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Kalt wie Eis: Ein Splittermond-Roman
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eBook317 Seiten4 Stunden

Kalt wie Eis: Ein Splittermond-Roman

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Über dieses E-Book

Die Küstenstadt Zitrabyt am eisigen Firnmeer wird seit Anbeginn der Zeit von unzähligen Zwergenclans friedlich bevölkert. Nun deutet sich jedoch eine Verwerfung des Status Quo an: Das Gerücht über die Sichtung großer Walflotten vor den Küsten löst – in der Hoffnung auf reiche Beute – ein regelrechtes Wettrennen aus. In der Hoffnung, sich einen Vorteil und mehr Einfluss sichern zu können, setzen die Clans ihre Flotten in Bewegung.

Bald schon gibt es Berichte, dass diese untereinander in Konflikt geraten: Im Kampf um die besten Jagdgründe attackieren sie sich gegenseitig, versenken und kapern mitunter. Die Hafenmeisterin und Friedenswahrerin Vychoda hat die Vermutung, dass der Streit bewusst geschürt wird. Da sie als Parteiische wenig ausrichten kann, wendet sie sich an einen alten Freund: den Gnom Baro. Zusammen mit seiner Leibwächterin Marca soll er Beweise für Vychodas Vermutung sammeln ...

Ein neues Abenteuer aus Lorakis, der fantastischen Welt des preisgekrönten Rollenspiels Splittermond!
SpracheDeutsch
HerausgeberFeder & Schwert
Erscheinungsdatum29. Okt. 2018
ISBN9783867623322
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    Buchvorschau

    Kalt wie Eis - Felix Münter

    www.splittermond.de

    Kapitel I

    Der Hafen im Eis

    Der Wind kam aus Westen und er blähte die gestreiften Segel des Langboots auf. Das Schiff pflügte durch die Wellen des tiefblauen Firnmeers. Frost lag in der Luft. Frost lag hier im hohen Norden immer in der Luft.

    Das Langboot machte gute Fahrt, hielt sich im Schatten des Kontinents und folgte dem Verlauf der Küste gen Osten. Während der Blick auf die Landschaft an Steuerbord Sicherheit und Vertrautheit, zumindest aber festen Boden unter den Füßen versprach, war es mit dem Panorama an Backbord anders. Dort erstreckte sich das dunkle, beinah schwarze Meer bis zum Horizont. Hier und da schimmerte und glitzerte es auf den Fluten. Doch es war kein Widerschein der Sonne, die hinter einem dichten Wolkenschleier lag und nur diffuses Licht spendete. Es war Eis. Brocken, größer als Häuser und Schiffe, die ganz im hohen Norden abgebrochen waren und nun behäbig in der Strömung nach Süden trieben.

    Am Bug des Langboots standen zwei Gestalten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Die eine war klein, kaum größer als einen Meter und eingepackt in dicke Winterkleidung. Aus der Ferne hätte man sie für ein Kind halten können, doch wie viele Kinder gab es denn, die genüsslich an einer Meerschaumpfeife sogen und dichte Rauchwolken auspafften? Neben dem rauchenden Gnom erhob sich eine über zwei Meter große Gestalt, die ihn noch viel kleiner wirken ließ, als er wirklich war. Auch sie trug dichtes Fell, das gegen die Kälte schützte, doch es war ihr eigenes. Es handelte sich um einen kräftigen Varg mit dunkelgrauem Fell. Es gab zwei Arten von Vargen: jene, die Füchsen auf zwei Beinen ähnelten und vor allem im fernen Osten, in Takasadu lebten und jene, die an Wölfe auf zwei Beinen erinnerten. Bei dem Exemplar neben dem kleinen Gnom handelte es sich eindeutig um einen Wolf. Genau genommen um eine kräftige Wölfin. Sie blickten hinaus auf das Meer und während in den orangenen Augen des Gnoms Freude und Faszination blitzten, ein Schimmer, der ihn schon seit Jahren begleitete, starrten die bernsteinfarbenen Augen der Vargin skeptisch auf das in der Ferne treibende Eis.

    „Was stört dich?", fragte der Gnom und reckte den Kopf zu seiner Begleiterin. Seine Haut hatte einen grauen Schimmer und es war schwer zu sagen, ob es der Staub des Reisens war, der ihm noch in den Poren lag oder etwas anderes.

