Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Das vergessene Kaer: Earthdawn-Zyklus 9
Das vergessene Kaer: Earthdawn-Zyklus 9
Das vergessene Kaer: Earthdawn-Zyklus 9
eBook367 Seiten5 Stunden

Das vergessene Kaer: Earthdawn-Zyklus 9

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nachdem die Völker der Welt vierhundert Jahre lang in ihren magischen Festungen dem Eindringen der Dämonen getrotzt haben, öffnen sich nun wieder die Pforten ihrer selbstgewählten Gefängnisse. Doch die Bewohner Barsaives müssen feststellen, dass ihre Welt vollständig verwüstet wurde und ihre alten Feinde immer noch gegenwärtig sind. Es liegt am Zwergenkönigreich von Throal, dem grausamen Theranischen Imperium und den verschlagenen Dämonen die Stirn zu bieten.

Hundert Jahre nachdem Throal seine Tore erstmals der neuen Welt öffnete, ist Kaer Moar immer noch verschlossen. Kaer Moar stirbt, die Bevölkerung siecht dahin. Tief unter der Erde, von der Welt vergessen, dient Kaer Moar den Dämonen als grausames Spielfeld. Ihnen sind die Bewohner schutzlos ausgeliefert, aber auch unter ihnen selbst kommt es immer häufiger zu Auseinandersetzungen. Und keine Hilfe oder ein Ende dieses Schreckens scheint in Sicht.
SpracheDeutsch
HerausgeberFeder & Schwert
Erscheinungsdatum21. Jan. 2019
ISBN9783867623872
Das vergessene Kaer: Earthdawn-Zyklus 9

Ähnlich wie Das vergessene Kaer

Titel in dieser Serie (10)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Das vergessene Kaer

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Das vergessene Kaer - Nigel Findley

    20.

    PROLOG

    Die Sonne hing eine Handspanne über den zerklüfteten Gipfeln des Eisenzahngebirges, rot und aufgebläht – schmerzhaft aussehend, wie ein Geschwür.

    Und doch wunderschön. Jevais Abendstern seufzte und blinzelte die Tränen aus seinen Augen. Mit einer bewussten Anstrengung wandte er der untergehenden Sonne den Rücken und schaute nach Osten über die öde Weite der Eisenebene. Die weit entfernten Berge von Delaris waren klein, Sägezähne am bewölkten östlichen Horizont, Schwarz auf wogendem Schwarz. Fünf Tagesmärsche im Südosten dieser Berge lag, wie Jevais wusste, das Königreich Cara Fard.

    Wie erging es den Caranern? fragte er sich. Hatten sie ihre Vorbereitungen beendet?

    Er seufzte wieder, aus tiefstem Herzen. Eindrücke seines Aufenthalts in Cara Fard zogen vor seinem geistigen Auge vorüber... Wie lange war das schon her? Es mussten jetzt zwei Jahrzehnte sein... Es war so eine energetische Kultur, so lebendig. Wie hatten sich die stolzen Caraner mit den Entscheidungen abgefunden, die sie hatten treffen müssen? Wie fühlten sie sich nun, da sie die Folgen dieser Entscheidungen zu spüren bekamen? Sahen sie sich ebenso wie Jevais die untergehende Sonne an und litten unter der bitteren Symbolik?

    Wieder musste er die Tränen wegblinzeln, die seinen Blick verschwimmen ließen. Albern, versuchte er sich einzureden. Man braucht nur lange genug in die Sonne zu schauen, dann tränen einem selbstverständlich die Augen...

    Holz und Leder knarrten hinter ihm. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und drehte sich um.

    Ein Ochsenkarren kroch über den harten Boden der Eisenebene. Der Fahrer warf einen ängstlichen Blick zum westlichen Horizont und trieb die Ochsen dann mit einer Peitsche an. Die Schatten von Karren, Ochsen und Fahrer tasteten nach Jevais wie in einem Alptraum, langgezogen und verzerrt. Ein bis in seine Seele reichendes Frösteln ließ Jevais erbeben, eine plötzliche Abneigung davor, von den schwarzen Fingern des Schattens berührt zu werden. Natürlich wusste er, dass es reine Dummheit war, aber er wich dennoch zurück. Er hob die Hand, um den Fahrer des Ochsenkarrens zu grüßen, eine Geste... Wovon? fragte er sich plötzlich. Irgendeines jämmerlichen Akts der Anteilnahme?

