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Phönix und Affe: Ein Splittermond-Roman
Phönix und Affe: Ein Splittermond-Roman
Phönix und Affe: Ein Splittermond-Roman
eBook324 Seiten4 Stunden

Phönix und Affe: Ein Splittermond-Roman

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Über dieses E-Book

Von seiner Vergangenheit heimgesucht und auf der Flucht vor einem rachsüchtigen Geist beschließt der desertierte Schwertmeister Zhihou, den verbotenen Phönix-Kampfstil zu erlernen und als stummer Kampfmönch durch die Lande von Zhoujiang zu ziehen.

Bei seinen Wanderungen trifft er auf die rätselhafte Ming-Na, die selbst Grundzüge der seltenen Phönix-Kunst anwendet. Er weigert sich zunächst, sie als Schülerin anzunehmen, doch sie weiß von einer brennenden Karte des Phönix, die zu der heiligen Stätte führen soll, die Zhihou sucht. Eine abenteuerliche Reise beginnt ...

Ein weiterer phantastischer Roman aus Lorakis, der Welt des dreifach mit dem deutschen Rollenspielpreis ausgezeichneten Rollenspiels Splittermond.
SpracheDeutsch
HerausgeberFeder & Schwert
Erscheinungsdatum15. März 2018
ISBN9783867622943
Phönix und Affe: Ein Splittermond-Roman

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    Buchvorschau

    Phönix und Affe - Judith C. Vogt

    Schutzgeists.

    Kapitel I

    Zu dem der schweigt, spricht die Stille.

    Als Zhihou aus dem Bambuswald trat, fühlte er, wie sich ein Gewicht von seinen Schultern hob und sich dafür ein neues auf ihn senkte, als hätte er seinen Rucksack verlagert. Er verließ das Reich der Affen, und obwohl er sein Leben lang geglaubt hatte, er würde dem Großen Affen dienen, ließ ihn das aufatmen. Unggoy hatte sich von ihm abgewandt – war es ihm zu verübeln, wenn es ihn erleichterte, sich ebenfalls abzuwenden?

    Sich Neuem zuwenden. Wenn Unggoy ihn verstieß, dann war es an ihm, einen neuen Weg zu finden. Der Gedanke an die geheime Kampfschule in Inani schoss ihm durch den Sinn, die Erinnerung an Meister Huans leisen Ungehorsam und die Eleganz seiner Bewegungen …

    Vor ihm lag wegloses Land. Natürlich nicht in wörtlichem Sinne, denn tatsächlich blickte er vom Bambuswald des Großen Mandrills über das schillernd blaugrüne Jadeband, dessen Ufer und Inseln von Dörfern, Flusshäfen, Teeplantagen, Reisfeldern und allem gesprenkelt wurden, das laut rief: Zivilisation!

    Zhihou fühlte das neue Gewicht unbehaglich zwischen seinen Schulterblättern und seinem Nacken. Er selbst war kein Affe, er war viel eher eine Motte, auch wenn die nicht zu den dreizehn großen Tiergeistern zählte und er nicht wusste, welcher Begabung man sich brüsten konnte, wenn man sich wie eine Motte fühlte. Doch wie ein Insekt zum Licht strebte, sehnte er sich nach seinesgleichen. Vielleicht nicht direkt nach Gesellschaft, sondern nach menschlicher Umgebung. Er war kein Affe, der auf Bäumen zufrieden war. Keine Katze, die sich auf einem heißen Stein räkelte. Keine Fangschrecke, die starr auf ihre Opfer wartete. Er war ein Mensch, und er war sein ganzes Leben lang ein Bürger Inanis gewesen. Ein Städter. Ein Soldat, und wo Soldaten sind, ist niemals Einsamkeit. Und es war nicht nur die Einsamkeit: Er schlief selbst jetzt, im Sommer, lieber mit einem Dach über dem Kopf, er aß lieber ein Mahl, das nicht nur aus Nüssen und gesalzenem Fleisch bestand. Und er aß lieber feinen, weißen Reis als harten Wildreis.