    „Das verdammte Eis, Baro, brummte die Vargin und fletschte die Zähne. „Diese Brocken sind mir nicht geheuer.

    „Sie sind weit genug weg, erklärte der Gnom beschwichtigend und deutete mit dem Pfeifenstiel zum Heck des Langboots. „Zumindest sagt der Kapitän das.

    Die Vargin rümpfte die Nase und verschränkte die Arme vor der Brust.

    „Und was, wenn er falsch liegt?"

    „Dann werden wir wohl schwimmen müssen, Marca", lächelte der Gnom.

    „Schwimmen! Die Vargin schüttelte den Kopf und wischte mit ihrer rechten Pranke über die Reling, auf der sich die Eiskristalle festgesetzt hatten. Unter ihren Krallen entstand ein schabendes Geräusch. „Wir würden es nicht mal bis an Land schaffen.

    „Wie lange sind wir jetzt schon gemeinsam unterwegs, Marca?, fragte Baro und steckte sich seine Pfeife in den Mundwinkel. „Ich habe dich noch nie so angespannt erlebt.

    „Liegt vielleicht daran, dass wir in den letzten zehn Jahren meistens unsere Füße genommen haben, antwortete sie zischend. „Es sind diese Schiffe. Und das Meer. Sie streckte ihren Arm aus und der Wind bauschte ihr Fell. „Schau dir das an! Wenn die Götter gewollt hätten, dass wir uns im Wasser aufhalten, dann hätten sie uns doch Schuppen und Schwimmhäute gegeben!"

    „Wer versteht schon die Pläne der Götter? Baro zuckte mit den Schultern. „Schau dir doch mein Volk an. Wir sind klein. Flink vielleicht auch, aber – wie du immer sagst – zerbrechlich. Man könnte doch meinen, dass wir dafür geschaffen sind, an einem Ort geboren zu werden und diesen nie zu verlassen. Stattdessen aber werden viele Gnome von einem Drang angetrieben, die Welt zu sehen und zu wandern. Wenn die Götter das gewollt hätten, hätten sie uns doch wenigstens lange Beine geben können!

    Sein Grinsen war ansteckend und es sorgte dafür, dass Marca einmal laut auflachen musste.

    „Baro, du bist einfach vom Fernweh getrieben. Das ist alles. Andere Gnome in deinem Alter haben begriffen, wie gefährlich die Welt sein kann und sich niedergelassen. Du hingegen…"

    „Ich hingegen?, echauffierte sich der Gnom und stemmte die Hände in die Hüften. „Du sprichst ja mit mir, als ob ich uralt wäre!

    „Du bist älter als die meisten Varge, die ich kenne."

    „Ich bin vierundvierzig Jahre alt, gab er zurück. „Für einen Gnom ist das nichts!

    „Für die meisten von euch ist die Zeit lang genug, um endlich die Flausen mit der Wanderschaft zu vergessen."

    Die beiden sahen sich an und begannen herzlich zu lachen. Einige Momente trat danach das Schweigen zwischen die beiden und sie blickten einfach weiter hinaus auf das Meer, spürten den Wind und rochen das Salz. Eine kreischende Möwenschar folgte dem Langboot eine Weile, drehte dann jedoch wieder in Richtung Land ab. Marca räusperte sich.

    „Wie ist es dort, Baro?"

    „Wo?"

    „In…, sie verzog kurz das Gesicht und versuchte dann, das richtige Wort zu formen. „In… Zitra…byt. Es war nicht so, als ob der Name ihr Schwierigkeiten bei der Aussprache machte, er schien nur so ungewohnt.

    „Du wirst es sehen, meinte der Gnom, nahm die Pfeife aus dem Mund und sah auf die glimmende Asche. „Und du musst es sehen, um es glauben zu können.

    „Das soll mich beruhigen?"

    „Es ist eine Stadt aus Eis. Im Eis, erklärte der Gnom und sah seine Begleiterin an. „Einzigartig, nach allem was ich weiß. Eine Kaverne mitten im Eispanzer des Kontinents, führte Baro mit leuchtenden Augen aus. „Wenn man in den Hafen einfährt, dann befindet man sich unter meterdicken Eisschichten und…"

    „Unter Eis, raunte Marca kopfschüttelnd und unterbrach ihn. „Und das soll mich beruhigen?

