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Narben: Earthdawn-Zyklus 6
Narben: Earthdawn-Zyklus 6
Narben: Earthdawn-Zyklus 6
eBook343 Seiten4 Stunden

Narben: Earthdawn-Zyklus 6

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Über dieses E-Book

Nachdem die Völker der Welt vierhundert Jahre lang in ihren magischen Festungen dem Eindringen der Dämonen getrotzt haben, öffnen sich nun wieder die Pforten ihrer selbstgewählten Gefängnisse. Doch die Bewohner Barsaives müssen feststellen, dass ihre Welt vollständig verwüstet wurde und ihre alten Feinde immer noch gegenwärtig sind. Es liegt am Zwergenkönigreich von Throal, dem grausamen Theranischen Imperium und den verschlagenen Dämonen die Stirn zu bieten.

Alinas Eltern, Ratgeber der Elfenkönigin Alachia, widersetzten sich einst dem höchsten Ratschluss und starben qualvoll durch blitzschnelles Altern. Alina schwört, diesem Schicksal zu entgehen, und schließt einen Pakt mit einem Dämon. Der Preis für ewige Jugend und Unverletzlichkeit ist hoch: sie entsagt der Liebe und empfindet fortan nichts als Gleichmut, Hass, Neid und Trauer. Bis sie Aithne trifft, den Blutelf und zärtlichen Gefährten ihrer Kindheit.
SpracheDeutsch
HerausgeberFeder & Schwert
Erscheinungsdatum21. Jan. 2019
ISBN9783867623841
Narben: Earthdawn-Zyklus 6

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    Buchvorschau

    Narben - Caroline Spector

    ließ.

    Prolog

    »Sag mir, wer es ist«, verlangte sie.

    »Sag mir, warum du das wissen willst«, gab er zurück.

    »Wenn ich dir das sagte, hätte ich keine Geheimnisse mehr, und du würdest dich langweilen«, hielt sie dagegen.

    Er wälzte sich auf sie. Weiße Haut auf schwarzer. Als er in ihre Augen sah, dunkel wie die Nacht, schwarz wie ein verbittertes Gemüt, schauderte ihm, als wäre er von einem Dämon besessen.

    »Du könntest mich nie langweilen«, sagte er in der Gewissheit, dass das die Wahrheit war. Zumindest im Moment.

    »Dann sag es mir«, wiederholte sie, während sie seinen Kopf zu sich herunterzog. Er hauchte einen Namen auf ihre Lippen: Javan. »Aha«, sagte sie, »Javan.«

    Er erwachte, als sich die ersten blassen Streifen des anbrechenden Tages über den Nachthimmel legten. Das Bett neben ihm war noch warm, doch sie lag nicht mehr darin. Aus den Schatten auf der anderen Seite des Zimmers drang ein schwaches Geräusch. Da sah er sie, ihr weißes Haar ein krasser Gegensatz zu ihrer dunklen Haut. Sie war in ein mit geometrischen Mustern in einer dunkleren Farbe besticktes graues Gewand gehüllt, das er noch nie an ihr gesehen hatte.

    »Wohin gehst du?«, fragte er.

    »Weg«, sagte sie abwesend, während ihre geschickten Hände fortfuhren, Gegenstände in ihren kleinen Rucksack zu packen.

    »Ich komme mit«, sagte er, während er aufstand und nach seiner Kleidung griff.

    »Ich glaube nicht.«

    Er runzelte die Stirn. Die Kälte in ihrer Stimme, als unterhielte sie sich mit einem Fremden, machte ihn wütend.

    »Ich gehe mit dir«, sagte er mit mehr Nachdruck.

    »Nein.« Ihr Tonfall war ebenso entschlossen. »Und du wirst mir auch nicht folgen oder versuchen, mich hier festzuhalten, oder irgendeine andere Dummheit begehen, um mich aufzuhalten.«

    Er setzte sich wieder, vollkommen überrascht angesichts ihrer plötzlichen Gleichgültigkeit. Als er sie jetzt betrachtete, war es, als sähe er sie zum ersten Mal. Schön war sie, ja, das wusste er, aber da war noch etwas anderes, das er bisher nicht hatte zur Kenntnis nehmen wollen. Oder vielleicht hatte sie es auch vor ihm verborgen. Eine Kälte an ihr, die ihn auf dem Bett erstarren ließ. Ihr Blick vermittelte keine Wärme – weder Leidenschaft noch Verachtung nur das Fehlen jeglichen Gefühls.

