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Shakroeïk
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eBook580 Seiten7 Stunden

Shakroeïk

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Über dieses E-Book

Unter dem roten Mond Eishor geraten die alten Ordnungen ins Wanken. Neue Kräfte fordern die Araë des Schwarzen Reiches Taïn, die Klans des Weißen Reiches Ehortt und den Memeh des Goldenen Reiches Sewasdar heraus. Fortschritt und Krieg verändern das Angesicht der Welt. Wer wird die Hoffnung auf eine bessere Zukunft erfüllen - oder alle ins Verderben stürzen?
Dies ist die Geschichte einer Ära, von der Gründung eines neuen Staates, von umstürzlerischen Ideen, von der Verführung der Macht und vom Versprechen der Freiheit. Dies ist die Geschichte von Sharnog, Ataeïr, Alnika und Esaë.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Dez. 2021
ISBN9783347468832
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    Buchvorschau

    Shakroeïk - Jan Schwarz

    SHARNOG

    Radaesh um 300 Raekun Araë: im hohen Norden das Weiße Reich Ehortt, im fernen Süden das Goldene Reich Sewasdar und in der Mitte des Schwarze Reich Taïn.

    ERSTES KAPITEL

    „Eit ogi daloert leän amidoë, sae eit leän."

    Du willst einfach mehr sein, als du bist.

    Das schwarze Wasser des Airini Almaën¹ schäumte und toste. Wolkentürme stürzten auf die Welt; das Grollen des Donners hallte wider in ihrer Weite. Schwere Wellen schlugen gegen den Rumpf eines Schiffs, das einsam durch den Sturm tanzte. Ein Blitz erhellte das Deck, die vielen Taue, die gerefften Segel, die Galionsfigur und die durchnässte Besatzung. Die Seeleute schlitterten über die Planken, brüllten einander Anweisungen zu und steuerten das Segelschiff durch die wütenden Wassermassen gen Osten.

    Am Bug klammerte sich Sharnog an die Reling, während der Wind ihm den Regen entgegenpeitschte. Das hellbraune Haar lockte sich hinter seinen Ohren; dünne Strähnen beugten sich über seine hohe Stirn. Sein Gesicht war kantig und hager. Die Nase ragte kaum weiter hervor als die leichte Wulst über den tiefliegenden grauen Augen. Seine Brauen waren dick, die Lippen dagegen nur eine schmale Linie zwischen eingefallenen Wangen.

    Wie ein Bühnenvorhang glitten die Gewitterwolken langsam zur Seite und offenbarten den riesigen blutroten Eishor² am Himmel. Dessen schwaches Licht ließ durch den Regenschleier die Küste von Taïn erahnen. Schaukelnde Masten hunderter Schiffe nahmen Gestalt an, morsche Stege und schließlich hölzerne Häuser. Ihre Pultdächer waren leicht nach Westen geneigt. Zwischen nackten und scharfen Felsen drängelten sie sich auf einem steilen Hang; die neueren schimmerten in der Dunkelheit, die älteren verschmolzen mit ihrer Umgebung. Nur flackernde Lampen hinter den Fenstern verrieten sie, kleine Lichtpunkte in der Ferne.

    „Blasses, trauriges Land." Sharnog verschränkte die Arme vor seiner knittrigen schwarzen Weste und dem sandfarbenen Hemd darunter. Um seinen Hals trug er weniger unscheinbaren Stoff: ein grünes Tuch, bestickt mit goldenen Mustern.

    An Sharnogs Seite trat eine große Frau, viele Furchen im Gesicht, das weißblonde Haar auf dem gebräunten Kopf kurz geschnitten. „Wir kehren endlich heim!", rief sie fröhlich, mit krächzender Stimme.

    Sharnog beobachtete schweigend, wie die hölzerne Galionsfigur, sein Vater, sich stetig aus den Wellen hob und wieder hineinsenkte.

    „Warum so trübsinnig?", hakte die Frau nach.

    „Woher wir kommen, war mir lieber, antwortete Sharnog. „Es war mir mehr wie Heimat.

    „Ja, das weiß ich!, lachte sie. „Suendat wusste das, darum hat er dich hingeschickt.

    Sharnog schüttelte den Kopf. „Unfug, Laesga. Er wollte uns Geschäfte mit den Sewasdar machen sehen, dass ich ihm nutze. Aber selbst mein Vater kann den Sewasdar nichts anbieten – sie über den Tisch ziehen, ehrlich gesprochen. Dabei sind sie schon viel weiter dort als wir hier. Taïn, was für ein fades Land. Ich kann’s den Sewasdar nicht verdenken: Würde ich leben wie sie, wollte ich mit uns auch nichts zu tun haben."

    „Deinem Vater ging es natürlich ums Geschäftemachen. Trotzdem hat er dich und niemand anderen auf diese Reise geschickt, damit du etwas erlebst!"

    Sharnog spreizte die Finger seiner rechten Hand und zeigte Laesga die vielen goldenen Ringe daran. „Hast du meinen Vater schon mal Schmuck tragen sehen?"

    „Ich glaube nicht, nein."

    „Richtig, denn er ist ein Taïn. So wie du eine bist, Istrueë³ Laesga Raëku Aushfa⁴. Ihr seid alle Langweilerinnen, anders als die Sewasdar. Und mein Vater hat uns bestimmt nicht geschickt, damit ich an einer fremden Kultur Gefallen finde und schöne Dinge mitnehme. Er lockerte das grüne Tuch um seinen Hals. „Suendat hat mich geschickt, damit ich mich beweise. Etwas erleben sollte ich, ja, und zwar wie es ist, Geschäfte zu machen. Ihm geht es bloß ums Geld. Und ich soll den Umgang mit Geld lernen, bevor ich ihm nachfolge.

    „Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder ihnen nachfolgen. Das heißt nicht, dass er dir nicht auch eine Freude machen wollte."

    „Ein ungewöhnlich scharfer Gedanke von dir", grummelte Sharnog und stieß sich von der Reling ab. „Aber er ist falsch, trotz alledem. Ich kenne meinen Vater besser – egal wie gut du ihn zu kennen glaubst. Suendat interessiert sich nur fürs Reichsein, alles andere ist ihm einerlei." Er überquerte das schwankende Deck, vorbei an zitternden Tauen und den Seeleuten, die das Schiff zum Anlegen bereitmachten.

