatten Lill und ich uns in einem von ihnen halbwegs wohnlich eingerichtet, nacheinander gewaltsam mit Beschlag belegte. Überall hortete sie in Schubladen und Taschen verfaulende Esswaren vermischt mit Geld und Abfällen. Etwas Sinnvolles im Haushalt getan oder gar gekocht hat sie nach meiner Erinnerung nur ein einziges Mal, nämlich am Tag unseres Einzugs in diese Wohnung, den sie dank ihrer unglaublichen Hartnäckigkeit gegen die Skepsis von Verwandten und Ärzten hatte durchsetzen können. Lill und ich (vor allem Lill) besorgten während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, bis ich nach bestandener Maturitätsprüfung 1949 endlich ausziehen konnte, den Haushalt völlig selbstständig, vom Kochen und Einkaufen und Einteilen des knappen Haushaltgeldes (300 Schweizer Franken pro Monat) und der im Krieg streng rationierten Lebensmittel bis zum hektischen Putzen der Wohnung, wenn alle paar Monate einmal der

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