    »Aber was ist mit uns?«, fragte er, wobei er sich dafür hasste, so schwach und jämmerlich zu klingen.

    Da lächelte sie kaum merklich. Hätte er sie nicht so eingehend beobachtet, wäre es ihm vermutlich entgangen. Kein Lächeln des Sieges, sondern ein trauriges, wehmütiges Lächeln.

    »Das ist eine Illusion, die du dir aufgebaut hast«, sagte sie.

    »Gegen die du nichts unternommen hast.«

    »Ja, so war es leichter. So ist es immer leichter.«

    »Immer«, begann er. Ein furchtbarer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. »Es ging nur um diesen Dieb, Javan, stimmt’s? Ich werde ihm erzählen – was du tust ...«

    Er hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als sie zu ihm trat und die Luft über ihr zu schimmern und zu leuchten begann. In ihrer Hand erschien eine kleine Silbernadel, die sie sich mit einer raschen, geschickten Bewegung über das linke Handgelenk zog. Ein dünnes Blutband quoll aus dem Kratzer und blieb an der Nadel haften wie ein Faden. Dann flüsterte sie eine Beschwörung, während sie gleichzeitig Nähbewegungen vor seinen Lippen machte. Er spürte Mund und Zunge taub werden, als wären beide eingeschlafen.

    Mit wachsendem Entsetzen flogen seine Hände an die Lippen. Seine Stimme war sein Kapital. Klatsch zu hören und weiterzugeben, die richtigen Fragen zu stellen, die richtigen Geschichten zu erzählen und dafür gut bezahlt zu werden. Sie hörte auf zu flüstern und sah ihn mit ihren nachtschwarzen Augen an.

    »Die Wirkung dieses Zaubers hält mindestens ein Jahr und einen Tag lang an«, sagte sie. »Vermutlich wird Javan danach wenig Verwendung dafür haben, was du ihm erzählen könntest. Warum hast du mich nicht einfach gehen lassen?«

    Er wollte schreien, weinen, irgendeinen Laut von sich geben, aber sein Mund war tot, nutzlos. Sie drehte sich um und nahm ihren Rucksack. Ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, verließ sie das Zimmer. Er sank auf den Boden, die Hände vor den Mund geschlagen, während ihm die Tränen über die Wangen liefen und sein Körper im Rhythmus seiner lautlosen Schluchzer erbebte.

    Viel später fiel ein Schatten über ihn. Er sah auf in der Hoffnung, sie sei zurückgekehrt. Doch sie war nicht zurückgekehrt. Es war ein in kostbare Samtgewänder gehüllter hochgewachsener Mann. Seine Stimme war sanft und wunderschön, und er sagte, es gebe eine Lösung. Eine Möglichkeit, sich von dem Zauber zu befreien. Dann sah er die glänzende Klinge in der langfingrigen Hand des Mannes. Und dann lag die Klinge in seiner eigenen Hand, und er wusste genau, was er zu tun hatte, als er sie in die dünne Haut seines Handgelenks presste.

    Teil 1

    1.

    »Wie viel gibst du mir dafür?«, fragte Javan.

    Misha betrachtete die Juwelen, die Javan vor ihm ausgebreitet hatte. Seine klobigen Finger liebkosten die gefassten Steine, wie ein Blinder eine Katze streicheln würde. Er nahm aufs Geratewohl einen der Steine, hob ihn an die Lippen und biss hinein. Das Metall gab unter dem Druck seiner gelblichen Zähne ein wenig nach. Er grunzte und warf den Stein wieder auf den Haufen.

    »Ich will sie nicht«, sagte er.

    »Was?« Javan griff sich das Stück, das Misha begutachtet hatte, und hielt es dem Händler vor das Gesicht. »Das sind die besten Juwelen, die du je gesehen hast. Sieh dir doch nur die Verarbeitung an – ganz eindeutig aus der Zeit vor der Plage. Die Farben der Steine – sieh nur, wie sie das Licht einfangen.«

    Javan hielt das Schmuckstück hoch, so dass es im Lampenschein leuchtete. Obwohl es in Märkteburg helllichter Nachmittag war, drang die Sonne nicht in Mishas Zelt. Die rotweißen Steine fingen das Licht ein und reflektierten es auf die beiden Männer. Javan hörte Misha nach Luft schnappen.