    Der Karren rumpelte weiter dem Kaer entgegen. Einer der letzten Karren, wie Jevais wusste. Wahrscheinlich einer der Kleinbauern, die südlich der Stadt Moar lebten. Sture, unglaublich genügsame Leute.

    Nun, stur mussten sie auch sein, oder? Nur sture, genügsame Halunken konnten der Eisenebene einen Lebensunterhalt abringen. Anstatt sich den anderen anzuschließen und das fruchtbarere Land im Westen der Stadt weiter aufzuteilen, waren die Kleinbauern zu dem Schluss gekommen, dass ihnen Unabhängigkeit und Abgeschiedenheit wichtiger waren als ein leichtes Leben.

    Wie werden sie mit dem Leben im Kaer fertig werden? Der Gedanke beunruhigte Jevais ein wenig. Diese Frage hatte er sich bisher noch nicht gestellt. Er drehte sich wieder um und folgte dem Karren mit seinen Blicken. Wie viele von den unabhängigen Bauern waren bereits im Kaer? Und wie viele würden es nie betreten? Natürlich war das ihr gutes Recht. Selbst das Theranische Recht, das ansonsten tyrannisch war, räumte jedem Freien das Recht ein, Art und Zeitpunkt seines Todes selbst zu wählen... Und wie viele von den Kleinbauern bestellten noch ihr Land? Sie wussten, dass der Sturm bald losbrechen würde. Sie wussten, welche Überlebensaussichten sie hatten – dürftige bis keine. Aber vielleicht war die Aussicht darauf, die kommende Plage in den Steinhäusern zu erwarten, die ihre Väter gebaut hatten, weniger bedrückend als die, den offenen Himmel auszusperren, bis sie und ihre Kinder und Kindeskinder zu Staub zerfallen waren...

    Bedrückende Gedanken, dachte er trübsinnig. Aber wenn heute kein Tag für derartige Überlegungen war, wann dann?

    Im Süden erhob sich ein niedriger Hügel, der mit winterfesten Sträuchern und Gräsern stoppelig wie das Kinn eines alten Mannes war, und versperrte ihm die Sicht auf Moar. Ein kurzer Spaziergang würde Jevais zum Gipfel dieser Anhöhe bringen und ihm den Blick auf das Schauspiel von Moar öffnen – auf die Straßen und Häuser, auf den ruhig dahinfließenden Tethralias, der sich mitten durch die Stadt schlängelte, auf die Felder und Obstgärten und Weinberge, die sich in Richtung des fernen Eisenzahngebirges ausbreiteten, und auf die versprengten kleinen Bauernhöfe im Süden der Stadt. Es wäre nur ein kurzer Spaziergang, um sich ein letztes mal die Stadt anzusehen, in der er geboren war, die ihm in seiner Kindheit Schutz geboten und ihn seiner Berufung zugeführt hatte ...

    Nein. Er war froh, dass es den Hügel gab. Er würde diesen Spaziergang nicht machen, wie kurz er auch sein mochte, wie sehr ihm Moar auch ans Herz gewachsen war. Seine Seele konnte es nicht ertragen, seine Selbstbeherrschung war ohnehin bereits bis zum äußersten beansprucht. Es war unmöglich – völlig unmöglich –, dass sie auch nur einen einzigen Blick auf die Stadt in dem schmalen Tal überstehen würde.

    Und Selbstbeherrschung war von überragender Bedeutung, ganz besonders an diesem Tag. Die Bewohner Moars schauten auf ihn, das wusste Jevais. Vielleicht mehr, als sie eigentlich sollten. Und gewiss mehr auf ihn als auf den Ältestenrat. Natürlich war das verständlich. Aber bloßes Verständnis verringerte nicht den Druck, den er verspürte. Wie sollte es auch? Schließlich war er ein Troubadour, und diese Berufung brachte Verantwortung mit sich. Er konnte die Stimmung der Leute spüren – jener, die bereits im wartenden Kaer verschwunden waren, und jener, welche die Gelegenheit nutzten, um ein letztes Mal unter freiem Himmel spazierenzugehen. Er konnte die... die Brüchigkeit... ihres Vorsatzes spüren. Für viele war die Entscheidung, ins Kaer zu gehen, eine denkbar schwierige gewesen. Unbestreitbar wussten alle von der bevorstehenden Plage. Sie hatten die Bücher und Pergamente gelesen, sie hatten sich die Lieder und Balladen angehört, die Jevais und seine Freunde ihnen vorgetragen hatten. Sie konnten die verstreichenden Jahre und den Wechsel der Jahreszeiten ebensogut nachvollziehen wie jeder andere. Sie sahen die Zeichen.