    Laesga zog den aufgestellten Kragen ihres langen Mantels vor dem Gesicht zusammen und folgte ihm. „Alle Menschen interessieren sich fürs Geld, sie haben keine Wahl! Dass dein Vater es sein Leben lang so sorgfältig getan hat, darüber kannst du dich nicht beschweren."

    „Vorsicht, Laesga!"

    „Ich sage nur, du tust ihm Unrecht! Er wollte dir eine Freude machen und dich vorbereiten auf eine Zeit nach ihm. Er wird dir nicht böse sein, falls es das ist."

    Sharnog drehte sich um und drohte mit dem Zeigefinger. „Du gehst zu weit! Das geht dich nichts an. Wir haben ihn enttäuscht, den aufgeblasenen Suendat, so viel ist sicher – doch das ist mir völlig egal. Zum Kotzen finde ich, dass ich jetzt wieder von euch Taïn umgeben bin!"

    Laesga leckte sich nachdenklich über den aufgesprungenen Mund. „Bist du denn keiner von uns?"

    „Mag ich den schlichten, tristen, fahlen Mist, der mich in diesem Reich erwartet? Nein, ich verabscheue diese langweilige Geradlinigkeit. Wie kann ich dann noch sagen, ich sei ein Taïn? Schlimmer: Wie kannst du es noch sagen? Als hättest du das Schiff nie verlassen! Ich begreife es nicht."

    „Na schön, lenkte Laesga ein, „immerhin hast du die Menschen dort unten zu lieben gelernt.

    „Ach was, schnaubte Sharnog. „Wie käme ich dazu, diese Menschen zu lieben? Ich liebe ihre Kunst! Ihre Farben und ihren Größenwahn, ihren Schmuck! Es ist so wenig alles – und so viel. Verstehst du das?

    „Ihr habt Geld – was hindert dich daran, wie die Sewasdar zu leben?"

    „Es spielt keine Rolle, ob ich im Anwesen meines Vaters bunte Stoffe aufhänge oder nicht! Außerdem will ich gar nicht leben wie die Sewasdar, wenn du meinst: den Tag so zu verbringen wie sie. Wir haben gesehen, wie beeindruckend das Werk von Menschen sein kann, wenn sie nur wollen! Beeindruckend – das ist es. Taïn ist im Vergleich zu Sewasdar sterbenslangweilig! Spürst du das nicht auch? Mir gefallen unsere Bauwerke nicht, mir gefällt unsere Sprache nicht und die Politik gefällt mir sowieso nicht. Wir könnten so viel größer sein."

    Laesga dachte erneut nach. Das Schiff war inzwischen in den Hafen eingelaufen und wurde nun festgemacht. „Du hättest gern, dass wir reden wie die Sewasdar?", fragte sie.

    Sharnog verdrehte die Augen. „Natürlich nicht, es ist ein Lallen und Krächzen bei ihnen! Es muss nicht alles Sewasdar sein, verstehst du mich nicht? Nur größer eben! Größer, als es jetzt ist. Einfacher und trotzdem funkelnder. Die Sewasdar sind ein Volk, die Taïn ein Witz."

    „Mir reicht es, wie es ist", meinte Laesga, worauf Sharnog verächtlich die Backen aufblies. „Ich finde es eigentlich gar nicht so wenig, es ist nur anders, Taïn eben."

    „Ich sehe lieber zu, aus dem Regen zu kommen." Sharnog deutete auf die Häuser im Hafen.

    „Da ist ein Gasthaus, nur ein Stück die Straße hoch. Ich komme bald nach."

    „Wie spät ist es?"

    „Die letzte Niïpura⁵ vielleicht, ungefähr Tageswechsel – Ibiëtra⁶ begrüßt uns bald zurück in der Heimat."

    „Bestimmt tut sie das." Sharnog wandte sich von Laesga ab und machte sich auf den Weg in die Hafenstadt.

    Das Wasser flutete nur so über die gepflasterten Straßen, Bäche rannen den Hang hinab und ergossen sich ins Meer. An den Häusern fand sich keine Verzierung, keine gerundete Form, keine Farbe – nichts, was nicht von unmittelbarem Nutzen gewesen wäre.

    Mit lautem Quietschen öffnete sich eine Tür in der Gasse neben Sharnog und jemand kam heraus. Zum Schutz vor dem Regen hielt die Person eine Jacke über ihren Kopf, als sie an Sharnog vorbeirannte. Schwaches Licht aus dem Eingang beleuchtete ein Schild, das an rostigen Ketten hing: Shon Nagou Tamaür⁷ stand darauf. Ehe die Tür zurück ins Schloss fiel, hielt Sharnog sie auf und trat in die Gaststätte.

    Neun gleiche Holztische warteten da, gerade so groß, dass an jeder ihrer Seiten eine Gästin Platz fand. Allerdings reichte die Zahl der Stühle dafür nicht aus. Über den Tischen hingen verstaubte Lampen, doch nur in zweien brannte eine Kerze. Dafür knisterte gegenüber dem Eingang ein Feuer im Kamin. Dem Kamin am nächsten, unter einer der Kerzen, waren eine junge Frau und ein alter Mann ins Gespräch vertieft. Am Nachbartisch, unter der anderen Kerze, rührte ein äußerst blasser Mann gelangweilt mit dem Löffel in seiner blechernen Suppenschüssel. Der Wirt spielte Streichharfe für sie.

    Sharnog schob sich an den dicht beieinanderstehenden Tischen und Stühlen vorbei zum Kamin, über dem an zwei in die Wand geschlagenen Haken bereits feuchte Mäntel hingen.

    Der Wirt legte die Harfe und den Bogen auf einen leeren Tisch und schenkte Sharnog ein breites Lächeln. Seine Lippen und Nase waren schmal, das graue Haar trug er geknotet; um seinen Oberkörper hing eine dreckige Schürze. „Ich bin Räaen, stellte er sich vor. „Du bist gerade angekommen?

