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Gefährliche Kunst-Stücke: Die Abenteuer der Kids vom Château Chambrette
Gefährliche Kunst-Stücke: Die Abenteuer der Kids vom Château Chambrette
Gefährliche Kunst-Stücke: Die Abenteuer der Kids vom Château Chambrette
eBook449 Seiten5 Stunden

Gefährliche Kunst-Stücke: Die Abenteuer der Kids vom Château Chambrette

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Über dieses E-Book

Anna und Lenny sind vierzehnjährige Zwillinge, die von einem Tag auf den anderen aus ihrer wohlbehüteten, idyllischen Kindheit in den Südvogesen herausgerissen werden und sich in einem Jugendheim in Straßburg wiederfinden.
Obwohl sie aufgrund ihrer Verschiedenheit oft aneinandergeraten, verbindet sie eine große gegenseitige Liebe und Solidarität.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten, die Heimregeln zu akzeptieren, schließen sie bald Freundschaft mit vier sehr unterschiedlichen Mitbewohnern: Zoé, ein taffes Mädchen, das keiner Auseinandersetzung aus dem Wege geht. Becky ist etwas verstrahlt aber treu. Anshana, die schöne Inderin, ist fit mit dem Computer, und schließlich Wedi, der Berberjunge aus dem Hohen Atlas.
In Lennys und Wedis Wohngruppe findet sich auch Clément, ein ausgesprochen unangenehmer Zeitgenosse. Mit fiesen Mitteln setzt er schwächere Mitschüler unter Druck und schreckt auch vor Erpressung nicht zurück.
Die Freunde beschließen, Cléments üblem Treiben ein Ende zu bereiten. Sie ahnen jedoch nicht, in was für einen Sumpf von Verbrechen und Intrigen sie dadurch geraten. Aber sie sind entschlossen, diesen Sumpf trocken zu legen…
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Juni 2022
ISBN9783347640290
Gefährliche Kunst-Stücke: Die Abenteuer der Kids vom Château Chambrette

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    Buchvorschau

    Gefährliche Kunst-Stücke - Marcus Mislin

    Das Château Chambrette

    Anna

    „Wir haben hier klare Regeln. Wer sich daran hält, der kann gut leben. Wer das Gefühl hat, er müsse diese Regeln nicht beachten, der hat es sehr schwer. Ich will euch beiden ein für alle Mal klar machen, dass ich absolut keine Regelverletzungen akzeptiere. Jede Regelverletzung wird mit Strafe geahndet. Ist das klar?"

    Der Heimleiter, Monsieur Schoch, schaut über seine Lesebrille und fixiert mit seinen stahlblauen Augen erst Lenny, dann mich.

    „Alles klar", sage ich.

    „Ja, klar, stimmt auch Lenny zu. „Können wir denn zusammen in einem Zimmer schlafen?

    „Selbstverständlich nicht, sagt der Schoch. „Jungs und Mädchen haben verschiedene Wohngruppen. Ihr seid zusammen in einer Schulklasse, könnt zusammen essen, aber die Wohngruppen sind nach Geschlecht getrennt. Habt ihr ein Problem damit?

    Die Frage scheint von ihm bereits mit nein beantwortet zu sein.

    „Ja, da hab ich allerdings ein Problem", widerspricht Lenny.

    Mensch Lenny, was willst du mit diesem Arsch diskutieren.

    „Unsere Mutter ist im Krankenhaus im Koma, unser Vater ist in Kanada nicht erreichbar. Wir sind das Einzige, was wir noch haben: Ich habe Anna und sie hat mich. Ich bestehe darauf, dass wir zusammen in einer Wohngruppe sind."

    Monsieur Schoch nimmt betont langsam die Lesebrille von seiner pickeligen Nase, faltet sie sorgfältig zusammen, legt sie vor sich auf den Schreibtisch. Er schaut Lenny lange an, dann sagt er leise:

    „Ist das der Weg, den du gehen willst? Widersprechen? Auflehnen? Regeln nicht akzeptieren? Ist das, was du willst?"

    „Nein, das ist nicht, was ich will. Ich will mit meiner Schwester zusammen bleiben. Das ist, was ich will."

    „Aber das, was du willst, widerspricht den Regeln des Heims und ist deshalb nicht möglich, basta, Diskussion beendet."

    „Aber…."

    „Dis-kuss-ion be-endet!!" Er schlägt bei jeder Silbe mit der Handfläche auf den Schreibtisch. Wir sind es nicht gewohnt, dass man uns anschreit, wenn wir ein berechtigtes Anliegen haben. Wir kommen zwar aus dem Wald, aber die Umgangsformen sind eindeutig die besseren im Wald, als hier in Strasbourg. Monsieur Schoch setzt sich wieder. Er kramt mit seinen Wurstfingern in dem Ordner herum, der vor ihm aufgeschlagen liegt.

    „Anna, du bist in der Wohngruppe 3. Léonard, du bist in der Wohngruppe 5. Ihr wartet im Vorzimmer, bis der jeweilige Wohngruppenchef euch abholt."