    »Der Wert der Juwelen steht außer Frage«, sagte der Händler brüsk. »Du weißt ebenso gut wie ich, dass Juwelen wie diese viel zu teuer sind. Sie können einen Mann leicht das Leben kosten.«

    Mishas Finger strichen über die Halskette, dann über den Armreif und den Ring. Bedauern und Habgier flackerten über sein Gesicht, doch nur für einen Augenblick. Er nahm die Schmuckstücke in beide Hände und ließ sie in Javans alten Lederbeutel gleiten.

    »Versuch dein Glück anderswo, Javan«, sagte er. »Auch wenn du ein noch so guter Freund bist, ich kann mir den Preis, den du dafür verlangst, einfach nicht leisten.«

    Verärgert verließ Javan Mishas Zelt und augenblicklich drang der Lärm Märkteburgs auf ihn ein. Provisorische Verkaufsstände und Zelte säumten die enge Straße, bunte Tücher wetteiferten miteinander um die Aufmerksamkeit des Fußgängerstroms. Der stechende Geruch nach ungewaschenen Leibern und Dung hing in der schwülheißen Nachmittagsluft.

    Es dauerte immer ein paar Tage, bis Javan sich an den Lärm und die vielen Menschen gewöhnte. Als einer, der viel Zeit allein verbrachte, entsetzte ihn immer wieder die Erkenntnis, wie laut, übelriechend und ruppig die Leute waren. Er drängte sich durch die Menge, weg vom Marktplatz und zur anderen Seite der Stadt hinüber. Misha war nicht der einzige Händler in Märkteburg. Javan kannte noch einen anderen, der mit Gegenständen handelte, wie er sie zum Verkauf anbot, und der ließ sich nicht so leicht einschüchtern.

    »Ah, Javan, wie schön, dich wiederzusehen«, sagte Kraag mit öliger Stimme, während sich sein lederiges Gesicht zu einem Grinsen verzog. Der Ork, dessen enorme Körperfülle in einen auf den Umfang von Menschen zugeschnittenen Sessel gezwängt war, erhob sich nicht von seinem Platz. Kraag war der einzige fette Ork, den Javan je kennengelernt hatte, aber Javan ließ sich davon keine Sekunde lang täuschen und blieb auf der Hut. Schließlich war der Händler für seine Schnelligkeit und Tödlichkeit im Umgang mit der Garrotte bekannt.

    Javan lächelte zur Erwiderung, aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht.

    »Es war nett von dir, mich zu empfangen, Kraag.« Javan setzte sich an den kleinen runden Tisch im Hinterzimmer des Ladens. Kein Luftzug wehte, es war stickig, was wenig dazu beitrug, Javans starke Abneigung gegen überfüllte enge Räume zu mildern.

    Kraags kleiner Laden war etwas Besonderes in Märkteburg, in dem es von provisorischen Geschäften wie dem von Misha wimmelte – kaum mehr als Zelte, die sich in den überfüllten, gewundenen Sträßchen aneinanderdrängten. Es war ein Beleg für Kraags Schlauheit, dass er es geschafft hatte, einen festen Laden zu erwerben und zu behalten.

    »Du hast also etwas zu verkaufen«, stellte Kraag fest.

    Javan nickte und hob sein Hemd an, um den Beutel loszubinden, der an seiner Hüfte befestigt war. Er nahm den Beutel und ließ die Juwelen wie glitzernde Schlangen auf den Tisch kullern. Kraag seufzte leise, als er eine seiner großen grünlichen Hände ausstreckte, um die Juwelen zu berühren.

    »Wunderbar«, sagte er. »Einzigartig. Wo, sagtest du, bist du darüber gestolpert?«

    Javan lachte. Die Juwelen mussten ziemlichen Eindruck auf Kraag gemacht haben, dass er so direkt war.

    »Ach, hier und da«, sagte Javan lässig abwinkend. »Ich finde eben Sachen. Du weißt ja, wie das ist.«

    Kraag hob den Blick von den Juwelen und starrte Javan mit derartiger Bosheit in den gelblich-grünen Augen an, dass Javan erschrak und ihn trotz der Hitze ein kalter Schauer überlief. Dann war die Gefahr so plötzlich vorbei, wie sie gekommen war. Kraag war wieder der wohlgenährte Kaufmann und kein furchterregender Mörder. Doch die Kälte wollte nicht aus Javans Knochen weichen.