    „Ich hoffe doch. Oder hast du kein Vertrauen in die Baukunst der Zwerge?", entgegnete Baro. Seine Stimme war dabei so leise geworden, dass sie nicht zu den anderen Passagieren auf dem Langboot getragen wurde. Denn bei ihnen handelte es sich ausnahmslos um Zwerge.

    „Wenn Zwerge in Erde und Stein bauen, dann halten ihre Bauwerke, tat Marca die Frage mit einer Handbewegung ab. „Aber das hier ist Eis. Eis ist… flüchtig. Es schmilzt doch.

    „Gut beobachtet. Ja, es schmilzt. Wird wieder zu Wasser. Aber hier oben im Norden ist es anders. Es ist so kalt, dass das Eis gar nicht schmelzen kann."

    „Du willst mir also erzählen, dass es noch kälter wird?", fragte die Vargin und sog hörbar Luft durch die Nase.

    „Ein bisschen. Aber Kälte dürfte für dich doch eigentlich kein Problem sein, dachte ich."

    „Nur weil ich Fell habe, heißt das ja nicht, dass Eis und Schnee mich nicht stören."

    „Sicher. Baro versuchte mit seinem Pfeifenwerkzeug der schwindenden Glut Herr zu werden, ein Unterfangen, das wegen der dicken Handschuhe zum Scheitern verurteilt war. Er seufzte, reckte seinen Arm über die Bordwand und schüttelte die Pfeife behutsam aus. Die Reste des glimmenden Pfeifenkrauts rieselten zischend auf das Wasser und versanken, nicht aber ohne noch einmal ihre starke, süße Schwere zu verbreiten. „Du wirst schon sehen, es wird dir gefallen.

    „Hmmm… Marca klang mürrischer als sie eigentlich wollte und kratzte sich hinter dem Ohr. Ihre Ohrringe klimperten. „Und du warst schon einmal da? Wie kam das?

    „Mein Fernweh, würde ich meinen. Baro reckte erst den einen Fuß und dann den anderen vor. „Und natürlich dank denen hier. Ich kann sie eben nicht still halten.

    „Da steckt doch sicher mehr dahinter", meinte die Vargin und sah ihn eindringlich an.

    „Muss denn hinter jeder Reise eine große Geschichte stecken? Ich denke es ist anders. Du gehst auf Reisen und wenn du Glück hast, findest du eine große Geschichte. Wenn nicht, dann siehst du eben nur die Welt. Und allein das ist es wert, aufzubrechen."

    Gegen Abend änderte sich der Kurs des Langboots: Der Kapitän lenkte sein Schiff etwas weiter auf das Meer hinaus und ließ dann die Segel einholen. Während Marca das Manöver argwöhnisch beobachtete, war Baro die Ruhe selbst, denn er wusste was folgte. Mit gebrüllten, zackigen Kommandos brachte der Kapitän seine Mannschaft an die Ruderbänke, dann wurden die Riemen zu Wasser gelassen. Wieder blaffte der Kapitän ein Kommando, dann begannen die Zwerge zugleich mit einem kräftigen Ruderschlag, der das Langboot spürbar vorantrieb. Die ersten Schläge bedurfte es der dröhnenden Stimme des Kapitäns – einem breitschultrigen Zwerg mit langem und dichtem Bart bis zum Gürtel und einem Holzbein – dann fand die Mannschaft ihren Rhythmus. Einer der Ruderer begann ein einfaches Lied zu singen, die anderen Zwerge wiederholten den Refrain. Das Lied handelte von einem Kaperschiff voller Zwerge, das ausfuhr, um sein Glück und reiche Beute zu suchen. Doch das Schicksal wendete sich immer wieder auf komische Weise gegen sie. Das Lied brachte zum Schmunzeln, sparte nicht vor Übertreibungen und Seemannsgarn – aber es erfüllte vor allem einen Zweck: Sein Rhythmus hielt die Ruderer im Takt. Der Kapitän schien zufrieden mit der Arbeit seiner Mannschaft, nickte anerkennend und ging über den Mittelgang zurück zum Steuermann.