    Er war kein Affe, sondern ein Bettelmönch mit einem verrosteten Dao, der sich danach sehnte, wieder ein Bürger Inanis zu sein.

    Langsam nahm Zhihou den tauglitzernden, überwucherten Pfad, der ins Tal des Jadebands führte und schulterte seine Lasten: die tatsächliche und die andere.

    Das Dorf Xingyad sah verblüffend hübsch aus, als Zhihou es in der Abenddämmerung mit müden Füßen erreichte – aber vielleicht lag dieser erste Eindruck vor allem daran, dass er sechs Tage mit der Suche nach dem Heiligtum des Großen Mandrills verbracht und sechs Nächte unter freiem Himmel geschlafen hatte. Die Holzhütten kauerten sich in den Schatten von wispernden Birken und einigen vornüberhängenden, gigantischen Weiden, deren Äste wie ein Vorhang Dorf und flaches Ufer vor den unwägbaren Fluten des Jadebands behüteten. Quadratische Fenster sahen auf den Wanderer herab, denn die Häuser standen auf hölzernen Stelzen. Ein paar Hühner pickten unter der Aufsicht eines stolzen bunten Gockels auf dem Dorfplatz im Staub. Die meisten Bewohner befanden sich bereits in den Häusern, das leise Lärmen des Alltags klang heraus. Näher am Ufer befand sich ein auf drei Seiten von Gebäuden umstandener Hof, von dem ebenfalls Stimmen herüberwehten. Im Näherkommen sah und roch Zhihou, dass es sich offenbar um eine Garküche handelte – sein Magen tat einen vorwurfsvollen Satz. An der freien Seite, die zum Ufer zeigte, war ein Hausboot festgemacht, das bereits länger hier haltzumachen schien, denn es war in den Schlick eingesunken und trockene Felsquader bildeten einen Fußweg in den Hof. Aus einer Rauchöffnung stieg Ofenqualm auf, aus den kleinen Fenstern drang ein betörender Geruch nach scharfen Gewürzen und gebratenem Fisch.

    Als Zhihou zwischen den Trägerkonstruktionen zweier Gebäude in den Hof am Ufer trat, hielten alle Löffel kurz inne und alle Augen hefteten sich auf ihn: Auf den niedrigen Bänken vor der kleinen wassertauglichen Garküche saßen vielleicht ein Dutzend Bauern und Fischer, vielleicht auch einige Reisende, und ließen sich etwas schmecken, das hervorragend roch.

    Ein Junge, der vielleicht siebzehn sein mochte, balancierte Suppenschalen in prekären Winkeln gestapelt zu den Tischen und nickte Zhihou zu.

    »Willkommen! Je hungriger, desto willkommener, sagen mein Bruder und ich immer, und Ihr seht sehr hungrig aus. Seid mir daher einhundertmal Willkommen und setzt Euch doch dort hinten in die Ecke, ehrenwerter Gast!«

    Zhihou nickte knapp und setzte sich an den Ecktisch zu einer Frau, deren eingefallenes Gesicht dem Koch und seinem Bruder vermutlich ebenfalls sehr willkommen aussah, und einem rundlicheren Mann.

    Beide grüßten freundlich, als er sein Bündel abstellte, den Dao daneben legte und Platz auf einem Schemel nahm.

    »Ihr seid nicht den Fluss entlanggekommen«, stellte die Frau fest und inspizierte ihn mit einem raschen Blick. Zhihou schüttelte den Kopf und deutete auf die bambusbewachsenen Hänge in der Ferne. Danach legte er zwei Finger an die Lippen.

    »Ach, Ihr sprecht nicht?«, fragte die Frau. »Habt Ihr ein Gelöbnis abgelegt?«

    Zhihou nickte – auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie hatte ihn dazu gebracht, zu schweigen. Die tote Witwe des Yip Huan.

    »Seid Ihr ein Mönch?«, fragte die dürre Frau, deren zahllose Runzeln von harter Arbeit unter gleißender Sonne sprachen.