    „Wohngruppenchefin", murmle ich leise vor mich hin, aber gerade so laut, dass der Alte es hören kann.

    „Wie war das?", schnappt Schoch.

    „Ich hab nur gesagt: Wohngruppenchefin. Ich warte auf die Wohngruppenchefin und nicht auf den Wohngruppenchef."

    „Du willst mich korrigieren?"

    „Nein, ich will Sie nicht korrigieren."

    „Dann ist ja alles gut. Ihr könnt jetzt draußen warten. Der Wohngruppenchef und die Wohngruppenchef-in, er zieht das Wort sarkastisch in die Länge, „werden euch alle Informationen geben. Und die Heimregeln gibt euch im Vorzimmer Mademoiselle Chariot. Er macht eine brüske, ungelenke Handbewegung, was offenbar heißen sollte, dass die Unterredung beendet ist.

    Wir trotten aus dem Büro und setzen uns ins Vorzimmer. Die Stühle sind extrem unbequem und ich hoffe, dass die Wohngruppenchefin bald aufschlägt. Wir warten still. Ich hab einen dicken Knoten im Hals.

    „Seid ihr Léonard und Anna?" hören wir plötzlich eine freundliche Stimme hinter dem enormen Monitor fragen.

    „Ja", sage ich, steh vom Stuhl auf und schau neugierig, wer hinter dem Bildschirm versteckt ist. Ein Kopf mit kurzen, strubbeligen, weißen Haaren taucht auf, und ein freundliches runzliges Gesicht lacht uns an. Das war das erste Lächeln, das wir sehen, seit wir vor vier Stunden von den zwei Sozial-Tanten wie Findelkinder im Heim abgegeben worden sind. Zuerst mussten wir in einem zugigen Flur drei Stunden warten. Bis schließlich ein Betreuer, der schon viermal an uns vorbeigelatscht war, gefragt hatte, auf was wir denn warten. Er verschwand wieder, und eine halbe Stunde später wurden wir endlich vom Schoch in sein Büro geholt.

    „Ich bin Mademoiselle Chariot. Schaut, hier hab ich die Hausordnung, die ihr sehr sorgfältig lesen sollt. Monsieur Schoch versteht keinen Spaß…"

    „Ja, das haben wir auch schon bemerkt", unterbrach ich sie.

    „Kann einem leider kaum entgehen, fuhr sie fort. „Aber wenn ihr keinen Mist baut, habt ihr mit ihm auch kaum etwas zu tun. Ihr seid Zwillinge? Wir haben sehr selten Zwillinge hier. Also ihr seid etwas Besonderes, vielleicht hilft euch das. Habt ihr denn heute schon gegessen?

    „Nein, wir hatten nur eine Tasse Schokodrink bevor uns das Jugendamt hierher verschleppt hat."

    „Das geht ja gar nicht. Kommt, ich zeig euch die Kantine, da werden wir in der Küche sicher etwas für euch finden", sagt sie und klettert umständlich hinter ihrer Festung aus Akten, Bildschirm und Thermoskannen hervor.

    „Aber wir sollten hier auf die Wohngruppenchefs warten", sagt Lenny.

    „Die schicke ich euch dann in die Cantine. Kommt mit." Sie hält uns die Tür auf und wir folgen ihr durch einen Flur, dessen Wände mit Landschaften, Weinbergen und Ansichten von Strasbourg bemalt sind.

    Die Cantine ist in einem modernen Anbau des alten Châteaus. Große Fenster zum Garten hinaus lassen viel Licht herein und überall aufgestellte grüne Inseln mit Pflanzen, und einige auch mit Kräutern, geben der Cantine, ein wohltuendes Flair. Mademoiselle Chariot geht sofort in die Küche und spricht mit einem Koch, zeigt auf uns, worauf der Koch nickt. Am Hungertod scheinen wir noch mal knapp vorbeigeschrammt zu sein.

    „Aziz wird euch was zubereiten, sagt sie. „Setzt euch einfach hier an einen Tisch – wird nicht so lange dauern. Und die Wohngruppenchefs schick ich euch hierher. Wenn ihr Fragen habt, dann kommt zu mir. Ja? Sie streicht uns beiden liebevoll über den Kopf und marschiert mit klickenden Absätzen wieder zurück hinter ihren Bildschirm.

    „Das scheint doch eine ganz nette Oma zu sein", breche ich nach längerer Zeit das Schweigen.

    „Ja, das gibt einem ein bisschen Hoffnung. Der Schoch ist doch ein totales Arschloch."

    „Mademoiselle Chariot hat gesagt, wir haben nicht viel zu tun mit ihm. Da kann man nur hoffen, dass es noch ein paar nette Lehrer gibt."

    „Eh voilàà la carte für die zwei Personen an Tisch drei. Aziz schiebt jedem von uns einen Teller randvoll mit Couscous und einem großen Stück Lammfleisch vor die Nase. „Ich bin Aziz, der Küchenchef. Meine Spezialität ist marokkanische Küche, ich hoffe ihr mögt das.

    „Oh ja! Super!", sagt Lenny.