    »Bist du interessiert?«, fragte Javan, dessen Hals so trocken war, dass die Worte als heiseres Krächzen herauskamen.

    Kraag lächelte dünn. »Javan, du weißt, wie sehr mir deine Ware gefällt – die Sachen sind immer einzigartig –, aber ich fürchte, dieser Posten ließe sich zu schwer verkaufen.«

    Das Unbehagen, das Javan ohnehin bereits empfand, verstärkte sich. Zuerst Misha und jetzt Kraag. Das war mehr als seltsam. War hier noch etwas anderes im Spiel?

    »Ich verstehe das nicht«, sagte er zögernd, kühl. »Ich weiß, dass dir im letzten Jahr nichts auch nur annähernd so Gutes unter die Augen gekommen ist. Weißt du etwas über diese Juwelen?«

    Kraag lehnte sich zurück. Seine Augen hatten die trübe Farbe von Eiter angenommen, während Javans Unbehagen plötzlich in etwas Wildes und Unbeherrschbares umzuschlagen drohte.

    »Ach, Javan, sicher, du warst wie ein Bruder für mich«, begann Kraag, »aber ich fürchte, du hast dich in ziemliche Schwierigkeiten gebracht.«

    »Was meinst du damit?«

    »Tatsächlich hast du trotz allem Glück«, fuhr der Ork fort, als hätte Javan nichts gesagt. »Jeder andere wäre mittlerweile längst tot. Diese Klunker sind ziemlich bekannt.«

    Kraag hielt einen Augenblick lang inne. Dann schüttelte er den Kopf und lächelte, aber in der Geste lag keine Freude.

    »Du weißt wirklich nicht, was das für Juwelen sind?«, fragte Kraag, während er die Halskette aus roten und weißen Steinen nahm. »Die Kette hier«, sagte er, die Juwelen hochhaltend, sodass sich das trübe Licht darin fing, »gehörte einem wohlhabenden throalischen Kaufmann, der sie zur Hochzeit seiner Tochter anfertigen ließ. Die Hochzeit fand nicht statt und das arme Mädchen verzweifelte. Wurde regelrecht verrückt – eigentlich nicht das, was man von Zwergen erwartet, möchte ich hinzufügen. Jedenfalls fielen die Kette und diese anderen Juwelen schließlich in die Hände eines der Neffen von König Varulus, dem du sie auch gestohlen hast. Und ich kann dir sagen, dass er nicht sehr erfreut darüber ist.«

    Javan riss Kraag die Kette aus der Hand und stopfte sie in seinen Lederbeutel. Mit raschen Bewegungen schaufelte er die anderen Schmuckstücke ebenfalls wieder in den Beutel. Kraag erhob sich, schob den Tisch dabei vorwärts und nagelte den Dieb damit gegen die Wand. Er bleckte seine spitzen Zähne zu einem Knurren.

    »Sei nicht dumm, Javan«, sagte er. »Gib mir den Beutel. Varulus’ Neffe sucht dich überall. Bis jetzt sind Misha und ich die Einzigen, die wissen, dass du die Juwelen hast. Misha ist dein Freund, er wird es nicht weitererzählen. Gib sie mir und ich sorge dafür, dass du am Leben bleibst. Aber nur, wenn du mir keinen Ärger machst ...«

    Javan stieß den Tisch gegen Kraag und rannte zur Hintertür des Ladens hinaus. Er lief die Gasse entlang, wobei ihm die heiseren Schreie des Orks in den Ohren hallten. Die Nacht war hereingebrochen und Javan stieß im Laufen gegen die Zelte zu beiden Seiten der engen Gasse. Schreie erhoben sich aus den Zelten, da einige von ihnen umstürzten. Javan rannte einfach weiter, da er wusste, dass ihm Kraag auf den Fersen war. Rechts vor ihm tat sich ein schmaler Durchgang auf und er tauchte hinein.

    Javan sammelte die Dunkelheit um sich wie ein paar Freunde und verschmolz mit ihr. Er zog seinen Dolch und hielt dann den Atem an, um sein krampfhaftes Keuchen zu unterdrücken. Einen Augenblick später hörte er Kraags Schritte. Der Ork versuchte sich lautlos anzuschleichen, hatte jedoch keinen Erfolg damit. Stattdessen klangen seine Bewegungen mehr wie das Poltern eines Bären in der Gasse. Javan ließ Kraag vorbei und trat dann rasch hinter ihn.

