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Swinging Village
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eBook251 Seiten3 Stunden

Swinging Village

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Über dieses E-Book

Wie viel Rückzug brauchen wir, um der Reizüberflutung zu entgehen? Ändern wir uns selbst im Kern, wenn wir die Umstände ändern? Wo finden wir den ganz individuellen Sinn des Lebens, wenn an jeder Ecke Ablenkung und Verführung lauern? Erik Fink ist auf der Suche nach Lebenssinn und zieht sich in ein Haus auf dem Land zurück. Er saniert es, lebt sich ein und merkt sehr schnell, dass man alte Gewohnheiten nur sehr schwer ablegt. Frauen, 20er-Jahre-Partys im »Swinging Village« und die Fas¬zi¬na¬ti¬on der »Lost Generation« sind Verlockungen, denen er sich nicht entziehen kann. Ein Roman über die Suche nach dem Glück in einer Welt, die alles bietet, um die innere Leere zu füllen.
SpracheDeutsch
Herausgeberadakia Verlag
Erscheinungsdatum9. Okt. 2019
ISBN9783941935464
Swinging Village

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    Buchvorschau

    Swinging Village - Mark Jischinski

    978-3-941935-46-4

    »Da lag sie. Mausetot.«

    Ich drehe mich um.

    »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Ein alter Mann mit kurzen weißen Haaren steht im Türrahmen und streckt mir die Hand entgegen. »Brause, wie das Getränk.«

    Wahrscheinlich meint er damit seinen Namen. »Erik Fink«, antworte ich deshalb und strecke ihm meine Hand entgegen.

    »Ziehen Sie hier ein?«, fragt er und beschreibt einen vagen Bogen mit dem Arm, der das Haus meinen könnte, aber auch halb Europa.

    »Sieht so aus. Und wer lag dort?«, frage ich mit einem Nicken in Richtung Fenster.

    Brause starrt ins Leere, dann in meine Richtung, aber sieht durch mich hindurch und fixiert einen Punkt im Nirgendwo. »Frau Lorenz, die Vorbesitzerin. Wir kannten sie schon ewig, meine Frau und ich. Sie ist wunderlich geworden, aber hatte den Haushalt noch gut im Griff.« Er schaut sich betont langsam um. »Zumindest einigermaßen.«

    »Woran ist sie denn gestorben?«

    »Einsamkeit, Krebs, Haushaltsunfall, keiner weiß es. Mord war es jedenfalls nicht. Aber sie lag lange dort. Ich finde«, er bewegt die Nase wie ein Kaninchen, »man kann es noch riechen.« Er läuft im Raum auf und ab. In seiner blauen Latzhose mit dem Zollstock in der Seitentasche und mit einem neugierigen Mustern jeder Ecke des Raums sieht er aus wie ein Arbeiter, der die Baustelle vor der Sanierung abschreitet. »Es muss schlimm sein, die letzten Jahre allein zu leben.«

    Zuerst dachte ich, dass das Röcheln aus den alten Leitungen in den Wänden kommt und sich trübes Wasser durch Ablagerungen und Unrat kämpft. Doch es stammt eindeutig aus der Lunge des Herrn Brause, den die paar Meter, die er im Zimmer auf und ab gegangen ist, sichtlich anstrengen. Seine Stirn ist rot wie ein Pavianarsch. Ein paar Mal atmet er tief ein und aus, schnauft wie ein altersschwaches Tier, das sich jeden Moment zum Sterben bettet.

    »Am Ende war es sicher erlösend für die Grete. Nur schade, dass ihre Enkelin im Urlaub war und ich sie finden musste.« Er steht nun vor mir und legt mir die Hand auf die Schulter. Mit seinem Mund ganz nah an meinem Ohr flüstert er: »Das sind Bilder, die vergisst man einfach nicht. Der Tod hat kein schönes Gesicht. Sehen Sie zu, dass Sie ihn ganz schnell aus diesen Mauern bekommen. Nicht, dass sich der Gevatter hier einnistet. Sie wirken noch so jung.«

    Er klopft ein paar Mal kräftiger auf meinen Rücken, als es sein Atem vermuten lässt und nickt bedeutungsvoll. Brause schwitzt stark.

    Ein LKW ist zu hören. Er bremst scharf und laut. Ich schaue durch das Fenster nach draußen und sehe den Möbelwagen. »Entschuldigen Sie mich bitte«, sage ich zu Brause, der im Schädelbereich wie ein in Flammen stehendes Michelinmännchen aussieht und mir im Weg steht. Ich ziehe den Kopf ein, um durch die niedrige Wohnzimmertür zu passen und gehe durch den Flur nach draußen.