    „Das riecht ja herrlich! Ich sterbe vor Hunger!, freu ich mich und hau gleich rein. „Mmmmm…. ganz wunderbar, schmeckt phantastisch.

    „Das ist das beste Couscous, das ich je gegessen habe", schmatzt Lenny mit vollem Mund.

    „Danke, freut mich, dass es euch schmeckt. Wenn ihr noch mehr wollt, einfach rufen. Ich bin dann wieder in der Küche."

    Während wir essen, bessert sich meine Laune und der Knoten im Hals löst sich langsam auf.

    Lange müssen wir nicht auf die Wohngruppenchefs warten.

    „Seid ihr die Neuen?" ruft ein Mädchen, das mindestens ein Jahr älter ist als ich, von der Tür quer durch die ganze Kantine. Ich schaue auf und nicke nur.

    „Ja, nein, oder leck mich am Arsch. Aber einfach nur Kopfnicken is nich. Klar?"

    Sie trägt enge Jeans, ein Holzfällerhemd über einem ausgewaschenen schwarzen T-shirt, kurze dunkelblonde Haare, und unter den hochgekrempelten Hemdärmeln sind flächendeckende Tätowierungen zu sehen.

    „Das wird ja bestimmt sehr unterhaltsam", flüstere ich Lenny zu.

    „Vielleicht hast du doch einen Wohngruppenchef und keine Chefin…" grinst Lenny. Aber als er seinen Wohngruppenchef sieht, der gleich hinter meinem Problem lässig hereingelatscht kommt, vergeht ihm das Grinsen zügig. Ein fast ein Meter neunzig großer Junge, der offensichtlich viel Zeit in das Erweitern seiner Muskelmasse investiert und wie der junge Arnold Schwarzenegger aussieht. Da hilft Lenny auch sein brauner Judogürtel nicht. Der Typ ist sicher doppelt so schwer wie mein Frère.

    Er schaut lange etwas verloren auf das Clipboard, das er mit hat, schaut auf und fragte mit überraschend leiser Stimme.

    „Bist du Léonard?"

    „Bin ich."

    „Dann kommst du mit mir."

    „Und du kommst mit mir", sagt die Chefin zu mir.

    „Wir sehen uns beim Abendessen", sagt Lenny und er umarmt mich, als ob das Abendessen erst in drei Jahren stattfinden würde.

    „Seid ihr ein Paar, oder was?", fragt die Chefin und grinst schief.

    „Nein, wir sind Geschwister", sage ich bestimmt und schau ihr gerade in die Augen.

    „Zwillinge?" fragt der Muskelprotz.

    „Ja, antwortet Lenny. „Zwillinge.

    „Du weißt, was man Zwillingen nachsagt?", sage ich zur Chefin.

    „Nein, weiß ich nicht, aber du wirst es mir gleich sagen."

    „Zwillinge stehen für einander ein. Sie schützen einander. Sie sind nie allein."

    „Soll das eine Drohung sein?"

    „Nimm es als Information. Gehen wir, bin schon auf mein neues Zuhause gespannt."

    „Gehen wir."

    Die Chefin geht voraus und ich folge ihr mit einem leisen Lächeln. „Bis zum Abendessen, Lenny!, ruf ich ihm über die Schulter zu. „Halt die Ohren steif, Sis.

    „Deine Schwester hat es aber faustdick hinter den Ohren", höre ich noch Schwarzenegger sagen.

    „Hat euch der Schoch die Hausordnung gegeben?" fragt die Wohngruppenchefin als sie auf die Treppe einbiegt.

    „Ja, hat er, aber gelesen hab ich sie noch nicht."

    „Lies sie sorgfältig durch. Lern sie auswendig. Kannst dir viel Ärger ersparen."

    „Wie heißt du eigentlich?"

    „Zoé."

    „Ich heiße Anna."

    „Weiß ich. Steht ja auf meiner Kladde."

    Auch im ersten Stock sind alle Wände mit lokalen Ansichten bemalt. Irgendeiner konnte da nicht genug kriegen von Vogesen, Weinbergen, kitschigen Fachwerkhäuschen und natürlich immer wieder gern gesehen: das Straßburger Münster… nun ja, immerhin besser als dieser senfgelbe Dünnpfiff-Anstrich, mit dem sie alle Flure des Krankenhauses, in dem Maman liegt, bepinselt haben.

    „So, wir sind da, sagt Zoé und öffnet die Tür, auf der neben drei Namen auch eine große 5 in Bronze prangt. „Herein in die gute Stube.

    „Sieht ja ganz nett aus bei euch", sag ich und ich bin tatsächlich angenehm überrascht: Ein sehr großes Zimmer mit einer breiten Fensterfront zum Park. Eine Sitzecke mit Sofalandschaft und Sessel, alles ein bisschen abgerockt, aber gemütlich. An der Wand ein Bücherregal, das gut mit Büchern befüllt ist, oben drauf ein großer Flat-Screen. Daneben ein in die Jahre gekommener Apple-Lautsprecher. Die eine Wand über dem Sofa ist mit Fotos vollgekleistert. Auf den ersten Blick, sieht es aus, wie die besten Momente aus dem Anstaltsleben. Große Poster von der Pont du Gard, dem Mont Blanc und von irgendeinem Strand mit Palmen – Sehnsuchtsorte.