    »Wir wollen nicht unhöflich sein«, ergänzte der Mann, der mit ihr am Tisch saß, rasch.

    Zhihou lächelte unbestimmt. War er ein Mönch? Ganz sicher nicht. Eher ein Wanderer ohne Ziel, aber wie sollten diese Menschen etwas begreifen, was er selbst noch nicht verstand?

    »Er hat ein Schwert. Ein altes. Er ist sicher ein wandernder Chi Kung-Mönch«, protestierte sie in Richtung ihres Begleiters, leiser, aber doch so laut, dass Zhihou schwerhörig hätte sein müssen, um es nicht zu verstehen. »Und er hat ja auch die Muskeln«, fügte sie hochachtungsvoll hinzu. Zhihou glaubte beinahe, dass sie errötete, als er ein kurzes Lächeln zeigte.

    »Kommt Ihr aus Palitan?«, fuhr die Frau fort und deutete unbestimmt auf seine Tätowierungen.

    Er schüttelte den Kopf und deutete auf das Wappen von Inani auf seinem rechten Arm. Es war eine der älteren Tätowierungen, die er sich bereits als Soldat zugelegt hatte.

    Sie machte große Augen, als er den Ärmel hochstreifte. Er wusste, warum sie ihn nach Palitan gefragt hatte: Die Tätowierungen, die Oberkörper und Arme bedeckten, waren dort sichtbar, wo der Mantel sie nicht verbarg, und die Vermutung, dass er einer Triade angehörte, lag nahe.

    Der Mann legte der Frau, die vielleicht seine Mutter war, die Hand auf den Arm.

    »Bitte, du bringst uns noch in Schwierigkeiten mit deiner Unhöflichkeit!«, flüsterte er.

    Zhihou winkte ab, was die Frau noch zu ermutigen schien.

    »Kämpfen könnt Ihr, ja? Ein Schwertmeister? Ein Kampfmönch? Ein Streiter der leeren Hand?«

    Soldat, erwiderte Zhihou mit Gesten. Der Mann griff erneut verzweifelt nach dem Arm der Frau.

    Sie schwieg jedoch nun. Zhihou senkte den Blick, er hatte so etwas vermutet. Selbst so nah an Inani, in einer Provinz, die General Wu folgte, riefen Soldaten momentan Unbehagen hervor. Jeder hatte das eine Gerücht, die andere Geschichte gehört.

    Der Schalen balancierende Junge stand nun am Tisch und ließ mit flinken Fingern drei von sechs transportierten Suppentellern vor ihnen auf die wurmstichige Tischplatte klappern. Ein paar Spritzer schwappten heraus, doch alles in allem war es ein beeindruckendes Manöver. Zhihou sah erstaunt auf – er hatte noch gar nichts geordert.

    »Es gibt nur das«, erklärte der Bursche. »Und Ihr saht schließlich ebenso hungrig wie willkommen aus.«

    Zhihou nickte zum Dank und nahm den gedrungenen Holzlöffel in die Hand. Dann legte er ihn noch einmal ab und deutete auf das Schriftzeichen entlang seines Zeigefingers, das in der vereinfachten Schriftsprache die Vergangenheitsform ankündigte. Die Frau starrte auf seinen Finger.

    »Ich kann nicht lesen«, sagte sie dann.

    Natürlich nicht. General Wu, die Triaden, die alten Kaiserinnen – allen drei Mächten Zhoujiangs war daran gelegen, dass ihre Untergebenen rudimentäre schriftliche Kommunikationsformen beherrschten. Doch diese Bestrebungen endeten meist an den Stadtgrenzen, oder schon innerhalb der Städte, wenn die ordentlichen Gebäude in die Elendsviertel ausliefen. Dort beherrschte man vielleicht noch wenige, heruntergebrochene Kurzformen, die sich an Häuserwände ritzen ließen, um zu markieren, wo es sich lohnte zu betteln – oder Schlimmeres. Den Entschluss zu den Tätowierungen, die seinen Körper mit Symbolen und Schriftzeichen bedeckten, hatte er mit zu viel Reisschnaps im Kopf und zu wenig Wissen über die ländliche Bevölkerung getroffen. Doch in Inani hatte er nicht bleiben können. Die Geheimpolizei des Generals duldete keine Deserteure.