    Das Langboot hatte den Scheitelpunkt seines Kurses erreicht. Nachdem es zuerst weiter aufs Meer hinausgefahren war, ließ der Kapitän den Bug nun wieder landwärts einschlagen. Mit jedem Pull an den Riemen näherte sich das Schiff nun der schroffen Küste. Die Zwerge hatten Gelegenheit zu zeigen, was in ihnen steckte, ihre kräftigen Arme sorgten für beachtliche Beschleunigung.

    Marca blickte in Richtung Land. Mittlerweile war Dunst aufgezogen, die Sichtweite nicht mehr so gut wie noch am Mittag. Zwischen den nebligen Schwaden waren die Umrisse der Küste zu erkennen, doch es hätten genauso gut auch nur trügerische Schattenwürfe sein können. Sie kniff die Augen zusammen und spähte angespannt in den Nebel, dann entdeckte sie das warme, helle Leuchten. Die Vargin legte ihre Pranken auf die von Raureif überzogene Reling und beugte sich vor, sah, wie das Licht heller wurde. Es schien über der Küstenlinie zu schweben und hatte eine solche Intensität, dass Marca sich fragte, warum es ihr nicht schon viel früher aufgefallen war. Das Langboot jedenfalls richtete sich nach dem Licht aus und an Bord schien es niemanden zu stören, dass jeder Ruderschlag näher an die gefährliche Küste führte.

    Wellen rauschten und brachen sich krachend an Klippen, die im Dunst auftauchten. Die Vargin, die eigentlich mit allen Wassern gewaschen war und eine Menge Gefahren gesehen und durchgestanden hatte, spürte, wie ihr Herz zu stampfen begann. So nah an der Küste war das Meer tückisch, unter den wogenden Fluten verbargen sich scharfkantige Felsen, die nur manchmal an den Schaumkronen der Wellen zu erkennen waren. Andere Klippen ragten viele Meter aus der Brandung. Es war ein gefährliches Wasser, in das sie sich begeben hatten und Marca blickte über ihre Schulter zum Kapitän. Der hatte mittlerweile das Ruder vom Steuermann übernommen, stand dort still wie eine Statue, die Augen zu Schlitzen verengt. Die Bewegungen seines Arms waren viel filigraner, als man es einem Mann mit seiner Erscheinung zugetraut hätte und das Boot reagierte auf jede noch so kleine Regung des Ruders. Mit stoischer Ruhe brachte der Kapitän sein Schiff vorbei an den zahllosen Klippen, manchmal so dicht, dass Marca die Muscheln, die sich an ihnen festgesetzt hatten, hätte zählen können.

    „Da wird einem anders, was?", fragte Baro. Der Gnom war neben sie getreten und schien sich an der drohenden Gefahr gar nicht zu stören.

    „Wie kannst du nur so ruhig bleiben?", presste Marca hervor, die ihren Blick nicht vom Fahrwasser nehmen konnte. Sie erwartete jeden Moment, einen verräterischen Wellenkamm, eine Verwirbelung, die Spitze eines Felsbrockens zwischen den Fluten zu erblicken.

    „Ich habe es schon einmal erlebt, antwortete der Gnom. „Und mir ging es nicht anders, das kannst du mir glauben. Aber der Kapitän versteht sein Handwerk. Sie lassen niemanden eins der Boote kommandieren, wenn er kein Händchen dafür hat.

    „Er muss sich nur einmal vertun, das Schiff nur ein wenig falsch ausrichten. Oder in eine unerwartete Strömung geraten…", flüsterte Marca. Ihre Ohren hatten sich aufgestellt, ihr Schwanz war starr.

    „Ich glaube, er könnte den Weg auch finden, wenn er schlafen würde, fand Baro und nickte in Richtung des holzbeinigen Kapitäns. „Entspann dich. Und genieß den Ausblick.

    „Das ist leichter gesagt als…", setzte sie an und verstummte.