    „Richtig. Sharnog räusperte sich. „Mein Name ist Sharnog Raëku Suendat, wir sind durch den Sturm hergesegelt.

    Die Frau und der Mann am Tisch vor dem Kamin verstummten und schauten Sharnog überrascht an.

    „Willkommen in Sträuin, Sharnog, sagte Räaen, „ich hole dir was zum Abtrocknen – und vielleicht finde ich eine passende Hose. Er verschwand in einem schmalen Gang, der neben dem Kamin aus dem Raum führte.

    „Entschuldige, du bist der Sohn von Suendat Raëku Daüg?", fragte die Frau neugierig.

    Sie trug einen feinen schwarzen Anzug – einen Dreiteiler –, unter der Weste ein makellos weißes Hemd, um den Hals ein schwarzes Tuch und an ihrer Seite ein langes, schmales Schwert. Ihr Haar und ihre Augen glänzten ebenfalls schwarz; ihre Haut war wie Kirschbaumholz. Neben ihren gefalteten Händen lagen zwei schwarze Handschuhe auf dem Tisch; über der Lehne ihres Stuhls hing ein schwarzer Mantel.

    „Und du bist, wie du aussiehst, eine Verwalterin des Schwarzen Reiches?", brummte Sharnog und begann, vor dem Feuer seine nassen Kleider auszuziehen.

    „Ich bin Ueraë⁸ Sisa, richtig – und das ist …"

    „Baendaeëk", kam der Alte ihr zuvor. Er spähte mit eisblauen Augen über die Brille auf seiner langen Nase hinweg. Sein Gesicht war knochig und von tiefen Falten durchzogen; das fahle Haar streng rechtsgescheitelt. Ein aschgraues Tuch steckte in seinem hellen, kragenlosen Hemd.

    „Ein Kadaeïl, erkannte Sharnog verstimmt. „Ich komme von einer langen Reise nach Taïn zurück, und nicht nur werde ich wegen meines Vaters erkannt, sondern auch noch von einer Ueraë und einem widerlichen Kadaeïl.

    Baendaeëk stützte sein Kinn auf die Hände und musterte Sharnog nun abwechselnd durch und über die runden Brillengläser; Sisa war wie erstarrt.

    „Nehmt es mir nicht übel, sprach Sharnog weiter, „aber ich will meine Ruhe.

    Der blasse Mann vom Nebentisch gluckste und verschluckte sich an seiner Suppe.

    „Ja, natürlich! Du musst erschöpft sein, sagte Sisa hastig und stand auf. „Bitte, Sharnog! Ich habe die Kadaeïl ebenfalls satt heute Nacht; ich streite mich dauernd mit dem alten Baendaeëk hier. Ehe der neue Tag beginnt, würde ich gern noch etwas anderes hören!

    „Ich bin ungern mit euch an einem Tisch", entschied Sharnog mit ausdrucksloser Stimme.

    „Wie ich!, lachte Sisa. „Ich habe die ganze Nacht lang ungern an diesem Tisch gesessen; deshalb bieten wir an, dir zuzuhören! Es liegt in deiner Hand, wie es sein wird an diesem Tisch. Wer hat heute in dieser Stadt – ja, in diesem Reich sogar – etwas zu erzählen, wenn nicht du? Jetzt, da du zurück bist aus Sewasdar – und sieh nur, was du für spannende Dinge bei dir hast!

    Sharnog hatte sich mittlerweile bis auf die Unterwäsche ausgezogen; zuletzt legte er das grüne Tuch zu seiner übrigen Kleidung neben den Kamin. „Ich stimme Schwarz so wenig zu wie Grau, das solltest du wissen", warnte er.

    Sisa verzog das Gesicht.

    „So spät am Tag außerdem – oder so früh am Tag – kann jede auf eine dritte Meinung verzichten. Das heißt, auf das verzichten, was ich zu sagen hätte."

    Baendaeëk setzte ein falsches Grinsen auf und zeigte schiefe Schneidezähne. „Ganz im Gegenteil", widersprach er.

    „Du bist derjenige hier, der sich um die Worte der anderen am wenigsten schert", knurrte Sharnog.

    Da kam Räaen zurück: Ein weißes Gewand und ein Handtuch hingen über seinem Arm. Sharnog nickte dankbar und griff nach dem Handtuch, um sich abzutrocknen.

    Indessen verteidigte sich Baendaeëk: „Glaub mir, ich höre ganz genau zu. Wir Kadaeïl hätten nichts von allem anderen."

    „Um es für deine Ziele zu verdrehen!", sagte Sisa und Sharnog lachte auf.

    „Ganz recht", stimmte er der Ueraë zu. Dann gab er Räaen das Handtuch zurück und warf sich das frische Gewand über.

    „Lach nicht, Sharnog; du scherst dich ja selbst nicht um die Worte anderer, wenn du auch die meinen und die von Sisa nicht hören willst", stichelte Baendaeëk.

    Sharnog faltete den überschüssigen Stoff des weiten Gewands in seinem Schoß und setzte sich zu den beiden an den Tisch.

    „Willst du essen oder trinken?", erkundigte sich Räaen.

    „Beides. Was immer du mir geben magst", antwortete Sharnog rasch, um sich gleich wieder an seine Gegenüber zu wenden: „Der Unterschied, Baendaeëk, ist, dass ich sehr wohl weiß, was du und Ueraë Sisa sagen werden. Aber du hast keinen Schimmer, was ich erzählen könnte – und es wird dich auch nicht wahrhaftig interessieren, weil du ein dreckiger Kadaeïl bist!"

    „Scheiße, ja! Der Blasse vom Nebentisch ließ seinen Löffel in die Suppe fallen, stand auf und zog seinen Stuhl an die freie Seite zwischen Sharnog und Baendaeëk. „Ich mag dich! Er war jünger als Sharnog; wie Baendaeëk trug er nur Hemd und Hose – beides zerschlissen und vergilbt. Sein kantiger Kopf war von kurzen, dunklen Haaren bedeckt, sein Mund schief und seine Nase eingedrückt. „Ich bin übrigens Seib Raëku Isirish. Du bist der, der in Kaenkami Ogradis war?"