    Doch da war immer noch die ewige Kluft zwischen Wissen und Gefühl, jener Abgrund, der überbrückt werden musste, um zu echter Überzeugung zu gelangen. Die Plage stand bevor. Die Dämonen würden bald da sein. Falls man den alten Schriften und den Vorzeichen Glauben schenkte. Doch niemand hatte einen Dämon gesehen, nicht in Moar. Niemand hatte den Schrecken der bevorstehenden Plage erlebt. Natürlich hatten sie die Geschichten aus anderen Gegenden der Welt gehört, die ihnen von reisenden Kaufleuten und Abenteurern und sogar von umherziehenden Troubadouren erzählt worden waren. Geschichten von düsteren Gespenstern, die in den Straßen Majallans jagten, von verschrumpelten Säuglingen in Draoglin, von insektenartigen Kreaturen im südlichen Barsaive.

    Und doch... das waren nur Geschichten von Reisenden, nicht wahr? Nichts hatte die Seelen der Kinder Moars gestohlen. Des Nachts schlichen keine finsteren Kreaturen durch die Straßen der Stadt. Und den Bauern Moars war auch nicht von Insektenwesen das Herz aus der Brust gerissen worden. Reisende erzählten immer haarsträubende Geschichten, oder nicht? Wie anders sollten sie die Einheimischen so beeindrucken, dass sie für ihr Ale in der Taverne am Ort nicht zu bezahlen brauchten? Wie leicht es doch war, aus Mangel an persönlicher Erfahrung zu zweifeln.

    Und ihn quälten ebenfalls Zweifel, nagten jedesmal an seiner Seele, wenn er an die beengenden Mauern und Decken des wartenden Kaers dachte. Er hatte mit den alten Überlieferungen gelebt. Als Troubadour waren sie sein Leben und ebensosehr ein Teil von ihm wie sein Blut, seine Knochen und sein Mark. Und trotzdem hatte er Zweifel. Vielleicht sind die Überlieferungen und Voraussagen und Omen alle falsch. Vielleicht gibt es gar keine bevorstehende Plage. Vielleicht begraben wir uns lebendig... und wofür?

    Jevais rieb sich sein längliches Gesicht mit den Händen – so fest, als wolle er den Blutkreislauf in einem eingeschlafenen Arm anregen. Nein, sagte er sich entschlossen. Die Überlieferungen sind wahr. Die Plage steht bevor, und damit haben wir nur noch zwei Möglichkeiten: Ins Kaer gehen... oder sterben. Langsam, mit einem niederschmetternden Gefühl der Endgültigkeit, kehrte er seiner Geburtsstadt zum letzten Mal den Rücken.

    Das Kaer – Kaer Moar – ragte vor ihm auf, eine gewaltige Form vor dem rötlich-violetten Himmel. Kahl und steil erhoben sich seine Mauern aus der steinigen Erde der Eisenebene Hunderte von Ellen hoch. Die Wände waren überraschend glatt und bildeten einen Kegel aus schwarzem Basalt und Granit, der auf der Ebene stand wie ein Spielzeug, das von Riesen oder vielleicht von den Passionen dort abgelegt worden sein mochte, als sie seiner überdrüssig geworden waren. Er konnte sich mühelos vorstellen, wie die Wucht unzähliger Tonnen harten Gesteins die glatte, kreisförmige Grundfläche in die Ebene bohrte.

    Das war natürlich Unsinn. Jeder halbwegs Gebildete wusste, dass der Kegel nicht von oben heruntergefallen, sondern von unten gewachsen war. Die senkrechten Felswände versanken in der Erde, tiefer – viel tiefer –, als sie sich über Jevais erhoben. Wie tief reichen sie? fragte er sich zum tausendstenmal. Hunderte von Ellen? Hunderte von Schritten? Noch tiefer? Er wusste, dass die Baumeister, die Kaer Moar entworfen hatten, eineinhalb Dutzend kreisförmige Ebenen innerhalb des Kegels angelegt hatten, die nach unten hin immer größer wurden und von denen viele leer waren, um Platz für zunehmende Bevölkerung zu lassen, doch wie tief unterhalb der tiefsten Ebene reichte der eigentliche Kegel?