    „Das ist der Gemeinschaftsraum. Hier halten wir Ordnung. Ich hab keine Ahnung aus welchem Loch du herausgekrochen bist, aber hier halten wir Ordnung. Kapiert?"

    „Kapiert, Chef", sage ich und muss mich enorm zusammenreißen, um der blöden Kuh nicht einfach eine reinzuhauen.

    „Hier ist eine Kochplatte, da kannst du Tee oder Kaffee kochen oder von mir aus auch eine Wurst aufwärmen. Da ist das Klo… sie öffnet die Tür direkt neben dem Eingang und ich sehe in ein blitzblankes Badezimmer mit Duschkabine. „Das halten wir auch sauber, klar?

    „Klar, seh ich doch, dass das sauber ist."

    „Dann ist ja gut, wenn du das siehst."

    „Musst du eigentlich jeden Aussagesatz von mir kommentieren?" frage ich genervt.

    „Hör zu, Kleine, du bist ein Neuzugang und Neuzugänge sind hier auf der Hierarchietreppe gaaanz weit unten. Okay? Respekt musst du dir erst mal verdienen… so und hier ist dein Zimmer."

    Links und rechts vom Eingang geht je ein schmaler Flur ab. Dort befinden sich jeweils zwei Zimmer. Zoé öffnet die Tür zum hinteren Zimmer und ich ziehe meinen Rollkoffer hinter mir her in mein neues Zuhause.

    „Wir haben Full House. Okay? Wir sind zu viert. Und wir müssen uns vertragen. Also keine Extrapassagen. Okay?"

    „Klar, du, verstanden. An mir soll‘s nicht liegen", sage ich und versuche gar nicht erst den Sarkasmus zu verbergen.

    „Der Rest der Besatzung sollte bald aufschlagen, die sind noch auf dem Sportplatz", sagt sie und knallt die Tür beim Hinausgehen.

    Ich schau mich um. Sieht doch ganz gut aus hier. Hab es mir viel schlimmer vorgestellt. Bett beim Fenster. Ein Schreibtisch. Ein großer Schrank. Und ein hässlicher aber unsäglich bequem aussehender Sessel, den ich sofort probesitze und nicht enttäuscht werde. Mein Blick bleibt auf den Kronen der Kastanienbäume kleben, die ich durch das Fenster im Park sehe. Wie eine heiße Hand drückt sich das Heimweh unter meine Haut und treibt mir die Tränen in die Augen. Ich vermisse Maman. Ich vermisse ihre Stimme. Ich vermisse ihre weiche Hand an meiner nassen Wange. Ich vermisse ihre tröstenden Lippen auf meiner Stirn. Ich vermisse ihr wissend-ironisches Lächeln, wenn ich sie anschwindle. Ich vermisse, dass sie einfach nur da ist. Aber sie ist nicht mehr da und ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann, ohne sie. Ich putze mit dem Ärmel meinen Rotz und meine Tränen ab, steh aus dem gefährlich bequemen Sessel wieder auf und packe meine Klamotten in den Schrank. Lege meinen Laptop auf den Schreibtisch und stelle befriedigt fest, dass es an jeder Ecke hier einen Doppelstecker gibt. Kaum bin ich fertig mit ein-und-aus- und-umräumen, höre ich Stimmen vom Gemeinschaftsraum. Ich denke, meine Mitbewohnerinnen sind eingetroffen. Bin ja mal gespannt, wie die denn drauf sind. Ich werfe einen Blick in den Spiegel, checke ob ich noch verheult aussehe – nö, geht so. Also raus hier und in die Höhle des Löwen.

    „Salut, ich bin Anna, der Neuzugang", sage ich, lässig an die Mauerecke gelehnt. Zwei Mädchen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, schauen mich neugierig an. Die Eine, in Kniestrümpfen, viel zu langem Schottenrock, Bluse mit besticktem Kragen und einem dünnen Strickjäckchen. Das Mädchen sieht total verklostert aus. Sie hat strähniges, halblanges, strohblondes Haar, das nach einem Waschgang schreit. Die Andere, dunkelhäutig, pechschwarze, lange Haare, die sie in einen langen Zopf geflochten hat. Jeans, Sneakers und ein grünes Lacoste Poloshirt.

    „Ich bin Anshana sagt sie, kommt auf mich zu und begrüßt mich mit einem festen Händedruck. „Willkommen in unserer WG."

    Ich gebe ihr die Hand.

    „Danke, sage ich, „Anshana, das ist ein sehr schöner Name.

    „Ist Indisch und bedeutet die tapfere Kriegerin."

    „Das ist ja cool! Und? Bist du eine Kriegerin?"

    „Kaum, höchstens mal als Avatar in Computerspielen lacht sie. „Das ist Rebecca, sie zeigt auf das Mauerblümchen.