    Im Heiligtum des Mandrills um Vergebung zu bitten, war ein gutes erstes Ziel gewesen. Er zuckte mit den Schultern als Zeichen, das Gespräch sein zu lassen, und wandte sich wieder der Suppe zu.

    Vielleicht war das Heiligtum das einzige Ziel gewesen, und er befand sich in einer Sackgasse. Doch die Affenprovinz war groß und sie wurde im Westen rätselhafter und wilder. Vielleicht musste er dorthin. Vielleicht hatte er sich noch nicht weit genug in die Wildnis gewagt, der menschlichen Gesellschaft noch nicht asketisch genug entsagt.

    Sie löffelten schweigend, und es fiel Zhihou schwer, mit heißer, würziger Fischsuppe, reichlich Gemüse und großblättrigen Kräutern im Mund über Askese nachzudenken. Es schmeckte gut, und Zhihou wünschte sich einen zweiten Teller, wusste aber nicht, wie lange die Münzen, die er aufgefädelt an seinem Gürtel befestigt hatte, noch ausreichen würden. Er bediente sich an einer Karaffe mit Quellwasser, das so kalt war, dass er zu fühlen glaubte, wie viel Raum noch in seinem Magen mit Suppe gefüllt werden wollte. Er hob die Hand und bestellte einen weiteren Teller.

    »Sehr hungrig. Sehr willkommen«, sagte der Junge, als er die Schale mitnahm, um sie noch einmal zu füllen.

    Die Frau räusperte sich, als Zhihou vor sich hinstarrte und zu ignorieren versuchte, dass die Bequemlichkeit menschlicher Behausungen meist auch menschliche Anwesenheit bedeutete.

    »Ich bitte um Vergebung«, sagte die Alte schließlich. »Aber Soldaten sind meist nicht allein unterwegs. Und ohne Uniform. Darf ich annehmen, dass Ihr, wie der Pao-chi-Baum, dem man die Äste der Kirsche aufsetzen kann und der sich daraufhin in einen Kirschbaum verwandelt, einstmals ein Soldat wart und nun … keiner mehr seid?«

    »Aber was seid Ihr geworden?«, fragte nun der Mann mit sehr ruhigem Unterton, der verriet, wie angespannt er war. Zhihou sah lange nachdenklich auf den Tisch, bis seine Suppe kam. Die Gespräche im Innenhof gingen weiter, doch er war sich der Blicke bewusst, die man in seine Richtung warf. Schließlich sah er auf. Auch die zweite Suppe roch sehr gut. Er beugte sich zu seinem Bündel, hob den Dao in der Scheide hoch und zog ihn ein Stück heraus, so dass die hoffnungslos verrostete Klinge sichtbar wurde. Die Alte hob die wie mit Tinte gezeichneten feinen Augenbrauen.

    »Ein ehemaliger Soldat mit einer Antiquität als Waffe? Vielleicht seid Ihr älter, als wir dachten«, lächelte sie und ergänzte zu ihrem Begleiter: »Siehst du? Er gehört nicht zu ihnen. Sie wären verrückt, einen einzelnen, unbewaffneten Mann herzuschicken, der nichts macht, als Suppe zu löffeln.«

    Zhihou hob fragend die Augenbrauen.

    »Bei der Ehre deines Schutzgeists, du gehörst nicht zu den Gelben, oder?«, raffte der rundliche Mann nun all seinen Mut zusammen. »Das schwörst du uns allen hier. Denn sonst … ist das dein letzter Teller Suppe!«

    Zhihou sah von der trüb-gelblichen Suppe auf und dem Mann ins kreisrunde Gesicht. Gut gepolsterte Wangen, aber der Mund ein entschlossener Strich.

    Er öffnete den Mantel, nickte und wies in der Schwurgeste auf die Affentätowierung auf seiner Brust. Sie war, wie das Wappen von Inani, bereits etwas verblasst – ein älteres Hautbild.