    Einer der Möbelpacker kommt mir entgegen. »Wo sollen wir alles hinstellen?«

    Ich habe keine Ahnung. »Stellen Sie bitte alles in das Wohnzimmer im Erdgeschoss nach hinten rechts. Ich sortiere mir dann die Kisten und Möbel, wie ich es brauche.«

    »Alles klar«, sagt der athletische Mann und geht zum Transporter. Ich laufe zurück ins Haus und schaue mich genauer um. Der Eingangsbereich ist holzvertäfelt und dunkel, Spinnweben hängen an den Decken und Wänden und die Gardinen an den Fenstern zum Hof stammen aus dem letzten Jahrhundert. Beim einzigen Besichtigungstermin sah es bei Weitem nicht so schlimm aus. Der Makler führte mich flink durch alle Räume, rasselte das übliche Geschwätz herunter, das sie in der Ausbildung lernen, wenn sie eine Bruchbude schnellstmöglich loswerden wollen. Mir war es egal. Ich wollte nicht lange suchen. Wenn ich gezögert hätte, dann wäre ich nie hierhergekommen.

    »Ich kaufe das Haus«, sagte ich dem in seinem schicken Anzug völlig deplatziert wirkenden Makler, der vor Freude fast in sein iPad biss. Nun bin ich hier, die Möbelpacker tragen meine Sachen in ein Haus, das ich nicht einmal richtig kenne und Brause, der möglicherweise mein neuer Nachbar ist, kann ich nicht mehr finden. Ich rufe seinen Namen in jede Richtung, aber er ist weg. Die Treppe nach oben ist aus dunklem Holz. Sie knarrt bei jedem meiner Schritte vor Altersschwäche und die Stufen sind durchgetreten und gebogen. Im Obergeschoss angekommen, stehe ich in einem kleinen Flur von drei mal drei Metern, von dem aus es links in ein Miniaturzimmer geht. Es hat vielleicht acht Quadratmeter, ein winziges Fenster spendet kaum Tageslicht und ein Fußboden, der diese Bezeichnung verdient, fehlt. Ich sehe schiefe Balken und zwischen ihnen nur Lehm und Dreck. Daneben ist das Schlafzimmer. Alte Möbel stehen ungeordnet darin. Vom Stil her 60er Jahre und älter. Eine Kommode, ein Schrank, ein Nierentisch. Ein Bett gibt es nicht mehr, aber ich kann an der Wand deutlich erkennen, wo es stand und auch die Nachttische hinterließen helle Umrisse als Zeugnisse einer bewohnten Vergangenheit. Ich verdränge den Gedanken, dass die alte Frau Lorenz hier geschlafen hat. Zuhause sterben die Menschen kaum noch. Normalerweise haben die Erben diesen Akt bereits zu Lebzeiten vorsorglich in Heime verlagert.

    Das dritte Zimmer ist nicht bewohnbar. Völlig entkernt, blanke Lehmwände und alle zwei Meter ein maroder Balken. Auch hier ist der Fußboden aufgerissen und die Decke fehlt. Es zieht direkt vom Dach herunter, das Holz ist morsch und durch die Fenster pfeift der Wind. Ich schlage den Kragen meiner Jacke hoch. Hier wartet eine Menge Arbeit, aber so habe ich es gewollt.

    Unten kann ich die Möbelpacker schnaufen hören. Sie wuchten Schränke und Kisten ins Wohnzimmer. Ich werfe noch einen Blick ganz nach oben. Eine kleine, völlig verdreckte Treppe schlängelt sich bis unters Dach. Ausbaureserve nennt man das wohl. Mal schauen, was ich damit mache.

    »Hallo?«, höre ich eine angenehm gefärbte Frauenstimme aus dem Erdgeschoss rufen.

    Ich gehe die Treppen nach unten. Eine attraktive Rothaarige steht im Flur und reckt ihr hübsches Gesicht nach oben. Mitte vierzig, maximal, nicht zu aufdringlich geschminkt und mit einem umwerfenden Lächeln. Sie trägt ein blaues Kleid, darüber einen schwarzen Mantel und drückt eine Tasche an ihre Brust.

    »Sind Sie der Neue?«

    »Hallo und ja, das bin ich wohl«, antworte ich.

    »Guten Tag! Sie müssen dann Herr Fink sein, oder?«

    »Ja«, sage ich, noch hin und weg von ihrer leicht dunklen Stimme.