    Der Nebelschleier riss auf und wenige Schiffslängen vor dem Bug des Langboots erhob sich die schroffe, steile Küste aus Eis. Marca entglitt ein erstaunter Schrei, ihre Augen weiteten sich. Dann erst begriff sie, dass das Langboot nicht auf Kollisionskurs mit der Wand aus Eis war. Verborgen zwischen einigen mächtigen, scharfkantigen Felsen die wie Wellenbrecher wirkten, gab es ein ovales Loch im Eis, drei oder vier Schiffslängen breit. Die Einfahrt in die Kaverne wurde zu beiden Seiten von Tranfeuern markiert, deren dichter, schwarzer Qualm hinaus auf das Meer gerissen wurde. So nah an der Küstenlinie war die Strömung wild und brutal, das Langboot wurde von zwei Schlägen getroffen, die nicht nur Marca, sondern auch Baro zusammenzucken ließen. Dann aber hatte der Bug des Langboots diese Zone durchstoßen, passierte unbeschadet die Klippen und fuhr in die Kaverne ein. Marca hob den Kopf, erwartete, dass die Mastspitze des Langboots mit dem Eis kollidierte – doch oberhalb des Masts waren noch einige Meter.

    „Unglaublich …", hauchte sie.

    „Hab ich es nicht gesagt? Baro lächelte breit und versetzte ihr einen Stoß mit dem Ellbogen, der aufgrund seiner Körpergröße aber nur auf Höhe ihres Oberschenkels lag. „Und es wird noch besser.

    Das Langboot glitt durch einen breiten Tunnel im bläulich-weißen Eis. Alle paar Meter säumten magische Laternen den Weg und sorgten für ein atemberaubendes Farbspiel. Schlagartig schienen das Meer und die tosende Brandung so weit entfernt. Das allgegenwärtige Eis schluckte jedes Geräusch und wirkte wie ein undurchdringlicher Panzer. Zu beiden Seiten des Tunnels hatte man einen Steg aus dem Eis geschlagen, an einer Stelle waren einige Zwerge mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigt. Kleine, kräftige Gestalten in Pelz und Leder, die das Eis bearbeiteten wie ihre Artgenossen anderswo auf dem Kontinent den Stein. Sie blickten auf, als das Schiff passierte und grüßten. Baro und Marca konnten die Blicke der Arbeiter auf sich spüren.

    „Die haben hier sicher nicht oft Gäste, was?", raunte die Vargin.

    „Selten. Und ich schätze, du bist die einzige Vargin, die es nach Zitrabyt geschafft hat."

    „Was für eine Ehre…"

    Der Tunnel maß vier oder fünf Schiffslängen und mündete dann in eine Kaverne. Die Einfahrt in die Stadt im Eis war schon eine einzigartige Erfahrung gewesen, doch die Kaverne übertraf alles noch einmal um Längen. Zitrabyt lag unter einem dicken Eispanzer mitten an der Küste und die Frynjord hatten es geschickt verstanden, die Gegebenheiten des hohen Nordens für sich zu nutzen. Die Gletscherzwerge hatten eine ganze Stadt unter dem tonnenschweren, meterdicken Eis errichtet. Der Kavernenhafen, in den das Langboot einfuhr, war imposant: Seine kuppelförmige Decke spannte sich weit über den Köpfen, war drei oder vier Mal höher als der Mast des Schiffs, mit dem Baro und Marca gekommen waren. Die Höhle beschrieb ein Oval und an ihren Seiten ragten Stege in das azurblaue Wasser, einige davon aus weißem Eis, andere aus Holz. In der hinteren Hälfte der Kaverne begann die eigentliche Stadt. Hier erhoben sich Bauten, die an einem Stück aus dem Eis gehauen waren, kunstvolle Zeugnisse der Handwerkskunst der Frynjord. Doch nicht alles in Zitrabyt war aus Eis: Die Hafenstadt musste am Rande eines Gletschers liegen, die südlichen und westlichen Wände der Kaverne schimmerten dunkel. An einigen Stellen war das Eis vollständig abgetragen und der nackte Fels kam zum Vorschein. Die Zwerge hatten Stollen und Tunnel getrieben, Kammern und Säle aus Eis und Fels geschlagen. Unter der Decke der großen Kaverne verliefen schmale Stege in schwindelerregenden Höhen, an ihnen hingen wiederum Laternen, deren gleichmäßige, goldene Leuchtkraft es schaffte, die gesamte Höhle auszuleuchten.