    „Er ist der Sohn von Suendat, den wirst du doch wohl kennen", sagte Sisa etwas verärgert.

    „Hab von ihm gehört, nuschelte Seib und trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch. „Nun, Sharnog? Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück. „Scheiß auf die beiden und auf deinen Vater; ich will mehr wissen."

    Baendaeëk lachte heiser. „Wie es aussieht, Sharnog, will er das. Einer ist da, der wahrhaftig hören will, was du sagen – oder eigentlich nicht sagen willst."

    Sharnog schloss genervt die Augen.

    Die Tür zur Gaststätte wurde aufgezogen und Laesga betrat den Raum. „Sharnog, du hast es gefunden! Die Istrueë schüttelte sich und unzählige Wassertropfen prasselten auf die Holzdielen. „Du bist ja schon in netter Gesellschaft!

    Nett, wiederholte Sharnog. „Sie wollen, dass ich von Sewasdar erzähle.

    „Es war atemberaubend, berichtete Laesga eifrig und zwängte sich derweil aus ihrem nassen Mantel; Räaen eilte ihr zu Hilfe. „Aber noch atemloser als irgendjemand von uns war das reiche Kind hier!, scherzte sie, kam zu den anderen an den Tisch und legte eine Hand auf Sharnogs Schulter.

    „Von euch Vieren raubt mir jede Einzelne die Geduld, grummelte Sharnog. „Und keine von euch bringt mich weiter.

    „Bitte, sagte Seib, „ich höre immerzu nur Getratsche über Sewasdar, dabei war niemand je selbst dort – du aber schon. Außerdem will ich mehr über Politik von dir hören.

    „Wie kommt’s?" Sharnog verschränkte die Arme vor der Brust.

    „Weil du die Araë nicht leiden kannst, wie’s scheint, und die Einzigen, die heutzutage etwas anderes sagen – also die Kadaeïl –, auch nicht."

    „Das stimmt. Weißt du, die Sewasdar juckt die weite Welt nicht, sie kümmert nur ihr eigenes Leben, der Erhalt ihrer Städte, ihre eigene Entfaltung. Wenn ihre Arbeit getan ist, genießen sie die Sonne über ihren Köpfen und freuen sich, dass sie ihren Schmuck zum Glitzern bringt."

    „Für mich sprichst du wirr", meldete sich Sisa wieder zu Wort.

    „Das wundert mich nicht. Du bist eine Ueraë von Sträuin, hängst an Rumkroeds⁹ Fäden, findest dieses Land bestimmt schön, ha!"

    Laesga versuchte, den anderen Sharnogs Worte verständlicher zu machen, während sie sich auf den Boden vor das Feuer setzte: „Die Sewasdar leben so dahin, sie bemalen ihre Körper, üben Künste aus, sie lieben sich mitten auf der Straße; alles in jenem Reich ist voller Schmuck, das ist es – so, wie Sharnog sagt. Das meint er. Taïn findet er hässlich und langweilig."

    „Und was ist noch anders als bei uns?", fragte Seib.

    „Bei uns werden die Menschen gelehrt, sie arbeiten, sie erziehen ihre Kinder, reden über Politik – was Schönheit angeht, davon haben sie keine Ahnung. Das Große geht an ihnen vorbei. Es fehlt der Genuss, erklärte Sharnog. „Die Kunst.

    „Du hast von Entfaltung gesprochen, erinnerte Sisa, „aber das ergibt keinen Sinn. In Sewasdar wird ungeachtet des Willens eines Kindes entschieden, welchen Beruf es zu lernen und später auszuüben hat, nicht wahr? Findest du das gerecht? Das ist für mich keine Entfaltung, das gleicht der Vorstellung der Kadaeïl!

    „Nicht ganz." Baendaeëk hob eine Augenbraue. „Wir Kadaeïl gehen natürlich auf das Brougaen Raeku Nataï¹⁰ zurück …"

    „Was er ständig erzählt, was alle Kadaeïl ständig erzählen, aber Quatsch ist, berichtigte Sisa. „Blidraë¹¹ Nataï hatte sicher nicht die Kadaeïl im Sinn.

    „Was ich sagen wollte, fuhr Baendaeëk unbeeindruckt fort, „Nataï hat sich durchaus die Ordnung von Sewasdar zum Vorbild genommen. Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen unseren Ideen und dem Leben dort unten. Wir Kadaeïl streben eine Gesellschaft an, in der alle Menschen zuerst die unbeliebtesten Arbeiten ausführen müssen, und wenn sie es gut machen, eine begehrtere Aufgabe erhalten. Wer so aufsteigt, tritt am Ende in den Kreis der Höchsten ein, hoffentlich allwissend, bereit zu herrschen und zu entscheiden. Ich weiß nicht, was das anderes sein soll als vernünftig und gerecht.

    „Es ist Blödsinn!, rief Sisa. „Es ist unfrei, wie bei den Sewasdar.

    „Bei den Sewasdar spielt die Leistung der Menschen keine Rolle; in den Türmen ihrer Städte sitzen keine erfahrenen Weisen, sondern Berufene, die meistens Erben sind, Verwandte der Reichen und Mächtigen wie in der alten Shakaë-Ordnung¹². Das ist tatsächlich ungerecht, Sisa, aber nicht mit einem Grauen Reich zu vergleichen."

    „Graues Reich!", fauchte sie.

    „Es wird kein Graues Reich¹³ mehr geben, sagte Sharnog überzeugt. „Denn die Ideen der Kadaeïl sind nicht umsetzbar. Wir wissen alle, dass sie Nataïs Schrift missbrauchen, um die Macht einer kleinen Gruppe zu begründen.

    „Du bist klug", lobte ihn Sisa, „oder hast wenigstens deinem Vater gut zugehört. Baendaeëk – du bedrohst unser aller Freiheit! Und ich bin mir nie sicher, ob du das überhaupt erkennst."

    „Manchmal frage ich mich, überlegte Seib laut, „was der Unterschied zwischen den Araë und den Kadaeïl ist.

    „Was?, japste Sisa entsetzt und riss die Augen auf. „Hast du nicht zugehört? Das ist doch überdeutlich! Die Araë schreiben keiner vor, was sie arbeiten darf und was nicht!