    Bei dem Gesteinskegel, der Kaer Moar geworden war, handelte es sich natürlich um einen Vulkan: um einen Kegel aus metamorphem Gestein, erstarrter Lava, der sich im Laufe unzähliger Jahrhunderte, sogar Jahrtausende, aufgebaut hatte. Der Vulkan war seit langem untätig, jeder wusste das ... aber nicht völlig erloschen. Gewisse Quellen und unterirdische Flüsschen führten kochendheißes Wasser, was bedeutete, dass es irgendwo tief im Herzen des Gesteins noch Bewegung gab. Offensichtlich bestand die Gefahr, dass der Vulkan ausbrechen und das Kaer von innen zerstören würde, bevor die Plage vorüber war – oder vielleicht sogar als Ergebnis der Plage –, und zwar trotz aller Schutzvorrichtungen, mit denen es gesichert war, aber diese Gefahr war zugleich ein Segen. Die Erde selbst würde die Hitze zur Verfügung stellen, um die Bewohner des Kaers vor der bitteren Kälte des Winters zu schützen.

    Kaer Moar war ein Denkmal für die Fähigkeiten der Baumeister Moars, eine Tatsache, die Jevais anerkannte, obwohl er kaum Ahnung von den tatsächlich erforderlichen Fähigkeiten hatte. Irgendwie hatten diese Baumeister – die meisten waren Steinmetz-Adepten und wurden von einigen Elementaristen unterstützt – die zentralen Kammern des Vulkankegels geöffnet, ausgehöhlt und dann in Ebenen und Plätze, Räume und Kammern, Galerien und Treppen eingeteilt. Die Arbeit wäre ihnen leichter von der Hand gegangen, wenn sich mehr Obsidianer unter den Arbeitern befunden hätten, wie Jevais wusste. Diese namensgebende Rasse besaß angeborene Fähigkeiten, was die Bearbeitung von Stein betraf, die unschätzbar wertvoll gewesen wären. Doch es lag in der Natur dieser Region zwischen dem Eisenzahngebirge und den Bergen von Delaris, dass Obsidianer nur dann gesehen wurden, wenn sie als Reisende durch Moar kamen.

    Die natürliche Beschaffenheit des Kegels hatte den Arbeitern mehr geholfen als sie behindert, aber es war dennoch ein gewaltiges Unternehmen. Schließlich hatten sie die Zugänge versiegelt, durch die sie das Herz des Kegels, den scharfkantigen Krater, erreichten – natürliche Höhlen, Lavaröhren und mehrere Tunnel, die sie selbst angelegt hatten. Alle bis auf einen. Dann hatten die Geisterbeschwörer und Elementaristen und Magier ihre Schutzvorrichtungen gewirkt und diese Zugänge – und das gesamte Kegelmassiv – mit Wahrer Erde und mächtiger Magie gesichert. Jetzt blieb nur noch ein einziger Zugang: ein breiter Tunnel, der bereits nach dem Generationen in der Zukunft liegenden Tag benannt war, an dem sich das Kaer wieder der Sonne öffnen würde, das Tor der Dämmerung.

    Die gewaltigen Tore aus Metall und Stein standen jetzt noch offen. Bald würden sie sich schließen, und Jevais würde in seinem ganzen Leben nicht mehr sehen, wie sie sich öffneten. Sobald sie sich geschlossen hatten, würde Moars einziger überlebender Magier ins Herz des Kaers herabsteigen, zum großen »Schlüssel« für die magischen Schutzvorrichtungen, die Jevais, seine Mitbürger und ihre Nachkommen für vier Jahrhunderte schützen würden. Der Magier würde die gewaltigen Mengen von Blutmagie aufladen, mit denen seine Kollegen unter Aufgabe ihres Lebens das Gestein erfüllt hatten. Das Tor der Dämmerung würde nicht allein durch weltliche Mittel gesichert sein, sondern auch durch Magie, durch dieselbe Magie, die das ganze Gebilde durchdrang. Dieselbe Magie, die – hoffentlich! – die Dämonen davon abhalten würde, in das Kaer einzudringen.

    Wenn der rechte Zeitpunkt gekommen war, Generationen in der Zukunft, wenn unzählige Vorrichtungen besagten, dass die Plage vorbei war, würde der Schlüssel entkräftet und das magische Feuer der Schutzvorrichtungen gelöscht werden. Die Schlösser und Riegel würden geöffnet, und dann würde sich das Tor der Dämmerung wieder der Welt öffnen. Dem Himmel, der Sonne, dem Regen und dem Wind...

    Mit einem Schnauben verdrängte Jevais den Gedanken. Ebensogut könnte ich an den Tag denken, an dem die Sonne zu Asche verglüht, sagte er sich verbittert. Ich werde beides nicht erleben.