    Das Langboot passierte breite Rampen im vorderen Teil der Kaverne. Das Leben im hohen Norden war hart und die Gletscherzwerge hatten schnell erkannt, dass sie hinaus aufs Meer mussten, wenn sie überleben wollten. Binnen weniger Jahre hatte sich so eine Walfangtradition etabliert, die sich als meisterhaft bezeichnen ließ. Die Rampen waren untrügliches Zeichen dessen: Sie führten hinauf zum Zerlegeplatz, dem Flensplan, und waren gesäumt von mächtigen Kränen. Das Eis hier hatte eine rosa bis rötliche Färbung, untrügliches Zeichen der erfolgreichen Fänge der vergangenen Sommer. Jetzt aber waren die Flenspläne leer.

    An den Stegen und Piers von Zitrabyt lagen nur wenige Schiffe und während Marca dieses Detail nicht einordnen konnte, wusste Baro dafür eine einfache Erklärung. Es war Sommer. Die Flotten der Frynjord fuhren in den wenigen warmen, eisfreien Monaten weit hinaus auf das Meer um sich tagelang auf die Pirsch nach den Walschulen zu begeben. Die Gletscherzwerge hatten immer nur einige Wochen des Jahres, um Vorräte für den Rest der Zeit anzulegen, denn je weiter das Jahr voranschritt, umso weiter wanderte auch der Eispanzer aus dem Norden über das Meer. Die Winter waren unbarmherzig und so kalt, dass das Meer bis vor die Pforten von Zitrabyt gefror.

    „Du hast nicht zu viel versprochen", gab Marca zu, als sie den Anlegestellen entgegenfuhren.

    „Es ist eine Reise wert, wie ich gesagt habe."

    „Bei dir ist immer alles eine Reise wert, Baro", kommentierte die Vargin kopfschüttelnd.

    „Lag ich denn irgendwann falsch?"

    „Kommt ganz darauf an. Das ein oder andere Problem wäre uns sicher erspart geblieben."

    „Problem. Baro winkte ab. „Was du Problem nennst, nenne ich Erfahrung. Außerdem sind es doch Abenteuer. Und sind das nicht die Dinge, von denen ihr Varge euch so gerne erzählt?

    „Nichts ist gegen eine gut erzählte Geschichte eines noch besseren Abenteuers einzuwenden", stimmte Marca zu.

    „Also. Schätze, wir haben nun schon eine ganze Menge erlebt, von dem du erzählen kannst wenn du alt und grau geworden bist." Baro schmunzelte und zupfte einmal am Fell der Vargin. Er machte diesen Scherz oft, und sie konnte nur die Augen verdrehen und brummte.

    „Dieser Witz wird nie alt, was?"

    „Mir gefällt er."

    „Immerhin einem von uns. Wie geht es jetzt weiter?"

    „Wir bleiben ein paar Tage hier, vielleicht etwas länger. Wenn wir Glück haben, können wir uns einem der Züge anschließen, die von hier nach Zimahora gehen."

    „Aber nicht wieder mit dem Schiff, oder?"

    „Ich kann dich beruhigen. Baro hob beschwichtigend die Hände. „Zitrabyt ist die einzige Hafenstadt, die es hier gibt. Weiter kommenen wir nur auf althergebrachte Art und Weise. Mit unseren Füßen.

    „Und? Ist diese andere Stadt sehenswert?"

    „Das weiß ich nicht, gab der Gnom zu. „Ich war noch nicht dort. Das letzte Mal, als ich nach Zitrabyt kam, war der Sommer schon beinahe vorüber und ich hatte die Wahl, nur ein paar Tage hier zu bleiben und dann eines der letzten Schiffe nach Süden zu nehmen oder den ganzen Winter zu bleiben. Das war mir dann doch zu lang.

    „Ja. Sie musste grinsen. „Du wärst wahnsinnig geworden, wenn du so lange an einem Ort geblieben wärst.

    „Ein Gnom muss eben tun, was ein Gnom tun muss, erklärte Baro. „Die Welt ist so groß, da wäre es doch eine Schande, wenn man sein ganzes Leben nur die gleichen Ecken gesehen hätte, oder? Wovon soll ich meinen Enkeln denn einmal erzählen, wenn ich dann alt und grau bin? Wieder wanderte das Grinsen über seine Lippen und er begann eine brüchige, alte Stimme zu imitieren. „Kinder, heute will ich euch von meinem eintönigen Leben erzählen… Er schüttelte den Kopf und räusperte sich, sprach wieder mit normaler Stimme weiter. „Das will doch niemand hören! Hab ich dir schon mal von meinem Großvater erzählt?