    „Die Araë sind wie die Kadaeïl eine verschworene Gruppe, die über das Reich bestimmen will", verteidigte sich Seib und hielt dem Blick der Ueraë stand.

    „Litroeïk hat die Shakaë abgeschafft und das Reich anstelle einer Unfähigen einem fünfzigköpfigen Rat anvertraut; seit hunderten Eishora können wir ihm dankbar sein! Mit den Araë wurde Taïn befreit!, hielt Sisa empört dagegen. „Verschworene Gruppe, wiederholte sie mit ungläubigem Kopfschütteln.

    „Es stimmt schon; die Kadaeïl fordern reine Unterdrückung – die Araë tun das nicht", pflichtete Laesga schläfrig bei und erntete von Baendaeëk einen Blick der Verachtung.

    „Es ist gar nicht so schlimm, wenn nur eine Person oder wenige ein Reich führen, sagte Sharnog und überraschte Stille kehrte ein. „Wenn es gut gemacht wird, ergänzte er zögerlich.

    „In Sewasdar haben sie auch nur ein Staatsoberhaupt, stimmt’s?", fragte Seib.

    „So ist es", antwortete Sisa kalt. „Und sie verehren es blind."

    „Wie du die Araë, sagte Sharnog und blickte die Ueraë herausfordernd an. Sie schluckte – er schmunzelte. „Bei den Sewasdar beeindruckt mich das, fuhr er fort, „aber es ist nicht, wie sie in ihren Städten leben, wie entschieden wird, wer welche Arbeit zu erledigen hat und solches; es ist nicht, dass sie kein Geld kennen, wer die Politik macht oder wovon sie sich ernähren. Es ist etwas anderes, was mich nachdenklich stimmt: Alles bei ihnen greift ineinander, alles ist so wunderschön und bunt, so reich. Sie kann ich ein Volk nennen, ein großes Volk. Sie haben eine Kultur, eine große Kultur, sie sind Menschen des Reiches Sewasdar und Sewasdar ist etwas! Und hier? Es ist das Gegenteil. Taïn ist nichts!"

    „Mein Lieber, du bist verrückt geworden, kann das sein?", fragte Baendaeëk und Laesga grunzte erheitert.

    Sharnog, der eben noch mit jedem Wort leidenschaftlicher geworden war und regelrecht glühte, ließ sich missgelaunt in seinen Stuhl zurückfallen.

    „Ich glaube, ich weiß, was du meinst", nuschelte Seib und kaute auf seinen Nägeln.

    „Mir liegt an den Sewasdar nicht mehr als an den Taïn – oder an den Ehortt –, aber sie haben mir gezeigt, dass meine Heimat viel blasser ist, als sie sein müsste."

    „Ganz sicher bist du verrückt, seufzte Sisa und erhob sich gereizt von ihrem Stuhl. „Ihr seid alle verrückt. Ich hoffe, ich muss euer dummes Geschwätz nie mehr hören; es ist gefährlich!

    Sharnog zog die Nase hoch. „Ich wusste, diese Unterhaltung würde uns keinen Spaß machen."

    „Auf bloß kein Wiedersehen", verabschiedete sich die Ueraë erschöpft, streifte die Handschuhe über, nahm ihren Mantel und verließ die Gaststätte.

    „Du wünschst dir also etwas Beeindruckendes." Baendaeëk setzte die Brille ab und putzte die Gläser mit seinem grauen Halstuch.

    Sharnog zuckte mit den Achseln. „Wenn ich etwas verändern könnte, wäre unsere Sprache alles Unnötige los; die Menschen würden sich nicht streiten, sondern einfach leben; die Politik, von wem auch immer gemacht, würde an ihnen vorüberziehen; die Häuser wären aus Gold und unsere Kleider bunt; es gäbe für die anderen Völker etwas zu bewundern, wenn sie hierher kämen: Da wären Reichtum und Glück … und so weiter. Sharnog schaute von einem Mann zum anderen. „Da ist ein Wort, ich weiß es, da muss eins sein; ein Wort, das alles beschreiben könnte, was ich mir denke, aber ich kenne es nicht.

    Räaen stellte zwei Teller und einen großen Krug auf ihren Tisch. „Ich habe hier etwas Getreidebrei für dich, Sharnog, und ganz frische Suppe, dazu heißen Tee!"

    „Vielen Dank."

    „Der gute Räaen ist auch zu allerspäter Niïpura noch die beste Wirtin von ganz Sträuin", lobte Baendaeëk.

    „Du gibst mir das Stichwort, sagte Räaen, „ich muss ins Bett. Lass das Geschirr einfach stehen, wenn du fertig bist, Sharnog. Was ist mit ihr? Er deutete mit dem Kinn auf Laesga, die vor dem Kamin eingeschlafen war.

    „Wir lassen sie liegen", beschloss Sharnog.

    „Schlaft ihr hier, braucht ihr ein Zimmer?"

    „Ja – für Laesga dort und mich, für die anderen beiden kann ich nicht sprechen."

    Räaen nickte hastig. „Ich meine nur euch beide, von Baendaeëk und … Seib, richtig, weiß ich es. Was ist mit eurer Schiffsbesatzung?"

    „Die übernachten auf dem Schiff."

    „Dann schließe ich euch oben ein Zimmer auf; wir sehen uns später." Er lächelte freundlich.

    Seib hob zum Abschied die Hand.

    „Ich wünsche dir eine gute Nacht, Räaen, sagte Baendaeëk höflich, und Sharnog tat es ihm gleich. Als der Wirt verschwunden war, meinte der alte Kadaeïl: „Ich hätte gern noch mehr gehört von Sewasdar und was du darüber denkst, Sharnog, aber es ist wahr: Der neue Tag ruft und vorher noch mein Bett. Ich bin sowieso schon viel zu lange hier. Schwerfällig stemmte er sich mit den Händen an den Lehnen aus seinem Stuhl. „Vermutlich seid ihr beide nicht allzu traurig, den üblen Kadaeïl loszuwerden."

    „Find ich gut, dass ich Sharnog allein für mich hab", raunte Seib und Baendaeëk lachte leise.