    Er schlang den linken Arm um den Hals des Orks und riss den Kopf nach hinten. Kraag griff nach Javans Arm, doch der Dieb war zu schnell für ihn und schlitzte dem Ork mit einer flüssigen Bewegung den Hals von einem Ohr zum anderen auf. Warmes Blut spritzte durch die Nacht, tintenschwarz und süßlich. Kraag gurgelte, dann sank er auf die Knie und tastete mit den Händen nach der durchschnittenen Kehle. Scheußliche, gurgelnde Laute drangen aus der Wunde, als versuche es der Ork mit einer letzten flehentlichen Bitte. Dann griffen seine klobigen dicken Hände nach Javan, wobei sie sich krampfhaft zuckend zu Fäusten ballten. Einen Augenblick später fiel er mit einem jämmerlichen Keuchen vornüber und rührte sich nicht mehr.

    Javan betrachtete leidenschaftslos Kraags Leiche. Die Diebesmagie wallte jetzt heiß in ihm auf. Der Ork war ihm gleichgültig, alles war ihm gleichgültig, außer die Juwelen zu behalten und zu entkommen.

    Nachdem er das Blut an den Händen so gut wie möglich an dem Gewand des Orks abgewischt hatte, durchsuchte er rasch und gründlich die Taschen des Orks. Doch er fand lediglich einen Beutel mit Münzen, von denen keine besonders wertvoll war. Die Frage lautete jetzt, wohin er sich wenden sollte. Es würde nicht lange dauern, bis Kraags Abwesenheit auffiele, und Javan war beim Betreten von Kraags Geschäft gesehen worden. Selbst der Rat der Kaufleute, eines zerstrittenen Haufens, würde nicht zögern, den Beschluss zur Verfolgung zu fassen. Glücklicherweise war die Stadtwache unterbesetzt, was Javan genug Zeit ließ, aus Märkteburg zu verschwinden.

    Die Nacht war mondlos und dunkel, nur die Sterne schienen am Himmel. Javan konnte immer mehr von ihnen sehen, während er sich dem Stadtrand näherte. Die Wachen waren unterwegs, doch sie waren unbeholfen und laut, und so konnte er ihnen mühelos ausweichen. Lautlos und allein glitt er mit einem Gefühl der Verachtung für jene, die im Licht lebten, von Schatten zu Schatten. Die Straßen waren jetzt breiter und Javan dankte im Stillen dem Mond dafür, dass er sein Gesicht verborgen und ihm dadurch geholfen hatte.

    Während Javan durch das Gewirr von Märkteburgs Straßen schlich, stahl er, was er konnte. Er hatte die Absicht gehabt, den Erlös der Juwelen dazu zu benutzen, seine Laufbahn als Dieb zu beenden und sich zur Ruhe zu setzen, aber offenbar war die Magie noch nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Und hier war er nun, mitten in der Nacht, und stahl, was er konnte, wie ein gewöhnlicher Dieb. Doch der Magie war das gleichgültig, sie wollte nur nehmen.

    In der Stille der Nacht fand Javan einen abgeschiedenen Fleck, weit von der aus Märkteburg hinausführenden Hauptstraße entfernt. Er wickelte sich in eine gestohlene Decke, aß sein ebenso gestohlenes Mahl und legte sich dann schlafen.

    Als er erwachte, stand die Sonne noch nicht hoch am Himmel. Javan lag da, starrte in das Blätterdach und versuchte sich zu erinnern, wie er hergekommen war. Es dauerte einen Augenblick, aber dann fiel ihm alles wieder ein. Er schlug die Decke zurück und wollte aufspringen, als ihn eine Stimme erstarren ließ.

    »Ich halte es für besser, wenn du einstweilen bleibst, wo du bist.«

    Javan setzte sich auf und betrachtete die Besitzerin der Stimme, eine Elfe, die nur ein paar Ellen entfernt vor ihm stand. Sie trug ein graues Gewand, dessen Stoff von erlesener Güte war und über dessen Säume und Manschetten sich Muster schlängelten, die immer mehr zu verschwimmen schienen, je länger er sie anstarrte.

    Als sein Blick zu ihrem Gesicht wanderte, stellte er fest, dass sie sein Starren erwiderte, ohne mit der Wimper zu zucken. Zwar war Javan jetzt seit fast fünfundzwanzig Jahren ein Dieb und hatte in dieser Zeit viel begehrt, aber noch nie hatte er sich so nach einer Person gesehnt, wie er sich nach Gold und Juwelen gesehnt hatte – wie er sie begehrte. Dann erwachte der Adept in ihm und erinnerte ihn daran, dass er niemanden brauchte – dass er sich nahm, was er wollte. Dennoch verließ ihn das Verlangen nicht.