    »Ich bin Claudia Lorenz. Die Enkelin der Vorbesitzerin.«

    »Ah, ja«, bemerke ich unbeholfen. »Richtig, die Dame, die leider hier gestor…«

    »Ja, leider«, antwortet die Enkelin schnell. »Aber vierundneunzig ist so schlecht nicht.«

    Sie stellt ihre Tasche auf eine kleine Kommode im Flur und offenbart eine ansehnliche Figur in ihrem Kleid, die der nun leicht geöffnete Mantel nicht mehr verbergen kann. Ich bemühe mich, nicht zu offensichtlich auf ihre Brüste zu starren.

    »Wie kann ich Ihnen helfen?«, frage ich.

    Sie schenkt mir ein entwaffnendes Lächeln. »Wir haben zwar schon alles ausgeräumt, aber ich würde gern noch einmal alles durchsehen. Vor allem oben. Darf ich?«, fragt sie und tritt vor mich. Ich stehe auf der untersten Stufe der Treppe, trete neben sie und weise ihr mit einer Geste den Weg nach oben.

    »Danke.«

    Der Blick aus ihren blauen Augen geht durch meine hindurch, sprengt alle Nervenbahnen und lähmt mein Sprach- und Denkzentrum. Niedere Bedürfnisse werden dafür deutlich aktiver.

    Sie geht voraus und wackelt mit einem sagenhaften Hintern, den ich trotz der Unmenge Stoff geradezu spüren kann. Alles wirkt wie die perfekte Inszenierung in einem Hollywoodfilm, den ich direkt vor mir sehe. Die elegante und erfolgreiche Frau aus der Stadt nimmt Abschied vom Haus ihrer Kindheit. In einer Rückblende sieht man sie als kleines Mädchen mit einem Lachen voller Zahnlücken, in einer staubigen Latzhose, die Füße in schlammigen Gummistiefeln. Die Oma kocht derweil ein Essen aus Zutaten, die sie gemeinsam im Garten geerntet haben und abends spielen sie Mikado. Oder sie lesen bei einer Kanne Tee, während der Kachelofen sein einlullendes Brummen von sich gibt. Nun stöbert sie in den Möbeln der Oma, um auf Relikte aus einer viel zu fernen Vergangenheit zu stoßen. Dinge, die einen Platz in ihrem Herzen haben und die die Erinnerung wach halten. Dabei trifft sie auf einen schmuddeligen Typen, den sie noch nicht einzuordnen weiß, der aber ganz eindeutig scharf auf sie ist. Sie merkt es mit Sicherheit, während er sie anstarrt wie ein kleiner Junge, der mit der Situation völlig überfordert ist.

    Sie steht jetzt im kleinen Flur oben, schaut sich um und zieht mit einer gleichsam banalen, wie sinnlichen Bewegung die hohen Schuhe von den Füßen. »Ganz schön eingestaubt alles. Können Sie mir bitte aus dem kleinen Schrank unten im Flur die Gartenschuhe bringen?«

    Natürlich kann ich das. Zwei Träger wuchten gerade den alten Schreibtisch durch die Tür ins Wohnzimmer und ein dritter folgt ihnen mit zwei übereinandergestapelten Kisten. Ich finde die Schuhe sofort. Größe 37 in einem englischen Blumenmuster. Irgendwie kitschig, aber mit Stil. Ich gehe zurück nach oben und werde auf halber Strecke durch ihren perfekten Fuß gestoppt, den sie mir frech entgegenreckt. Sie streckt ihn durch und er ist direkt vor mir, auf Augenhöhe. Zum Anbeißen schön, der perfekte Fuß und eine Einladung für die Entwicklung eines Fetischs mit Extremitäten. Trotzdem ziehe ich ihr die Gartenschuhe nicht über, sondern recke sie ihr entgegen. Sie bedankt sich und schlüpft hinein. Dann stehen wir nebeneinander im Flur. Die Muffigkeit ist verschwunden, ebenso der Geruch von feuchtem Lehm und Dreck. Alles ist erfüllt von ihrem Duft. Sie zeigt in das kleine Zimmer links neben uns.

    »Das war in den Ferien mein Domizil. Hier habe ich gelesen und geträumt. Einfach nur schön.«

    »Wenn man vom Boden absieht«, sage ich.