    Als er langsam zum Kaer zurückging, sah er, dass die Menge vor dem Tor der Dämmerung näher zusammengerückt war. Obwohl sie nicht kleiner geworden war – immer noch trotzten hundert und mehr seiner Freunde und Nachbarn dem schneidenden Abendwind, um noch einen letzten Blick auf die Welt zu werfen. Aber sie waren doch zusammengerückt, als zwinge sie die Nähe des unausweichlichen Augenblicks zusammen, damit ihre noch wankende Entschlossenheit durch die Berührung, durch die reine körperliche Nähe gestärkt würde.

    Es wurde kaum gesprochen, und die wenigen, die sich unterhielten, flüsterten miteinander. Die meisten betrachteten nicht ihre Mitbürger, sondern hatten den Blick auf den Himmel, das Land und die entfernten Berge gerichtet. Als wollten sie vorgeben, sie erlebten dies allein... ohne das Gefühl der Nähe aufzugeben. Jevais lächelte traurig. Er konnte ihre Stimmung, ihre Gefühle, wie sanfte Strömungen und Strudel spüren. Hier kam seine Ausbildung als Troubadour zum Tragen, die Fähigkeit, das Gewebe der Dinge zu spüren und gleichzeitig den für eine genaue Beobachtung unerlässlichen Abstand zu wahren.

    Tief im Kaer ertönte das Große Horn – das Horn, das nur für diesen Zweck geschaffen worden war und nur jetzt geblasen wurde und dann erst wieder an dem Tag, an dem sich das Tor der Dämmerung wieder öffnen würde. Der tiefe, abgerundete, schmeichelnde Ton hallte traurig durch die Kammern und Gänge des Kaers wie ein Schrei der Verzweiflung, der Tragödie, von irgendeiner riesigen Bestie. Der Ton fuhr ihm mit seiner unsagbaren Traurigkeit mitten ins Herz.

    Und nicht nur ihm, das sah Jevais. Viele in der Menge zuckten vor dem Laut zurück, als handele es sich um die Nachricht vom Tode einer geliebten Person. Langsam begaben sich die Leute in das Kaer.

    Jevais beobachtete sie dabei. Mein Volk. Meine Schützlinge. Sie schienen geschrumpft zu sein – sogar Garrth der Hufschmied sah kleiner aus, seine tonnenförmige Brust wirkte hohl. Als sei ihnen ihr Innerstes herausgerissen worden, als sei alles ein wenig eingefallen, um die Leere zu füllen...

    Ein schriller Schrei riss ihn aus seinen finsteren Gedanken. Ein kleiner Junge, vielleicht sieben Jahre alt, wollte sich von seiner Mutter losreißen und rief dabei etwas von einem Haustier, das nicht da war. Jevais sah sich rasch um, konnte das widerspenstige Tier jedoch nirgendwo sehen.

    Und es war keine Zeit mehr, es zu suchen. Das Große Horn ertönte zum zweitenmal, wie das Nebelhorn eines großen Schiffs, das einem unbekannten Kurs folgte. Das Tor der Dämmerung schoss sich bereits. Das Geschrei des Jungen bekam einen schrillen Unterton, als seine Mutter ihn in das Kaer zerrte. Noch einmal sah sich Jevais rasch um. Immer noch keine Spur von dem geliebten Haustier. Erstaunlich, dachte er freudlos. Selbst wenn man glaubt, dass die Seele bis zum Rand von Trauer erfüllt ist, es ist immer noch Platz für mehr...

    Augenblicke später war er allein, der letzte Bewohner Moars, der den Schutz des großen Kaers aufsuchen würde. Die gewaltigen Portale des Tors der Dämmerung, in die Runen und Zeichen schützender Magie geritzt waren, schlossen sich schwerfällig. Eilig marschierte er der schmaler werdenden Öffnung entgegen.

    Was...? Er fuhr plötzlich herum. Ein kalter Hauch – kein Windzug – strich über seinen Nacken, und plötzlich hatte er das Gefühl, dass da hinter ihm etwas war, obwohl er allein war. Seine Haut kribbelte.

    Er schnaubte wieder. Albern. Seine Einbildung ging mit ihm durch. Schließlich, dachte er noch einmal, gab es einen geeigneteren Tag für finstere und niederdrückende Phantasien?

    Jevais Abendstern trat über die Schwelle in die kühle Stille des Kaers. Durch den immer schmaler werdenden Spalt zwischen den Toren sah er das letzte Aufblitzen der Abendsonne, die hinter dem Eisenzahngebirge versank – der Sonne, die er in diesem Leben nicht mehr sehen würde.