    „Viele Male."

    „Macht nichts. Ich kann es nicht oft genug sagen. Sein größtes Erlebnis war, dass er in jungen Jahren einmal ein paar große Städte besucht hat. Das musst du dir vorstellen! Die erzählenswerten Dinge waren immer, dass er eine Stadt gesehen hat. Kannst dir ja vorstellen, wie langweilig seine Erzählungen nach dem ersten Mal waren. Keine Abenteuer, nichts, was begeistert."

    „Ja, ja, winkte Marca ab. „Das erzählst du immer wieder. Baro, es ist mir doch egal, warum du reist. Aber solange du mit mir reist, musst du damit leben, dass ich von Zeit zu Zeit einen spitzen Kommentar habe. Das gehört dazu.

    „Es macht diese Reisen eigentlich auch ganz angenehm", gab er zu.

    Kapitel II

    Böses Blut

    Das Langboot trieb einem der hölzernen Piers entgegen und behände sprangen einige junge Zwerge auf die Planken, um es zu vertäuen. Baro und Marca verabschiedeten sich vom Kapitän und seinen Leuten, zahlten für ihre Passage und gingen an Land. Mit dem Gepäck über den Schultern – Baro trug einen prall gefüllten Rucksack, der ihn beinah überragte, Marca neben einem Rucksack noch ein beachtliches, in Öltuch eingeschlagenes Waffenarsenal unter dem Arm – marschierte das ungleiche Duo in Richtung der Gebäude. Es war ein langer Pier und ihr Schiff hatte am entferntesten Ende angelegt. Auf halbem Weg zu den Häusern lag ein weiteres Langboot. Es schien ebenfalls noch nicht lange eingefahren zu sein, die Mannschaft war noch an Bord beschäftigt.

    Als der Gnom und die Vargin noch eine Schiffslänge entfernt waren, tönte vom Anfang des Piers ein lauter Pfiff, der sie verharren ließ. Sie wurden Zeuge, wie eine ganze Gruppe Zwerge, wahrscheinlich handelte es sich um eine Mannschaft, den Pier erreichte und schnellen Schrittes zum Langboot eilte. Man musste kein Hellseher sein, um zu bemerken, dass sie nicht bei bester Laune waren: Ihre Gesichter waren rot vor Wut, die Augen zornig, die Fäuste geballt. Sie schrien und krakeelten und machten damit die zweite Mannschaft, jene Zwerge auf dem Boot, auf sich aufmerksam.

    „Was wird das, Baro?", flüsterte Marca und schob Kopf und Schultern etwas nach vorn. Im Gegensatz zu Baro war Marca des Fryntos, welches die Gletscherzwerge sprachen, nicht mächtig. Baro hatte zwar die Reise genutzt um seiner Freundin die grundlegenden Begriffe zu vermitteln, doch damit war wenig anzufangen. Auf eines aber konnte die Vargin sich verlassen: Auf ihr Gespür, das auf den Reisen fein ausgeprägt worden war. Und genau dieses Gespür war angeschlagen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte Mimik und Gestik der Zwerge zu lesen.

    „Willkommen in Zitrabyt, meinte Baro und rieb sich die behandschuhten Hände. „Es sind Zwerge, die mitten im Eis leben. Was glaubst du denn, wie die Sitten hier sind?

    „Du meinst …?"

    „Denke, die werden nicht gekommen sein, um sich über die letzten Fänge zu unterhalten, stimmte der Gnom zu und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir werden es aber gleich erleben. Schätze, wir kommen eh nicht an denen vorbei, solange die dort zugange sind.

    Damit lag er richtig. Die aufmarschierende Zwergengruppe sorgte dafür, dass die andere Mannschaft ihrerseits vom Langboot sprang und sich auf dem Pier formierte. An ein Durchkommen war wirklich nicht zu denken.

    „Wie wird es ablaufen?", brummte die Vargin und ließ ihre Schultern rollen.

    „Sie werden sich erst anbrüllen, dann wird irgendwer etwas sagen, was das Blut zu sehr zum Kochen bringt und sie beginnen, sich ordentlich zu vermöbeln", erklärte Baro mit beängstigender Ruhe und suchte nach einer seiner Pfeifen. „Wenn dann alles fertig ist, gehen

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