    Rebecca sitzt auf dem Sofa, hält ein Buch auf ihrem Schoß und mustert mich die längste Zeit mit konzentriertem Blick, bis sich ihre Züge plötzlich entspannen und das herzlichste Lächeln mir entgegenstrahlt. Da sie keine Anstalten macht zu mir zu kommen, geh ich halt zu ihr.

    „Hallo Rebecca", sage ich und halte ihr meine Hand hin. Sie schaut meine Hand an, als ob sie noch nie so etwas gesehen hätte, nimmt sie schließlich ganz vorsichtig und hält sie ganz lang fest. Sie schaut mir tief in die Augen.

    „Du bist eine Gute", sagt sie. Hält meine Hand immer noch fest. Ich weiß jetzt nicht genau, wie ich darauf reagieren soll, also lass ich ihr vorläufig die Hand, solange sie nichts daran kaputt macht.

    „Ich weiß, dass wir gut miteinander zurechtkommen werden", sagt sie. Hält die Hand immer noch.

    „Das hoff ich doch, Rebecca", sage ich.

    „Becky, sagt sie fast streng. „Meine Freunde nennen mich Becky. Du hast eine schöne Hand.

    Hmm darüber habe ich noch nie nachgedacht. Hält die Hand immer noch.

    „Danke, sage ich, „sehr nett von dir, das zu sagen.

    Ich bemerke, dass Anshana der Szene amüsiert folgt. Scheinbar ist Becky nicht das erste Mal einigermaßen verstrahlt.

    „Setz dich, woher kommst du?" wieder das wundersame Lächeln. Jetzt lässt sie auch endlich meine Hand los.

    Anshana setzt sich auch zu uns.

    „Ich bin aus dem Sundgau."

    „Wo ist das?"

    „Das ist im Süden. Haut-Rhin. In der Nähe der Schweizergrenze. An der Südspitze der Vogesen."

    „Ich war noch nie dort. Und was ist dir passiert, dass du hier zu den verlorenen Kindern gekommen bist?"

    „Meine Maman hatte einen Autounfall und liegt im Koma. Mein Vater ist in Kanada nicht erreichbar, aber ich hoffe, dass er bald wieder gefunden wird und wir hoffentlich nicht allzu lange hier sind."

    „Wir?"

    „Mein Zwillingsbruder und ich."

    „Cool, ihr seid im Zweierpack!" schaltet sich jetzt auch Anshana ein.

    „Yep, sage ich und wende mich an sie. „Wir sind unzertrennlich.

    „Dann musst du uns bald bekanntmachen, nicht wahr Becky?"

    „Dein Bruder ist auch ein Guter", sagt sie mit der Überzeugung, als ob sie ihn seit Jahren kennen würde.

    „Ja, das ist er…." sage ich verwirrt.

    „Sie kann hellsehen", erklärt Anshana.

    Ja dann. Das erklärt ja alles.

    „Ach so, ja … aber sagt mal… Zoé!… ich hab die kurz getroffen… die ist ziemlich schräg drauf, hab ich das Gefühl…"

    „Ach die macht immer so‘n Zirkus, wenn eine Neue kommt. Sie ist total in Ordnung, aber du musst Geduld mit ihr haben. Wird schon", sagt Anshana.

    „Sie kompensiert ihre Unsicherheit", sagt Becky schaut kurz auf und vergräbt sich gleich wieder in ihrem Buch.

    „Ah, okay. Ich hoffe das wird sich bald legen. Ich hab keinen Bock hier Dauerstress zu haben."

    „Wirst du nicht haben. Sie ist ein bisschen verdreht, aber eine treue Seele, sagt Anshana. „Hast du einen Rechner?

    „Ja, hab ich."

    „Hier ist der Code fürs Wifi."

    Sie zeigt auf einen eingeschweißten Zettel, der mit Gaffer-Tape für alle Ewigkeit neben dem Fernseher an die Wand gepappt wurde.

    „Wir schließen hier die einzelnen Zimmer nicht ab. Die letzte, die die Wohnung verlässt, schließt einfach die Eingangstür. Ist das okay für dich?"

    „Klar."

    „Der Schoch macht, wenn er schlecht drauf ist, unter anderem Zimmerdurchsuchungen. Da dreht er dir alles in deiner Bude auf links – kann jederzeit passieren. Also: keine Drogen, Alk, Waffen oder Porno."

    „Damit kann ich leben."

    „Cool, dann auf ein gutes Zusammenwohnen."

    Lenny

    Auf dem Weg zur Kantine verlaufe ich mich zweimal, aber schlussendlich finde ich den richtigen Weg. Stelle mich mit einem Tablett in die Schlange vor der Ausgabetheke und schau mich um, ob Anna schon da ist.

    „Hey, was suchst du denn?", höre ich sie hinter mir sagen. Sie stupst mich grob mit dem Messergriff zwischen die Rippen.

    „Was soll ich denn suchen? Dich such ich", sag ich.

    „Da bin ich."

    „Ja, da bist du."

    Wir finden ein Tischende, an dem wir uns einigermaßen ungestört unterhalten können.

    „Hast du schon einige Kids kennengelernt?" fragt sie mich.