    »Er schwört es, Han. Er ist nur ein einsamer Wanderer. Vermutlich selbst in Schwierigkeiten. Lass ihn in Ruhe«, sagte die Frau auf einmal müde. Alle Gäste der kleinen Garküche waren verstummt und sahen Zhihou erwartungsvoll an.

    »So sicher bist du dir, dass du einem Fremden vertrauen würdest?«, flüsterte der Mann. »Wo du doch die bist, die am meisten gelitten ha…«

    »Schluss. Er gehört nicht zu den Gelben«, sprach die Frau noch einmal, und sah Zhihou zwar dabei an, sagte es jedoch nicht zu Han.

    »Er hat einen Dao«, erwiderte ein stämmiger Zwerg, der einen Strohhut neben sich auf dem Tisch liegen hatte. Die Schale, die der Bursche vor ihm abgesetzt hatte, war größer als die der anderen, beinahe so groß wie der konische Hut.

    »Es ist ein verrosteter Dao«, erwiderte die Frau.

    »Warum nimmt ein Mann einen verrosteten Dao mit?«, fragte eine weitere Stimme.

    »Weil er ein Soldat des Generals war«, erklärte die Alte, und Zhihou erfuhr nicht zum ersten Mal, dass man früher oder später an seiner Stelle sprach, wenn er selbst den Mund hielt.

    Schweigen. Alle schienen sich zu fragen, was das bedeutete. War er nun ein Verräter? Oder einfach nur ein Veteran? Zhihou lehnte sich an die Wand hinter ihm an und lauschte ins Schweigen. Schließlich sagte der Bursche, der die Suppe servierte: »Dann kann er kämpfen. Verrostet hin oder her, besser als wir alle! Er kann uns gegen die gelben Bandanas helfen!«

    Zhihou schüttelte den Kopf.

    Da kam der Koch aus seiner Hausbootküche, in der Hand ein Küchenmesser, das jedoch an dem humpelnden Mann mit den fettigen Haaren und den früh eingegrabenen Lachfalten nicht bedrohlich aussah. »Wenn das so ist und Ihr uns helfen könnt, erhaltet Ihr von mir freie Kost!«

    »Und bei uns könnt Ihr schlafen!«, warf Han ein.

    »Wer bei uns schläft oder nicht, entscheidet immer noch das Familienoberhaupt«, zischte die dürre Alte ihm zu. »Also ich.« Sie nickte Zhihou zu. »Unser Haus steht dem Ehrenhaften stets offen.«

    Zhihou hob abwehrend die Hände.

    »Wir verlangen nicht viel«, erwiderte der Mann mit dem Strohhut. »Nur, dass Ihr ein wenig hier bleibt. Wir fürchten einen weiteren Überfall. Die nächste Teeernte steht an, und wir fürchten uns. Es hat schon Tote gegeben. Zwei junge Burschen. Und einer meiner ältesten Freunde. Es schreckt sie nicht, Unschuldigen den Tod zu bringen. Sie kennen keine Gnade.«

    Wie viele?, fragte Zhihou mit einem Abzählen an den Fingern.

    »Zwei Dutzend, besser bewaffnet, besser geschult als wir.«

    Erneut beugte er sich herab, nahm die hölzerne Scheide und zeigte ein Stück des verrosteten Säbels. Elf Männer und Frauen beäugten ihn.

    »Habt Ihr keine zweite Waffe?«, fragte der Koch.

    Zhihou verneinte.

    »Dann müsst Ihr entweder das Messer nehmen, mit dem ich meine Fische ausweide, oder die Machete, mit der wir dem Bambus und dem Schilf zuleibe rücken – oder Ihr versteht Euch zufällig auf den Kampf mit der leeren Hand?« Die Mundwinkel des Kochs zuckten. Zhihou grinste wider Willen ebenfalls.