    1.

    Auf dem nächsten breiten Treppenabsatz zögerte Delain Abendstern. Welche Ebene war dies?

    Er lachte leise, und seine musikalische Stimme wurde vom fein behauenen Basalt zurückgeworfen. Man verlor so schnell den Faden, besonders hier auf der Sensentreppe in den weniger benutzten Bereichen des Kaers. Er berührte den glatten schwarzen Sturz einer Tür. Zugegeben, die Baumeister, die Kaer Moar errichteten, hatten sich um viele Dinge Gedanken machen müssen. Und zugegeben, die Sensentreppe war nicht annähernd so wichtig oder vielbenutzt wie die Große Wendel... Aber wieviel Mühe hätte es tatsächlich gemacht, die Absätze mit Glyphen oder Symbolen zu kennzeichnen? Oder den Farbton der Lichtquarze zu ändern, um die Ebene anzuzeigen?

    Er schüttelte den Kopf und strich sich eine widerspenstige Locke blonden Haars aus der Stirn. Es war besser, solche Gedanken für sich zu behalten, erinnerte er sich, während seine Belustigung plötzlich verpuffte. Ganz besonders jetzt.

    Mit einem leisen Seufzen verdrängte er diesen Gedanken. Schließlich kam er Jahrhunderte zu spät, um mit den Baumeistern des Kaers deren Bauentscheidungen zu bereden. Und außerdem gab es im Augenblick Wichtigeres, worüber er sich Gedanken machen musste.

    Zum Beispiel darüber, wo, im Namen des Todes, er war. Er schüttelte wiederum den Kopf und lächelte sanft. Das hatte er davon, wenn er seinen närrischen Gedanken freien Lauf ließ. Ich bin mir ein Troubadour-Lehrling, schalt er sich. Und wenn ich mir überlege, dass ich als Kind Kartograph werden wollte...

    Er schoss die Augen und konzentrierte sich. Fünf Treppen hinauf... Nein, sechs. Das bedeutete, er befand sich auf der Jaspree-Ebene. Was wiederum bedeutete, dass er noch drei Treppen erklimmen musste, um die Astendar-Ebene zu erreichen. Er tätschelte noch einmal den kalten Steinsturz und ging weiter. Das Klicken seiner Stiefelabsätze hallte durch das verlassene Treppenhaus.

    Hier auf der Sensentreppe war die Luft kühl und feucht und breitete sich in Delains Lungen und Knochen aus wie uralte Verzweiflung. Einen Moment lang stellte er sich vor, wie es hier in den ersten Jahren des Kaer zugegangen war – als das Treppenhaus, wenngleich nur eine Nebenroute, von Gesprächslärm und sogar Gelächter erfüllt gewesen sein musste. In jenen Tagen war es, wie er wusste, außerdem wärmer und trockener gewesen. Die natürlichen heißen Quellen, die diese Region, unterstützt durch Heizsteine in Wänden und Decke, mit Wärme versorgt hatten, sprudelten damals noch.

    Und jetzt? So viele heiße Quellen waren im Laufe der Jahrhunderte versiegt. Ihr Fluss hatte sich allmählich verlangsamt, bis nichts mehr übriggeblieben war. Als die Sensen treppe und viele andere Bereiche des großen Kaers immer weniger benutzt wurden, hatten es die Elementaristen und die anderen mit der Wartung der Lichtquarze und Heizsteine betrauten Adepten mit ihren Pflichten nicht mehr so genau genommen. Warum Zeit und Mühe auf die Auffrischung der Magie in Regionen verwenden, in die sich ohnehin kaum noch jemand wagte, mussten sie gedacht haben. Jetzt wurden sogar die Lichtquarze trüber und flackerten zum Teil. Delain seufzte. Wahrscheinlich sollte ich froh sein, dass es hier überhaupt noch Licht gibt...

    Wieder blieb er stehen und lehnte sich gegen die kühle Steinwand, da er plötzlich müder war, als seine dreiundzwanzig Jahre rechtfertigten. Einen Moment lang sang die Verzweiflung ihr Sirenenlied in den Tiefen seines Verstandes. Es war so leicht, ihrem Ruf nachzugeben, wie es so viele bereits getan hatten.