    „Nein, nur meinen Wohngruppenchef."

    „Schwarzenegger? Den hab ich doch auch schon kennengelernt."

    „Nein, der ist nicht in meiner Wohngruppe. Der ist nur eingesprungen, für meinen Chef. Ich bin bei offener Tür voll eingepennt, dann hat ein seltsamer Heini, mit einer Nazifrisur, einer teuren Uhr und schicken Klamotten mich geweckt. Keine Ahnung, wo ich die Type einordnen soll. Aber die Bleibe ist doch ganz okay, oder? Ich hab gedacht, wir müssen mit zwanzig Leuten in einem Zimmer pennen."

    Anna lacht.

    „Ich kenn schon toutes les filles in meinem Zimmer. Zoé, der Capo, macht mir allerdings Sorgen. Sie scheint bedingungslos auf Krawall gebürstet. Mal schauen, wann es da das erste Mal kracht."

    „Wie viele sind in deinem Kabuff?"

    „Wir sind zu viert. Wie die zwei andern ticken, weiß ich noch nicht. Die eine ist sehr sympa und die andere ist ein wenig abgespaced. Aber ich sehe uns nicht lange hierbleiben. Das halte ich nicht aus. Ich will wieder nach Hause."

    „Der General hat uns versprochen, herauszufinden wo Papa abgeblieben ist. Er schien allerdings etwas besorgt, als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe."

    „Besorgt? sagt Anna. „Das hast du mir gar nicht gesagt.

    „Ich wollte dich nicht beunruhigen, bevor wir sichere Informationen haben."

    „Und über was war er besorgt?"

    „Die Firma in Kanada konnte Papa auch nicht erreichen. Jean-Luc sagte mir, dass er das für ungewöhnlich halte, auch wenn die Mine, wo er gerade arbeitet so weit in der Wildnis liegt. Aber er informiert uns, sobald er mehr weiß. Im Übrigen hat er auch nicht aufgegeben, das temporäre Pflegerecht für uns zu bekommen."

    „Wär ja echt cool, wenn wir bei den Hestins wohnen könnten."

    „Ich würde lieber zu Hause wohnen."

    „Vielleicht könnten wir ja zu Hause schlafen und tagsüber einfach bei Hestins abhängen."

    „Ja… und hoffen, dass Maman bald aus dem Koma erwacht."

    „Ja…"

    Ich sehe Annas traurige Augen.

    „Sorry, wollte ich nicht…"

    „Ist ok, Lenny… wir müssen jetzt einfach sehr stark sein. Und zusammenhalten."

    Sie nimmt meine Hand und drückt ihre Fingernägel in meinen Handrücken.

    „Das haben wir doch immer."

    „Ja, außer, dass du beim Poulet immer die Filets klaust, bevor es auf den Tisch kommt und du meinen Pullover anziehst, wenn du deinen nicht findest, und dass du meine Taschenlampe brauchst, weil deine Akkus immer leer sind, und …"

    „Ist ja ok, unterbreche ich ihren Redestrom. „Wir halten zusammen.

    „Wir schaffen das schon. Das sind wir Maman schuldig."

    „Du musst jetzt schauen, dass du mit deiner Wohngruppenchefin klarkommst?", versuche ich das Thema zu wechseln, bevor ich auch noch anfange zu heulen.

    „Schwierig. Das ist eine echt harte Nummer. Egal, was du sagst, sie dreht es so, als ob du ihre Autorität in Frage stellst. Früher oder später wird es knallen zwischen uns."

    „Willst du dich mit ihr prügeln? Die ist sicher ein Jahr älter als du. Und schwächlich sieht sie auch nicht gerade aus."

    „Nö, die Alte ist bretthart. Ich denke, ich krieg voll auf die Nuss von ihr. Aber auf der anderen Seite ist es wahrscheinlich der einzige Weg, von ihr in Ruhe gelassen zu werden."

    „Du willst dich abledern lassen, damit sie dich in Ruhe lässt? Spinnst du?"

    „Hast du eine bessere Idee? Ich glaube nicht, dass meine guten Mathenoten sie beeindrucken werden."

    „Ich kann helfen, dich rauszuhauen."

    „Nein, das wird eine Sache zwischen uns Mädchen werden. Die tickt nun mal so. Wär ja nicht das erste Mal, dass ich mich prügle."

    Da muss ich aber laut lachen. Wenn sich zu Hause auf dem Schulhof Mädchen prügelten, dann war Anna hundertprozentig mit von der Partie. Keine Prügelei ohne meine Schwester. Ich hatte immer wieder versucht, sie davon zu überzeugen mit mir und Noah zum Judo zu kommen. Ihr Chancen diese Prügeleien zu gewinnen hätten sich erheblich verbessert. Aber sie meint, dass ihr der Freistil besser zusagt als streng regulierte Bewegungsabläufe, die über Jahre hinweg trainiert werden müssten.

    Ein Mädchen mit wahnsinnig langen Beinen und beunruhigend altmodischen Klamotten kommt an unseren Tisch. Ihre strähnigen, blonden Haare hat sie hinter die Ohren geklemmt. Eigentlich hat sie ein hübsches Gesicht, denke ich, aber die Frisur ist echt scheiße.