    »Dann verstehen wir uns. Es gibt eine Nachspeise aus Litschi, die ich Euch gern spendieren würde. Dürfen wir Euren Namen erfahren?«

    Zhihou wies auf die Tätowierung des Affen – Houzhi – auf dem Schlüsselbein.

    »Dann nennen wir Euch Houzhi«, nickte die runzlige Alte und tätschelte seine zeichenverzierte Hand. Sie zog sie jedoch rasch zurück.

    »So viele Bemalungen.« Sie blinzelte, als habe sie Angst, zu lange hinzusehen. »Ist es nur … Schrift, oder …« Sie führte den Satz nicht zu Ende, aber Zhihou wusste, was sie meinte. Er nickte und machte eine Bewegung, als führe er eine Tintenfeder. Nur Schrift – keine Zauberzeichen.

    Die anderen im Hof der Garküche sahen nun, da er erneut den Mantel geöffnet hatte, auch, in welchem Ausmaß er tätowiert war und warfen einander Blicke zu. Hatte er sich mit Zauberei, mit Geistermacht in ihr Vertrauen geschlichen? War er doch ein Spitzel der Gelben oder gehörte er am Ende zu einer weit schlimmeren Bande?

    »Wir glauben dir«, brach die runzlige Frau das Eis. »Ich bin Tsin Li, und das ist mein Mann Han.«

    Zhihou, der den Mann für ihren Sohn gehalten hatte, bemühte sich, nicht mit der Wimper zu zucken. Beide neigten kurz ihr Haupt, und er neigte es länger. Er hob den Kopf wieder, aß die Suppe zu Ende und nahm dann Bündel und Schwert. Jede Reise benötigte Punkte, an denen man verweilte, um herauszufinden, wohin der Weg als nächstes führte.

    Es war eine Zeit im Jahr, in der das Dorf Xingyad in staubiger Hitze am Rand des Jadebands lag. Seine Stelzen wurden nicht von Wasser umspült, stattdessen nutzten die Bauern und Fischer die Zeit, um den Unterbau der zusammengedrängten Hütten zu verstärken und auszubessern. Xingyad, das war der Name eines Schilfkäfers, und obwohl die meisten in der Dorfgemeinschaft entweder zum Schutzgeist des Affen, dem die ganze Provinz untertan war, oder zu Gewässergeistern wie Schildkröte, Kranich und Flussdelphin beteten und ihnen Rauchopfer darbrachten, war man sich doch sicher, dass man im Grunde seines Herzens ein Schilfkäfer war.

    Die Bauern kümmerten sich vor allen Dingen um Teeplantagen, von denen das ganze Jahr über in einem bestimmten Rhythmus gepflückt wurde. Die nächste Pflückung war fast so weit, und mit jedem Tag, an dem die Männer und Frauen die Teebüsche an den Hängen prüften, wuchs die Angst vor der Bande der gelben Bandanas. Nahe des Ufers wurde das Flusswasser mit Kanälen in kleine Reisfelder geleitet, die unter Wasser standen, und auf denen Tsin Li und Han Fische züchteten, die Chon Go, der Besitzer der Garküche, und sein Bruder Chon Gi zur allabendlichen Fischsuppe verarbeiteten.

    Selten gab es eines der Hühner, die unter den Stelzenhäusern pickten, in der Suppe, und andere Tiere wurden nicht gehalten. Gejagt wurde nicht, und weder Männer noch Frauen waren geübt darin, Waffen zu führen. Dennoch ging keiner ohne Waffe in die Felder, viele schliefen neben Messern und Beilen oder alten Familienerbstücken. Denn die Gelben würden kommen.

    Zhihou lernte rasch, dass einer der beiden getöteten Burschen Tsin Lis erster Mann gewesen war. Sie brachte Zhihou in einer Kammer unter, in der noch viel von dem alten Holzhandwerker zeugte. Ein Schrein in der Ecke des winzigen Raums ehrte seinen Geist und pries ihn zusammen mit den Ahnen. Ein Sohn war aus Tsin Lis erster Ehe hervorgegangen, genauso wie mehrere Töchter, die bereits selbst Familien gegründet hatten. Nach dem Tod ihres Mannes vor einigen Monaten hatte sie nach der weißen Trauerzeit Han geheiratet, denn ein Familienoberhaupt brauchte vor allen Dingen eines: eine Familie.