    Nein. Mit einer gewaltigen Anstrengung schüttelte er die Stimmung ab, die ihn zu überwältigen drohte. Er rieb sich die blasse Haut seines schmalen Gesichts. Nein, sagte er sich wieder, entschlossener diesmal. Verzweiflung ist nichts für mich. Und er erklomm die nächsten Stufen.

    Er hatte sich wiederum verzählt, erkannte Delain sofort, als er die Tür aufstieß und das Treppenhaus verließ. Dies war nicht die Astendar-Ebene, sondern die Vestrial-Ebene. Geistesabwesend wie er war, hatte er eine Treppe zuviel erklommen.

    Es würde nur ein paar Augenblicke dauern, zur Sensentreppe zurückzukehren und die eine Treppe zu seinem Bestimmungsort hinunterzugehen. Doch plötzlich empfand er eine starke Abneigung gegen die Leere des verlassenen Treppenhauses. Einsamkeit war in der Enge des Kaers keine alltägliche Erfahrung – oder sollte zumindest keine sein –, aber das war das Gefühl, welches sich in Delains Seele ausbreitete. Anstatt in das Treppenhaus zurückzukehren, folgte er dem schmalen Gang zum Zentrum des Kaers. Er würde über die Hohe Promenade gehen, beschoss er, und dann die Große Wendel hinab. Dadurch verlängerte sich die Dauer seines Marsches um ein paar Minuten, aber im Augenblick war ihm sein Wunsch nach Begegnung einfach wichtiger: das Gefühl, andere um sich zu haben. Das Gefühl, nicht allein zu sein.

    Staub knirschte unter seinen Füßen, als er durch den Wohnbereich ging und ihm seine langen Beine ebenso wie die schnellen Schritte halfen, die Entfernung rasch zu überbrücken. Türen klafften zu beiden Seiten des Ganges und öffneten sich in finstere Löcher. Das waren Privatquartiere, die einst vom freundlichen Betrieb des Familienlebens erfüllt gewesen und jetzt verlassen waren. Er beschleunigte seinen Schritt noch mehr, da er sich plötzlich danach sehnte, auf den bevölkerten Platz zu kommen. Er öffnete die Tür am Ende des Ganges und hörte den Rost in den Angeln kreischen.

    Das Licht schmerzte fast nach der rötlichen Düsternis des Treppenhauses und des verlassenen Ganges. Hier wurden die Lichtkristalle tadellos instandgehalten. Sie waren – den Passionen sei Dank – frisch aufgeladen und brannten im freundlichen gelben Schein, der der Mittagssonne nachempfunden war. Oder wenigstens dem, was er sich anhand der Beschreibungen in den alten Geschichten und Balladen darunter vorstellte.

    Die Promenade mit ihrer hohen Decke barst vor Leben, hallte von Schritten auf dem Steinboden und dem Gemurmel der Unterhaltungen wider. Delain spürte, wie sich ein Lächeln der Erleichterung auf seinem Gesicht ausbreitete, als er an zwei ins Gespräch vertiefte Frauen vorbeikam, die sich über die Belanglosigkeiten des täglichen Lebens unterhielten. Er holte tief Luft, atmete die vertrauten Gerüche der Leute ein: den Moschus des Schweißes, den Rauch der Herdfeuer, das stechende Aroma von Gewürzen. Viel besser als der trockene trostlose Geruch von Staub. Delain fädelte sich in den Strom der Passanten ein und ließ sich von ihm tragen wie von den Wellen eines Flusses.

    »Wie auf die Nacht der Tag folgt und auf die Arbeit Ruhe, so kommt der Tod, um die Schmerzen der im Herzen Verwundeten zu lindern...«

    Er blieb wie angewurzelt stehen, wie gelähmt von der volltönenden Stimme, die über den Platz hallte. Das matte Läuten einer Eisenglocke untermalte den Vortrag und ließ alle Gespräche in seiner Umgebung verstummen. Er drehte sich um.

    Der Trauerzug war zwanzig Schritte entfernt und zog langsam durch die Menge, die sich vor ihm öffnete. An seiner Spitze ging ein alter Mann, dessen einförmig graue Gewänder ihn als Questor von Dis, der Passion der Ordnung und des Gemeinwesens auswiesen. In seinen runzligen Händen hielt er einen gegabelten Stab in die Höhe, an dem die Eisenglocke hing, die bei jedem Schritt läutete. Einen Schritt hinter ihm und ein wenig seitlich versetzt gingen in ihren schlichten weißen Gewändern die beiden Feuerträger, die jeder eine armdicke Kerze trugen. Die Flammen flackerten in den Luftströmungen.