    „Da bin ich mir sicher. Wenn du das noch anhören magst, Sharnog: Ich denke, du willst nichts weiter als etwas Gewaltiges, dafür hast du wohl ein Empfinden. Und wenn es schon genauer ausgedacht wäre, was du da anstrebst, wärst du so bemüht, es wahr werden zu lassen, wie ich bemüht bin, das Gewaltigste, nämlich die Ordnung der Kadaeïl, zu unterstützen."

    Sharnog sah wortlos zu, wie Baendaeëk seinen Mantel vom Haken am Kamin zog, über seine Schultern warf und das Gasthaus verließ.

    Seib rutschte auf den freigewordenen Stuhl, der Sharnog gegenüber stand, beugte sich weit vor und flüsterte: „Weißt du, ich schlafe auf der Straße und bettle, weil ich mit diesem ganzen Mist, mit dem Leute wie du sich herumschlagen müssen, nichts zu tun haben will – und bisher war ich auch zufrieden damit, denn für mehr müsst ich irgendeinem Arsch die Stiefel putzen und das ist es mir nicht wert."

    „Einem Arsch wie mir", sagte Sharnog trocken und nippte an seinem Tee.

    Seib grinste breit und schüttelte langsam den Kopf. „Du redest zwar viel, klug und bedacht, bist gut erzogen – aber du hast keine Ahnung von dem, was du sagst. Ich bin ein einfacher Mann, Sharnog, ich verstehe dich besser als diese Gestriegelten – vermutlich besser als du dich selbst."

    Sharnog betrachtete sein Spiegelbild im Tee. „Möglich."

    „Du sehnst dich nur nach Macht; du schätzt, was dich anspricht. Und dich spricht an, was anders ist. Vielleicht besonders das, was andere bewundern würden. Nein: Was andere für edel halten könnten! Jedenfalls das, was anders ist. Dir mögen die Menschen scheißegal sein – mir sind sie’s! –, aber sie sind Teil deines Lebens … und für diese Rolle gut genug. Da gehen sie dich etwas an."

    Sharnog löffelte seine Suppe mit zittriger Hand. „Du bist weniger wenig, als ich dachte, Seib, gab er zu, steckte den Löffel in den Getreidebrei und nahm einen weiteren Schluck Tee. „Und sehr viel weniger wenig, als du vorgibst zu sein.

    „Das, was du willst, mein lieber Sharnog, ist etwas erschaffen, was die Leute umhaut, ha! Was sie dir zuschreiben! Was dich besser macht als all die anderen. So, wie du die Sewasdar wahrnimmst im Vergleich zu den Taïn, aber als deine eigene Sache. Seib atmete tief ein. „Sharnog Raëku Suendat! Du willst einfach mehr sein, als du bist.

    ¹ Zur Aussprache siehe Anhang.

    ² Der Mond des Planeten Dokradaesh.

    ³ Hier: Kapitänin.

    ⁴ Weibliche Taïn tragen die Namen ihrer Mütter, männliche die ihrer Väter. Laesga Raëku Aushfa bedeutet Laesga, Tochter der Aushfa.

    ⁵ Eine Niïpura ist das Fünfzigstel eines Tages. Ein Tag beginnt mit Sonnenaufgang. Siehe Anhang.

    ⁶ Die Sonne.

    ⁷ Am Wasser.

    ⁸ Ueraë sind Beamtinnen und Richterinnen. Sie verwalten Taïn im Sinne der Araë, des herrschenden Rats. Sie unterrichten Kinder, sorgen für die Einhaltung der Gesetze und sprechen Recht.

    ⁹ Rumkroed ist die Hauptstadt von Taïn und Sitz der Araë.

    ¹⁰ Das Buch der Nataï.

    ¹¹ Blidraë waren Adlige, Fürstinnen zur Zeit der alleinherrschenden Shakaë von Taïn, bevor die Shakaë durch den Rat der Araë ersetzt wurden.

    ¹² Die Shakaë herrschten mit wenigen Unterbrechungen über Taïn, von der Gründung des Schwarzen Reiches bis zum Umbruch durch Litroeïk, der (mit Unterstützung durch die Kadaeïl) den letzten Shakaë Krormonduen stürzte und die Araë einsetzte. Bei den Shakaë galt die Erbfolge.

    ¹³ Wie Taïn das Schwarze Reich ist, wird Sewasdar auch das Goldene und Ehortt das Weiße Reich genannt. Die Kadaeïl hatten einst für kurze Zeit die Herrschaft über Taïn; in dieser Zeit hieß es das Graue Reich.

    ZWEITES KAPITEL

    „Broemoë mashe brougaen oe mashou tuesharak

    lat einaek aiänaen."

    Ein Geschichtsbuch könnte sich eine Dichterin

    ebenso gut ausdenken.

    Neben der hochstehenden Ibiëtra waren der riesige Eishor und der kleine graue Auräuek¹⁴ am tiefblauen Himmel zu sehen. Auf einem felsigen Hügel thronte ein Anwesen, nicht bunt oder verziert, aber von beachtlicher Größe. Der Hügel war umringt von den kleinen, alten Häusern der Stadt Laibnae. Langes, gelbes Gras wucherte zwischen grauen Steinen am Rande einer Straße, die sich durch die Stadt hinauf zu dem Anwesen schlängelte.

    Eine unscheinbare Kutsche, mit dunklen Stoffen verkleidetes Holz, wurde von einem gefleckten Pferd die Straße entlanggezogen. Vorbei an schwarz gestrichenen Haustüren, staubigen Glasfenstern und neugierigen Blicken. Die Kutsche hielt vor einem rostigen Tor am Fuße des Hügels, das von zwei jungen Angestellten in weißen Hemden und braunen Westen geöffnet wurde.

    Seib stieg in schmutziger Kleidung aus der Kutsche auf die knirschenden Kieselsteinchen der Straße hinaus, streckte sich und fuhr sich durch die zerzausten Haare. Das Anwesen war aus grobem Stein gebaut, hufeisenförmig, die Pultdächer nach außen geneigt. Seib schritt durch das Tor und als er den Innenhof des Anwesens erreichte, kam ihm schon Laesga entgegen. Eine zerdrückte Mütze saß auf dem Kopf der Istrueë, von derselben blauschwarzen Farbe wie ihr einfacher Anzug.