    „Hey, das ist dein Bruder!" sagt sie und zeigt mit dem Besteck auf mich.

    „Ja, sagt Anna, „das ist Lenny. Lenny, das ist Rebecca.

    „Salut Rebecca. Setz dich doch", sag ich.

    „Becky." Sagt sie, setzt sich und starrt mich mit ihren großen wasserblauen Augen einfach an. Das verunsichert mich ganz erheblich. Ich schau hilfesuchend zu Anna.

    „Du siehst überhaupt nicht aus, wie Anna", sagt sie schließlich in einem Ton, als ob sie gerade die Relativitätstheorie begriffen hätte.

    „Wir sind ja auch Zwei-Eiige Zwillinge", sag ich.

    „Und da sieht man nicht genau gleich aus?"

    „Nein, sonst hätten wir ja auch das gleiche Geschlecht."

    „Das ist natürlich wahr, sinniert sie weiter. „Aber wer bestimmt das? Das ist doch die gewichtige Frage…, und sie presst ihre Lippen zusammen, damit sie sich wahrscheinlich besser konzentrieren kann.

    „Das bestimmt keiner, Becky", sagt Anna „Das ist einfach ein Zufall. In der Gebärmutter befinden sich zwei Eier und nicht nur eins, wie das normalerweise jeden Monat der Fall ist. Und dann werden beide Eier befruchtet und voilà, du hast Zwillinge."

    „Hmmm… das ist höchst interessant, wenn man darüber nachdenkt… habt ihr denn auch eine höhere Sensibilität, was euer transzerebrales Kommunizieren betrifft?"

    Sie schaut mir wieder tief in die Augen.

    „Ich habe absolut keine Ahnung, wovon du redest."

    „Könnt ihr gegenseitig eure Gedanken lesen?"

    „Äh, nein…. Warum sollten wir das können?"

    „Weil ihr in demselben Lebenswasser entstanden seid! Ihre Begeisterung nimmt Fahrt auf. „Ihr habt neun Monate in einer magischen Gemeinschaft zusammen existiert und seid gewachsen in diesem Urmeer, zu dem Wesen, das ihr jetzt seid.

    „Den Wesen…" korrigiere ich sie.

    „Nein! Ihr seid EIN Wesen! In ZWEI! Das ist ein unglaubliches Konzept! Das geht weit über eine normale Zweisamkeit hinaus!"

    „Hmmm…. darüber hab ich noch nie nachgedacht", sage ich.

    „Wir können gern mal zusammen darüber nachdenken, sagt sie um dann unvermittelt fortzufahren: „Wie haben euch die Nudeln geschmeckt?

    Aber ohne eine Antwort abzuwarten, steht sie abrupt auf und geht grußlos weg. Nach einigen Schritten fällt ihr ein, dass sie sich nicht verabschiedet hat, dreht sie sich nochmal um, sagt „bis bald", und geht.

    Das Haus am Bach

    Lenny

    Wenn mir vor zwei Wochen einer gesagt hätte, dass wir heute in einem Jugendheim in Strasbourg wohnen würden, hätte ich ihn für geisteskrank erklärt.

    Wir lebten in einem alten Bauernhaus, im oberen Elsass, nahe der Grenze zur Schweiz und Deutschland. Das Haus liegt ziemlich abgelegen in den Vogesen, am Ende eines engen Tales, wo kaum einer vorbeikommt, direkt am Bach. Um in die Schule zu kommen, waren wir mit dem Fahrrad mindestens zwanzig Minuten unterwegs. Die Fahrt zur Schule hin, Talauswärts, gestaltete sich meist als ein wildes Radrennen zwischen mir und Anna, das ich immer gewonnen habe.

    „Du hast einfach das bessere Vélo", sagte Anna, wenn sie im Wettbewerbsmodus war.

    „Anna erzähl keinen Quatsch, du hast genau das gleiche Rad", widersprach ich dann.

    „Du hast dir doch diesen coolen Shimano XT Wechsel besorgt. Das macht einen riesigen Unterschied. Ich fahr immer noch mit Alivio."

    „Wie oft wechselst du den Gang, wenn wir das Tal runterbrettern?"

    „Nie, ich fahr im größten…"

    „Siehste? Ich auch. Und jetzt erklär mir mal, wie da der Wechsel einen Einfluss auf das Tempo haben kann."

    „Ist ja gut, bist halt schneller unten. Aber letzten Winter war ich mal um einiges schneller", fiel ihr ein.

    „Stimmt, weil ich mit meinen abgefahrenen Reifen im Schnee dauernd stecken geblieben bin."

    „Aha, bei dir ist natürlich das Material schuld", lachte sie.