    In Xingyad verlangte man von Zhihou nicht, dass er arbeitete, doch er legte bei den Ausbesserungsarbeiten an den Häusern Hand an. Abends ging er dann in den Schatten einer der großen Trauerweiden und ging durch die Formen des Affen. Ohne andere, die die Bewegungen synchron mit ihm durchführten, lauschte er auf den eigenen Atem, kauerte sich nieder, sprang auf, fuhr herum und machte die Bewegungen mit den Fäusten, die seine Mutter ihn bereits als kleinen Jungen gelehrt hatte. Er wechselte bei den »Schritten des Frühlings« von den Sohlen auf die Zehenspitzen, von knienden Positionen in hochgestreckte und durchlief danach die Dao- und Kampfstab-Formen mit Bambusstöcken.

    »Hhha«, gab ihm sein Ausatmen den Wechsel der Form vor. Einatmen, dabei rollten seine Füße langsam auf die Zehen, er schlug in einem langen Bogen und drehte dabei den ganzen Körper aus der Hüfte. »Hhha!« Das nächste Ausatmen ließ ihn hochschnellen, der Bambusstab blieb balancierend stehen. Er wusste, dass er beobachtet wurde, und so überschlug er sich zum Abschluss mit aufgestützten Händen nach hinten, dann wieder nach vorn und griff den Stab, bevor dieser auf dem Boden aufschlug. Danach ging sein Atem rasch und gab keinen Takt mehr vor, mit dem er hätte Schritt halten können.

    Aus dem Schatten der Weide kam ein langsames Klatschen und das Lachen von mindestens drei Stimmen. Weiblich. Zhihou stützte sich auf den Bambusstab.

    Die mutigste von ihnen trat hinter einem herabhängenden grünen Vorhang hervor und schob sich die langen glatten Haare hinters Ohr. Zhihou war sich recht sicher, dass sie Mitu hieß, fand Namen an sich jedoch mittlerweile überbewertet. Ihre beiden Freundinnen folgten.

    »Das sieht sehr schön aus, Houzhi«, sagte Mitu. »Wirst du uns so vor den Gelben beschützen?«

    Zhihou lächelte und verneinte. Es waren Formen gewesen, die verschiedene Bewegungen lehrten, die auch im Kampf Anwendung fanden – die ritualisierten Formen des Chi Kung bewegten die richtigen Muskeln und brachten den Geist damit in Einklang.

    »Was kann schon ein einzelner Kämpfer mit leerer Hand gegen zwei Dutzend ehrlose Söhne einer Steppenwölfin ausrichten?«, fragte Mitu, und eine ihrer Freundinnen brach in nervöses Lachen aus. »Haltet Ihr es nicht für angebracht, uns etwas von dem beizubringen, was Ihr wisst?«

    Zhihou hob die Augenbrauen und deutete mit drei Fingern auf die Mädchen. Er nahm mit dem Bambusstab seinen Mantel auf, den er auf den Boden hatte fallen lassen und verhüllte damit seinen schweißbedeckten Oberkörper.

    »Nicht nur uns. Viele im Dorf könnten etwas von dir lernen.«

    Er presste die Lippen aufeinander. Lehren. Lernen. Hier war er wieder. Wie in Inani.

    »Du hast den falschen Fuß vorne«, lachte Wangli Zhihou und wackelte mit seiner eigenen Fußspitze. »Das ist mein Linker.«

    »Du stehst vor mir! Es ist schwierig!«

    Die anderen lachten. Chow wechselte die Beine, verlor dabei jedoch den Schwerpunkt, das konnte Zhihou sehen.