    „Willkommen, Seib! Wie war die Reise?"

    Seib zupfte an seinen gelben Ärmeln und ließ den Blick prüfend über die Gebäudeflügel des Anwesens gleiten. „Hast du eine Ahnung, was er von mir will?"

    Laesga zuckte mit den Achseln. „Ich dachte, das kannst du mir beantworten. Sie führte ihn zum Eingang des Anwesens. „Keine hier weiß irgendetwas.

    Sie kamen an einer verwitterten Büste vorbei, die Sharnogs Vater zeigte. „Was für ein selbstverliebter Dreckskerl muss das gewesen sein?", knurrte Seib, hielt an und stieß das Abbild mit einem kräftigen Fußtritt um. Suendats Nase grub sich tief in den Kies.

    „Bitte reiß dich zusammen!", empörte sich Laesga.

    „Mach du dich nicht so wichtig", hielt Seib dagegen und ging weiter.

    „Du bist hier Gästin!"

    „Ja, Sharnogs! Nicht deine und auch nicht die seines Vaters."

    „Sein Tod belastet ihn sehr", meinte Laesga und rieb sich nervös die Hände.

    „Ach ja?", murmelte Seib gelangweilt, während sie die Stufen zum Eingang hinaufstiegen.

    Laesga hinderte ihn, weiterzugehen. „Sobald ich gehört hatte, dass Suendat gestorben ist, bin ich hierhergekommen – aber Sharnog hat sich bis jetzt nicht blicken lassen", flüsterte sie.

    „Was redest du?"

    „Er hat sich eingeschlossen. Er lässt sich bringen, was er braucht, aber er verlässt sein Schlafzimmer nicht mehr. Die Dinge, um die er bittet, sind außerordentlich seltsam; und er bemüht sich kein bisschen um das Erbe seines Vaters. Es gibt Angestellte hier, die seit Tagen keiner Arbeit mehr nachgehen, und Suendats Geschäfte sind gänzlich zum Erliegen gekommen."

    Seib lachte auf. „Das ist es, was dich stört, nicht? Du hast für den reichen Dreckshaufen gearbeitet und jetzt fürchtest du um dich, weil Sharnog alles egal ist, hm?"

    Die Adern an Laesgas Stirn schwollen an. „Das ist eine Frechheit", zischte sie.

    „Kann ich nicht erkennen. Ich werde gleich ein gutes Wort für dich einlegen. Seib betrat schmunzelnd das Innere des Anwesens. „Wo ist er?

    „Oben." Laesga deutete auf die breite Steintreppe, die von der Eingangshalle aus in die höheren Stockwerke führte. „Du weißt, dass Sharnog jetzt auch ein reicher Dreckshaufen ist, einer von der Sorte seines Vaters?"

    Seib kehrte Laesga den Rücken zu und erklomm die Treppe. „Die Unterschiede sind, keuchte er dabei, „erstens macht Sharnogs Sucht nach Verehrung ihn zu viel Größerem fähig, als sein Vater es je war; zweitens, und das ist noch besser: An Sharnogs Reichtum werde ich Anteil haben, wart’s ab!

    Laesga sah dem Obdachlosen fassungslos hinterher, dann riss sie sich die Mütze vom Kopf und zerknüllte sie wütend.

    Seib erreichte am oberen Ende der Treppe einen Berg umgekippter, übereinander geworfener Möbel aus altem, rotbraunem Holz. Furchen in den Dielen wiesen den Weg zu einer geschlossenen Tür am Ende eines schmalen Flurs. Seib zögerte, dann trat er hin und klopfte einige Male kräftig an. Auf der anderen Seite polterte es; es folgte das Geräusch schneller Schritte – und die Tür wurde aufgerissen.

    Beißender Gestank kam aus dem Zimmer: ein ätzendes Gemenge von Düften und Ausscheidungen. Sharnog klatschte vor Seibs Gesicht in die Hände und strahlte wie ein kleines Kind. Er trug ein himmelblaues Wams über einem altweißen Hemd, eine schlecht gefärbte, dunkelrote Hose und eine vormals graue Jacke, die nun von Flecken jeder erdenklichen Farbe übersät war; alle ihre Knöpfe fehlten, der Kragen war aufgestellt und Nadeln steckten überall in der Kleidung. Seine Haare waren links gescheitelt; auf der einen Seite streng zurückgekämmt, auf der anderen standen sie wirr ab. Er hatte blutunterlaufene Augen und einen Dreitagebart, in dem Farbreste hingen. Eine seiner Brauen war abrasiert und in seinem linken Ohrläppchen steckte eine jener Nadeln, die sich auch in seiner Kleidung fanden.

    „Bist du bescheuert?", entfuhr es Seib. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

    „Es freut mich so unglaublich mehr, als du es mir ansehen kannst, dass du hier bist, mein lieber Seib!", begrüßte Sharnog ihn übertrieben laut, trat zur Seite und bedeutete ihm, einzutreten.

    Der Holzboden war völlig zerkratzt von den Möbeln, die hinausgeschafft worden waren; nichtsdestotrotz war der Raum alles andere als leer: Bunte Stoffe häuften sich in den Ecken; Kleidungsstücke lagen herum; dazwischen Papierfetzen und leere Tintenfässer, einige davon zerbrochen; kaputte Stifte; Knöpfe, Ringe und Halsketten aus Gold; mit bunter Flüssigkeit gefüllte Glasflaschen; Stapel dreckiger Teller, halbvolle Becher und Nachttöpfe. Hier und da hatten sich die Dielen verfärbt und standen über die anderen hinaus, weil etwas verschüttet und nicht aufgewischt worden war. Von drei kleinen Fenstern an der hohen Wand, die auf den Innenhof blickten, war das rechte mit herausgerissenen Seiten eines Buches zugeklebt, das mittlere mit der schwarzen Flagge Taïns verhängt. Inmitten dieser beispiellosen Unordnung stand ein schlichter Stuhl mit dünnen Beinen und schmaler Lehne.

    „Setz dich, Seib, dorthin; ich werde dir jetzt viel erzählen, das Wichtigste deines Lebens! Und mehr noch – ach, setz dich, du wirst es merken!"