    Ihre Haut war schwarz – nicht dunkelbraun, sondern wie aus Ebenholz gemeißelt. Ihr weißes Haar stand dazu in scharfem, fast erschreckendem Gegensatz. Sie trug es lang und auf dem Rücken zu einem dicken Knoten zusammengebunden. Ihre Augen – kalt und so schwarz wie ihre Haut – hielten seinem Blick stand.

    »Wer bist du?«, fragte er.

    »Aina«, antwortete sie.

    »Was tust du hier?«

    »Ich brauche deine Hilfe.«

    2.

    Javan lachte, aber es war weder Vergnügen noch Humor, was ihn dazu bewegte. Die Elfe sagte nichts, sondern starrte ihn nur weiter mit dieser unergründlichen Miene an.

    »Du willst meine Hilfe«, sagte er schließlich. »Warum?«

    »Das ist unwichtig«, erwiderte sie. »Die Frage ist, bist du bereit dazu?«

    »Woher soll ich das wissen? Ich habe keine Ahnung, was du von mir willst.«

    »Natürlich, wie dumm von mir«, sagte die Elfe, obwohl Javan den Verdacht hatte, dass sie alles andere als dumm war. »Es gibt einen Gegenstand, der mir wichtig ist und sich augenblicklich im Blutwald befindet. Du sollst ihn mir wiederbeschaffen.«

    Javan versuchte seine Überraschung zu verbergen, indem er ein abgefallenes Blatt aufhob und es mit raschen Bewegungen zerpflückte. »Warum gehst du nicht einfach selbst in den Blutwald und holst ihn dir zurück?«, fragte er. »Seid ihr Elfen nicht alle eine große Familie?«

    Mit nicht geringer Befriedigung sah Javan, wie sich bei seinen Worten ihre Lippen spannten. Es war immer von Vorteil, die Schwächen von Leuten auszuloten. Man wusste nie, wann sich daraus Kapital schlagen ließ.

    »Wenn ich ihn selbst holen könnte«, sagte sie, »hätte ich wohl kaum Bedarf für deine Dienste, oder? Aber ich kann dir verraten, wo sich der Gegenstand befindet, und dir dabei helfen, zu ihm zu gelangen.«

    »Und wenn ich diesen Gegenstand für dich hole, was bekomme ich dafür?«

    »So viel Gold, dass du dich zur Ruhe setzen kannst. Ich hörte, das sei dein Motiv gewesen, als du dem Neffen des Zwergenkönigs diese Juwelen gestohlen hast.«

    Javans Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Woher weißt du das?«

    Aina lächelte. »Wenn ich dir das verriete, hätte ich keine Geheimnisse mehr, und du würdest dich langweilen. Es reicht, wenn ich sage, dass du nicht immer so vorsichtig bist, wie du glaubst. Kraag zu töten, war ungeschickt. Seine Leiche nicht verschwinden zu lassen, sodass sie gefunden werden konnte, war noch schlimmer.«

    »Was weißt du darüber?«

    Die Elfe lehnte sich gegen einen Baum und verschränkte die Arme, während ihr Lächeln selbstgefälliger und wissender wurde.

    »Es ist das Blut«, sagte sie. »Das ist immer verräterisch. Wirst du mir jetzt helfen?«

    Javan stand auf und wischte sich verwelkte Blätter von der Hose. Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Du hast zu viele Geheimnisse für meinen Geschmack.«

    »Und du nicht? Überleg dir, was ich dir anbiete. Die Gelegenheit, deine glänzende Laufbahn beeindruckend zu Ende zu bringen.«

    »Du vergisst, dass ich ein Dieb bin – uns liegt nicht das Geringste daran, den Leuten zu erzählen, was wir im Leben erreicht haben.«

    »Du wirst es zu schätzen wissen.«

    »Was ist so beeindruckend daran, etwas aus dem Blutwald zu stehlen?«

    »Das macht es ja so aufregend. Weißt du, der Gegenstand, den ich haben will, befindet sich gegenwärtig im Besitz von Königin Alachia und in ihrem Palast.«

    Javan hörte auf, seine Habseligkeiten aufzusammeln, und starrte Aina fassungslos an. »Ich soll in den Palast der Elfenkönigin einbrechen? Bist du verrückt? Oder vielleicht von einem Dämon besessen?«

    Die Augen der Elfe verengten sich und ihre Miene wurde abweisend.