    Einen weiteren Schritt dahinter ging die Troubadourin, deren Stimme er gehört hatte. Natürlich kannte Delain sie. Sie hieß Marta und war auf eine sehr strenge, ernste Weise anziehend. Ihr glattes schwarzes Haar war aus ihrer hohen Stirn zurückgekämmt, und ihre blauen Augen glitzerten im flackernden Licht der Kerzen. In ihren schlanken Händen hielt sie eine Laute. Ihre Saiten blieben stumm, als sei sie zu dem Schluss gekommen, dass deren klare Töne im Augenblick unangemessen waren.

    Und hinter ihr kam die Bahre, die von vier Trägern gehalten wurde. Die Leiche war bis zum Hals mit dem traditionellen Baumwollschleier bedeckt – der einst weiß gewesen war und nun die Farbe alter Knochen hatte. Ein Familienerbstück? fragte sich Delain. Seit wie vielen Generationen existierte dieser Schleier schon? Beinahe unfreiwillig trat er einen Schritt vor, um die Leiche besser sehen zu können.

    Eine Zwergenfrau, nach den Maßstäben ihrer Rasse mittleren Alters...

    Nein, verbesserte er sich augenblicklich, jünger. Höchstens fünfundvierzig. Es war das eingefallene, von Kummer und Sorgen gezeichnete Gesicht, das ihn getäuscht hatte und die tote Frau drei Jahrzehnte älter aussehen ließ. Sogar im Tod war ihr Gesicht zu einer Miene der... was? Erschöpfung? Verzweiflung? verzogen. Er konnte es nicht sagen.

    Einen respektvollen Schritt hinter der Bahre ging ein männlicher Zwerg, der ganz eindeutig mittleren Alters war. Seine dunklen Augen waren auf die kleine irdene Schüssel gerichtet, die er trug. Eine Schüssel voll Staub, wie Delain wusste, das ewige Symbol für Verlust und Tod. Der Kummer des Zwergs hing ihm an wie ein schwerer Wintermantel. Natürlich der Mann der toten Frau. Und hinter dem Zwerg...

    Niemand. Die Prozession endete mit ihm. Keine Freunde, keine Familienmitglieder, die seinen Schmerz teilten. Warum nicht?

    »Wenn wir uns zur ewigen Ruhe betten, tun wir das in dem Wissen, dass wir dem Kreislauf der Jahreszeiten und von Tag und Nacht folgen.« Martas Stimme ertönte klar und rein – nicht laut, aber dennoch weittragend. »Warum sollen wir uns gegen das Erlöschen des Lichts, gegen den Untergang der Sonne wehren?«

    Delain schoss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf die Stimme der Troubadourin. Ihre Kunstfertigkeit war ausgezeichnet, ihr Ausdruck fast vollkommen. Sie bewältigte die besondere Betonung des alten Zwergendialekts fehlerlos und verwandelte Satzmelodie und Betonung in Musik. Grais wäre zufrieden, dachte er, als er an seinen Onkel und Meister der Hohen Kunst dachte. Jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit von Stimme und Ausdruck auf die Worte, die die junge Frau rezitierte.

    »Herd und Heim, alles soll vergehen, bis nichts mehr bleibt. Woran sollen wir uns dann festhalten? Mühen und Kampf, alles wird zunichte gemacht. Es gibt keinen Sieg und keine Niederlage, wenn sich der Kreislauf fortsetzt. Verwerft alles, wie wir das Bemühen an sich verwerfen.«

    Delain kannte die Worte natürlich. Der Kanon des Kreislaufs, das war es, was Marta vortrug. Oder – jetzt runzelte er die Stirn – wenigstens eine Fassung des Kanons des Kreislaufs. Die Fassung, die er von Grais gelernt hatte, die Fassung, die er sich vor fast einem Jahrzehnt gemerkt hatte, war anders. Auf eine untergründige, aber auch auf eine bedeutsame Art, dachte er. Im Geiste ging er die Unterschiede durch. Nur ein Wort hier, eine knappe Formulierung dort, nicht mehr als eine winzige Veränderung in der Betonung, aber für sein geübtes Ohr war es ein Unterschied wie Tag und Nacht. Der Kanon des Kreislaufs bietet den Hinterbliebenen Trost, sagte er sich, Trost und Beruhigung. Oder zumindest sollte er das tun...

    Und diese Fassung, die Marta vortrug? War es Trost, den die Worte vermittelten, oder war es Schicksalsglaube? Sich abfinden oder Aufgabe – Ablehnung

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1