    „Was hast du hier gemacht?, presste Seib angewidert hervor, ging geradewegs durchs Zimmer und öffnete das linke Fenster. „Wie kannst du hier atmen? Das erträgt selbst meine Nase nicht!

    „Du gewöhnst dich daran, wenn dich die Gerüche lange genug umgeben", erklärte Sharnog beiläufig und fasste sich an das Ohr, in dem die Nadel steckte. Ruckartig zog er sie heraus und warf sie achtlos über die Schulter.

    Mit argwöhnischem Blick setzte sich Seib auf den Stuhl, sah sich noch einmal um und lachte schließlich trocken. „Du bist ja wirklich voll und ganz verrückt, Sharnog!"

    „Nein!, widersprach Sharnog mit ernster Miene und faltete die Hände hinter dem Rücken. „Ich habe gearbeitet.

    „Und woran?"

    „Einer neuen Welt. Sharnog nickte energisch. „Ich habe einige der Duftwässer getrunken – ein Fehler, weiß ich jetzt: Das benebelt die Sinne.

    Seib lachte wieder.

    „Aber – mein Anliegen ist durchaus ernst, mein Bester."

    „Ja, das hoffe ich. Die haben mich aus dem Schlaf gerissen, deine Handlangerinnen oder was; die beschissene Fahrt war unerträglich lang, ich konnte nicht schlafen, und von sich aus hätten die mir nicht gesagt, wohin’s geht!"

    „Das war es alles wert und ist jetzt völlig unwichtig", beteuerte Sharnog, dann schloss er die Zimmertür ab und lehnte sich daran. „Dieses Zimmer ist nicht nur der Anfang irgendeiner Welt, es ist der Anfang meiner Welt. Die Geburt eines Umbruchs in der Geschichte, in beachtlicher Weise eingeleitet durch den Herzschlag meines Vaters – das heißt: durch sein Aussetzen."

    „So traurig, wie Laesga mir sagte, bist du nicht darüber, dass der Arsch draufgegangen ist, was?"

    „Ach!" Sharnog schnalzte mit der Zunge. „Ich freue mich! Viel mehr ist jetzt da – für mich da, meine ich! Sein ganzes Vermögen, und das allein hat ihn doch immer ausgemacht. So gesehen lebt der wesentliche Teil von ihm weiter – dank mir jetzt erst recht!"

    Seib verengte die Augen. „Was meinst du mit deiner neuen Welt? Und warum bin ausgerechnet ich jetzt hier?"

    „Ausgerechnet ist es, ja! Ich hatte den Eindruck, dass wir beide uns in Sträuin verstanden haben. Dass du ein einfacher Mann bist, wenigstens was deine Lebensweise angeht, ein verdrossener irgendwie auch, aber dennoch oder gerade deswegen, auch wenn du es vielleicht nicht zugibst, ein ähnliches Interesse hast wie ich, das Alte abzureißen und etwas Neues zu erschaffen!"

    „Mir fällt es leicht, zurückzulassen, was ich hab, weil’s nicht viel ist", bestätigte Seib. „Ich mag dich, Sharnog. Du bist anders. Aber ob ich auch mag, wie du anders bist, muss ich erst sehen."

    Sharnog dachte kurz nach. „Ja. Du kennst mich, Seib, besser als alle anderen, das hast du selbst gesagt. Ich will dir etwas bieten. Aber zuerst: Ich bin reich geworden, weil ich die Überreste meines Vaters verbrennen durfte. Das öffnet mir Tore, die mir bislang verschlossen blieben. Oder anders: Ich weiß jetzt, was ich anstellen will mit seinem Erbe. Ich kann jetzt nämlich kaufen, was bisher meinen Träumen vorbehalten war. Und wie du weißt, träume ich viel, seit ich dieses Reich verlassen musste. Ich will es geradeheraus sagen: Wir beide werden einen Staat gründen!"

    Seib hob die Augenbrauen und grinste ungläubig. „Einen Staat?"

    „Ein neues Reich, jawohl. Ein Reich und sein Volk – und weißt du was: auch eine Sprache! Eine bessere als Taïn, finde ich wenigstens. Und das braucht so ein Volk, damit es zusammenwächst: eine eigene Kultur, die besser ist als alle anderen, ausländischen. Eine eigene Kunst, die sich abgrenzt, auch Baukunst! Und eine eigene Politik."

    Seib hatte den Mund gespitzt, während er sich an der Schläfe kratzte. „Tja, Sharnog, das ist … irrwitzig."

    „Ach, für dich ist dieser Gedanke noch so neu! Es hat in jüngster Zeit niemand getan, aber Umbrüche sind nicht nur irgendwelche Erzählungen, sie sind wirklich geschehen! Daran zu glauben, an Großes, das ist der erste Schritt. Und dann, wie Nabaësh, Puernaeïr, Litroeïk – brauchen wir es nur noch zu tun!"

    „Wie?", hakte Seib vorsichtig nach.

    „Mein Erbe", antwortete Sharnog begeistert.

    „Krieg mit den Araë? Seib wippte mit den Füßen wie ein ungeduldiges Kleinkind. „Das bedeutet Krieg mit Taïn. Taïn ist das größte Reich von Radaesh¹⁵. Und unsere Heimat.

    „Für die Araë rächt es sich jetzt, dass Litroeïk festlegte: Die Staatsoberhäupter sollen nicht über ein Heer verfügen! Ich dagegen kann Menschen bezahlen, für mich zu kämpfen."

    Seib stand auf, rieb sich das Gesicht. „Das ist ein Hirngespinst, Sharnog, was willst du erreichen? Was für ein Reich und ein Volk und was für eine Kultur, wie du sagst? Willst du ganz Taïn umformen?"

    Sharnog trat auf Seib zu und legte beide Hände auf dessen Oberarme. „Das ist es, worüber ich nachgedacht habe, und ich bin sehr weit gekommen. Ich habe eine genaue Vorstellung. Mein Reich soll bunt sein, eng bebaut; es soll Muster geben und Farben und Bilder und Gold, wo die Menschen nur hinblicken, Prunk,

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