    »Ich bin weder verrückt noch besessen«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte, als könnte sie sie kaum noch beherrschen.

    In diesem Augenblick ertönte irgendwo im Süden ein Schrei, und sowohl Aina als auch Javan drehten sich danach um. Dann hörten sie Geräusche, als bahne sich jemand einen Weg durch das dichte Unterholz des Waldes.

    »Ich glaube, sie sind hinter dir her«, sagte sie.

    Die Elfe hatte sich lautlos bewegt und stand jetzt dicht hinter Javan, so nahe, dass er sie berühren konnte, wenn er die Hand ausstreckte. Sie strahlte eine ungeheure Hitze aus, die ihn wärmte und das Begehren wieder in ihm anfachte. Er wollte sie berühren. Doch die Geräusche der Männer, die durch den Wald stürmten, kamen immer näher und so gewann die Magie die Oberhand. Lauf, sagte sie. Lass sie zurück.

    Aina lächelte, als könnte sie seine Gedanken lesen.

    »Wegzulaufen würde uns nichts nützen. Sie sind fast da.« Sie drückte ihn nieder, dann bückte sie sich und hob eine Handvoll brauner Erde auf. Die Luft in ihrer Umgebung fing an zu schimmern, als sie ihm ein wenig davon auf die Brust rieb. Sie stieß seltsame kehlige Laute aus.

    »Beweg dich nicht, sonst durchbrichst du den Zauber«, sagte sie, dann bestreute sie ihn mit ein paar Blättern. Ein Augenblick verstrich, in dem sie sich neben ihn auf den Boden legte, sich mit Blättern bedeckte und die Gesten des Zaubers wiederholte. Javan starrte sie ungläubig an, als ihre Gestalt zu verblassen schien und dann mit dem Boden verschmolz.

    Er hörte einen gemurmelten Fluch, dann stürmte eine Gruppe von vier Zwergen auf die Lichtung, die sowohl gut bewaffnet als auch sehr zornig aussahen. Javan glaubte, einen der vier zu kennen. Dann erinnerte er sich: Tiber Flammenbart. Wie hatte er das vergessen können? Aber es war schon so lange her, als sie beide noch viel jünger gewesen waren.

    »Hier ist er nicht«, knurrte einer der Zwerge. Sein Haar war grellrot und stand wie ein Gebüsch von seinem Kopf ab. »So dicht bei der Stadt hätte er nicht gerastet. Wahrscheinlich ist er inzwischen schon auf halbem Weg nach Travar.«

    »Warum gehen wir dann in Richtung Fluss?«, fragte ein anderer Zwerg. Dieser hatte eine rosaweiße Hautfarbe und hellblondes Haar. Seine Augen waren milchig blau.

    »Weil«, sagte der rothaarige Zwerg, »Kender uns hierher geschickt hat, du Narr. Und wir setzen die Verfolgung fort, bis wir den Dieb gefunden oder das Ende der Welt erreicht haben.«

    Die beiden Zwerge, die geschwiegen hatten, sahen einander an und schnitten eine Grimasse. Sie waren braun. Braune Haare, braune Augen, braune Hautfarbe. Als seien sie aus Walnussschalen geschnitzt worden. Die Zwerge stritten sich noch ein paar Minuten lang, dann stampften sie in nördlicher Richtung davon. Javan stieß einen tiefen Seufzer aus.

    Die Elfe richtete sich auf, und jetzt sah er sie wieder deutlich. Sie wischte sich die Blätter vom Gewand. Eines steckte in ihrem Haar und Javan streckte den Arm aus, um es herauszuziehen. Die Bewegung lockerte den Knoten in ihrem Haar, sodass seine Hand einen Augenblick lang in die weiche Fülle einsank, bevor sie sich ihm entzog und sich die Haare neu zusammenband.

    »Diese Zwerge stehen im Sold von Kender, König Varulus’ Neffen«, sagte sie. »Er ist ziemlich gierig. Es geht ihm gar nicht so sehr darum, was er hat, Hauptsache, er hat es. In seinen Augen hast du ihm nicht nur etwas gestohlen, woran ihm etwas liegt, sondern

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