    »Tiefer«, wies er sie an. »Und jetzt halten wir nicht mehr deinetwegen inne. Versuch einfach, mitzukommen.«

    Zhihou war kein Lehrer. Er war nur ein einfacher Soldat. Doch dank seiner Mutter, die zwar aus einer verarmten Familie kam, aber einige Jahre in einem der Bergklöster gelernt hatte, in denen man Kindern die Finger brach, damit die Knochen härter wieder zusammenwuchsen, hatte Zhihou das Chi Kung erlernt, die Kunst des Kampfes. Seine Mutter, Wangli Shenhou, hatte ihm nicht die Finger gebrochen, aber sie war streng gewesen, und er hatte bereits als Fünfjähriger drei Stunden am Tag geübt. Sie besaßen wenig Materielles, und sie hatte stets gesagt, er könne sich nur auf das verlassen, was er war.

    Mit sechzehn war er in die Armee eingetreten, ein Auskommen für einen Niemand wie ihn, und nach dem Umsturz durch General Wu sogar mehr als das. Von da an, so hieß es, würde auch einfachen Menschen der Weg in höhere Ehren offenstehen. Wenn man nur fleißig war. Gehorsam. Es kam nicht mehr darauf an, was man besaß – sondern was man war.

    Seine Kameraden waren im Sinne der Garde Inanis in den Grundzügen des Chi Kung geschult worden, doch er vermochte mehr: Er war bewandert im Chi Kung des Affenstils, und seit sein Hauptmann nach dem Putsch von einer Hauptfrau abgelöst worden war, lautete ihr Befehl, eine Abendstunde darauf zu verwenden, seine Kameraden darin zu unterweisen. Der Ruhm für eine Truppe, die über das normale Maß hinaus geschult war, fiel auf die Hauptfrau zurück.

    Nachdem seine Kameradin Chow die anderen noch drei Mal mit Fehltritten angerempelt oder zum Lachen gebracht hatte, war die Stunde beendet. Zhihou blieb noch auf dem Hof zurück und durchlief noch die Meisterform des Affenstils. Zwei Freunde, Henshi und Gungtse, blieben auf den Stufen sitzen und machten sich über ihn lustig (obwohl er Neid und Bewunderung in ihren Stimmen hören konnte). Dann eine befehlsgewohnte Stimme: »Lasst uns allein.«

    Zhihou entschied innerhalb eines Wimpernschlags, dass er seine Form zu Ende bringen würde, denn auch im Militär war das Chi Kung heilig. Ein Wirbel mit dem Dao, der letzte Sprungtritt und dann das Zusammenkauern des Pavians. Danach erhob er sich, steckte den Säbel in die Scheide und grüßte mit der Faust an der flachen Hand.

    Es war der Graue Mandarin selbst.

    Zhihou erstarrte innerlich wie das Kaninchen, das den kreisenden Adler bemerkt. Er verbeugte sich tief und richtete sich nur zögerlich wieder auf. Er war schweißnass, und die Haare hingen ihm in Strähnen ins Gesicht. Zudem trug er nur eine Hose, und dem Grauen Mandarin würden die Tätowierungen vielleicht unangenehm auffallen, zu denen er sich von Henshi und Gungtse hatte überreden lassen. Mittlerweile waren es schon ein halbes Dutzend, verteilt auf Brust und Arme.

    »Zhihou, deine Hauptfrau hat dich mir empfohlen«, sagte der Graue Mandarin. Er war ein hagerer Mann in grauer Beamtenrobe, jedoch mit einer seidenen Maske vor dem Gesicht, die nur seine schmalen Augen freiließ. Seine Statur legte nahe, dass er ein Alb war, doch er trug über der Maske eine Kapuze. Zhihou erkannte ihn zwar, weil die Hauptfrau nicht zum ersten Mal besondere Aufträge der Geheimpolizei annahm, doch vielleicht handelte es sich beim Grauen Mandarin nicht immer um denselben Mann.

    »Wofür könnte sie mich empfohlen haben, ehrwürdiger Mandarin?«, fragte Zhihou.

    »Wir haben Gerüchte gehört. Ein Mann, der es mir in Sachen … Geheimhaltung gleichtut und stets eine Maske trägt, bildet an immer wechselnden Orten Inanis Widerstandskämpfer

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