    Unsere Mutter unterrichtete im selben Schulhaus die erste und zweite Klasse und war meist schon zu Hause, wenn wir nach dem Unterricht verschwitzt und völlig fertig angefahren kamen. An schulfreien Nachmittagen trafen wir uns meist mit Noah und Louise, um im nahen Bunker den zweiten Weltkrieg nochmal zu einem siegreichen Ende zu bringen. Wir packten ein paar Äpfel und etwas zu trinken in den Rucksack und fuhren mit dem Mountainbike über die Crête - wie man hier einen Bergkamm nennt - ins Rheintal zu der Bunkeranlage, in der sich unser Hauptquartier befand. Noah wohnt im nächsten Hof, nicht viel weiter oben im Tal. Sein Vater, Jean-Luc, ist ein pensionierter Luftwaffengeneral und nicht nur aus diesem Grund, wurde Noah einstimmig das Oberkommando über die kleine Kampfeinheit übertragen. Er ist ein Jahr älter als wir und weiß sehr viel über die blutigen Gefechte während des ersten und zweiten Weltkriegs, die hier im Grenzgebiet stattgefunden hatten. Manchmal klaute er die Dienstpistole seines Vaters, eine Beretta 92, und brachte sie mit in den Bunker. Wir übten dann Zieltechniken, und unter seiner Anleitung mussten wir die Waffe zerlegen und wieder zusammensetzen. Einmal kam er mit vier Schachteln Munition an und wir schossen in etwa 40 Meter Entfernung auf Zielscheiben, die wir an verschiedene Bäume genagelt haben. Es stellte sich heraus, dass ich fraglos der beste Schütze bin. Hab fast nur ins Schwarze getroffen. Noah meinte, ich sei ein Naturtalent.

    Was Noah allerdings nicht wusste: dass man sich einen Gehörschutz in die Ohren stopfen sollte, bevor man mit Kampfmunition in der Gegend rumballert. Wir konnten zwei Stunden danach absolut nichts mehr hören, außer einem pfeifenden Ton, der wie ein Messer im Hirn steckte. Louise behauptete, dass sie beim Schießen spüren konnte, wie ihr Gehirn von den Schallwellen durchgeschüttelt wurde. Ich nützte diese Gelegenheit um Louise auf den Mund zu küssen, was ich schon lange tun wollte. Sie sagte, das Gehirn habe sich durch den Kuss wieder beruhigt, worauf ich sicherheitshalber sie gleich nochmal küsste. Auch für diesen Kuss bedankte sie sich. Ich nahm mir vor, sie in Zukunft regelmäßig zu küssen. Nach der schmerzhaften Erfahrung mit schwerem Kriegsgerät, haben wir nur noch mit dem Luftgewehr geschossen. Die Angriffe der Wehrmacht konnten wir selbstverständlich auch mit dem Luftgewehr abwehren. Ganze Divisionen ergaben sich nach kurzer Zeit und konnten problemlos gefangen genommen werden. Nach solchen Schlachten kamen wir oft sehr spät und völlig verdreckt nach Hause. Maman stand dann meistens schon mit dem Gartenschlauch vor dem Haus, und wir mussten uns noch vor der Haustür ausziehen und wurden brutalst mit eiskaltem Wasser abgespritzt.

    „Wie kann man an einem einzigen Nachmittag nur so schmutzig werden?", fragte sie dann und stellte uns nach der Kaltwasserfolter unter die warme Dusche.

    Louise hatte immer ein schiefes Lächeln in ihrem Gesicht, was ihr bei den Lehrern viel Ärger einbrachte.

    Sie verbrachte sehr viel Zeit mit mir und Anna. Kam nach der Schule mit uns nach Hause, machte Hausaufgaben und blieb oft bis nach dem Abendessen, bevor sie wieder nach Hause fuhr. Sie war das Nesthäkchen, hatte drei ältere Brüder, die lieber mit ihren Freunden abhingen, und sinnfrei mit aufgebohrten Mopeds die ganze Gegend terrorisierten, als auf die blöde kleine Schwester aufzupassen. So wurde sie bei uns fast ein Familienmitglied. Das war voll okay. Ich mochte nicht nur ihren schiefen Mund, ich mochte wie sie war – ein echter Kumpel. Leider ist die Familie vor einem halben Jahr nach Südfrankreich gezogen. Weil ihre Mutter unter schwerem Rheuma leidet und das wärmere Klima besser für sie ist.

    Unser Vater ist hauptsächlich abwesend. Er arbeitet als Bergbauingenieur in aller Welt und kommt nur einmal im Jahr für zwei Monate nach Hause. Zehn Monate lang arbeitet er in China, Südamerika oder Australien. Nach dem letzten Urlaub fuhr er nach Kanada in die Northwest Territories, um für eine Wolfram-Mine zu arbeiten. Seitdem haben wir ihn nicht mehr gesehen. Wenn möglich haben wir einmal die Woche geskyped. Aber immer wieder hielt er sich in so abgelegenen Gegenden auf, wo es keine Möglichkeit gab mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, weder über Telefon und schon gar nicht über das Internet.

    Papa hat immer unglaublich viele Pläne für die zwei Monate, in denen er zu Hause ist: Tagelange Wanderungen in den Alpen von Hütte zu Hütte, bis wir uns auf die Zunge treten. Reisen nach Südfrankreich, wo er uns Avignon, die Wildpferde

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