    »Ja, das ist blöd. Es gab jemanden vor Ihnen, der das Haus nach dem Tod meiner Oma haben wollte. Der Verkauf war schon ziemlich weit vorangeschritten und er hat angefangen, Böden und Decken rauszureißen. Dann hat ihm jemand gesagt, dass das ein Haus aus dem 18. Jahrhundert ist und dass es unter Denkmalschutz steht.« Sie geht in das Zimmer und duckt sich im Türrahmen, obwohl sie wirklich nicht riesig ist. Eins siebzig vielleicht.

    »Das wussten Sie aber, oder?«, fragt sie mich mit einem Seitenblick und ich hebe meinen Kopf in Richtung des ihren, löse mich blitzschnell von ihren Beinen.

    Der Makler sprach davon. Aber es interessierte mich nicht. Dieses alte Haus hatte ich sofort in mein Herz geschlossen. »Ja, das ist mir bekannt«, sage ich und stehe nun neben ihr im Minizimmer. »Wirkt ganz schön klein, wenn man zu zweit drin steht«, versuche ich einen Scherz.

    »Als ich noch klein war, war es riesig«, sagt sie mit deutlicher Sentimentalität in der Stimme.

    Wohl kaum der richtige Zeitpunkt für weitere Späße.

    »Dann lasse ich Sie mal in Ruhe suchen und umschauen. Oder brauchen Sie mich?«

    »Nein, schon gut. Wenn doch, melde ich mich.«

    Ich lasse sie allein, gehe nach unten und stelle mich vor das Haus. Ich höre eine Krähe, die viel zu laut schimpft. Die großen Äste der Obstbäume biegen sich kahl im Wind und zwischen ihnen sind Seile gespannt. Hänge ich dort in Zukunft meine Wäsche auf? Eine Katze schleicht durch das nasse Gras und ich sehe zum kleinen Fenster hoch. Hoffentlich ist sie auch eine Nachbarin. Ist zwar unwahrscheinlich, aber hoffen darf ich.

    Der Möbelpacker kommt auf mich zu und reicht mir einen Zettel. »Wir sind fertig. Alle Möbel und Kisten stehen im Wohnzimmer, wie abgesprochen. War ja auch nicht viel. Unterschreiben Sie mir das bitte noch?« Ich nehme den mir angebotenen Kuli und unterzeichne das Blatt Papier.

    »Gut, dann war’s das. Die Rechnung kommt mit der Post. Einen schönen Tag noch«, sagt er und reicht mir die Hand.

    »Einen Moment bitte«, sage ich, greife in meine Hosentasche und gebe ihm zwei Zwanziger. »Für Sie und Ihre Kollegen. Vielen Dank.«

    Er bedankt sich und geht zum Transporter.

    Die Möbel und Kisten stehen eng beieinander und ich bin froh, dass ich die Einzelteile des Betts und die Matratze an leicht zugänglichen Orten finde. Zum Aufräumen habe ich jetzt keine Lust. Ich stehe im völlig überfrachteten Wohnzimmer und atme tief durch. Morgen ist auch noch ein Tag, sage ich mir und hebe die Matratze auf.

    »Wir hatten wohl schon alles eingepackt«, höre ich Claudia Lorenz hinter mir sagen. Ich lasse die Matratze wieder fallen und drehe mich um. Sie steht da mit leicht gefärbten Wangen, über die sich die feuerroten Locken ihrer Haare schwingen, auf jeder Wange ein Grübchen vom Lächeln.

    »Wie bitte?«

    »Ich habe nichts gefunden. Deshalb denke ich, dass wir schon alles beieinander hatten.«

    Schade. Ich gehe ein paar Schritte auf sie zu.

    »Dann melden Sie sich einfach, wenn Sie doch etwas vermissen.«

    »Das mache ich. Und Ihnen wünsche ich viel Erfolg beim Einräumen und Einleben im Dorf. Bis bald.«

    Sie streckt mir ihre Hand entgegen. Ich drücke sie mit einem Lächeln. Kein Ehering, nicht einmal eine Kuhle, wo einer gewesen sein könnte.

    »Das hoffe ich. Einen schönen Tag noch.«

    Wir gehen nach draußen und sie läuft los.

    »Frau Lorenz«, rufe ich und sie wendet sich zu mir. »Ihre Schuhe«, sage ich und zeige auf ihre Füße. »Sie haben noch die Gartenschuhe an.«

    Sie lacht schallend und herzlich. Mir gefällt diese echte, authentische Art. »Wo habe ich nur meine Gedanken?«, fragt sie laut und ich wünsche mir, dass einer ihrer abwesenden Gedanken bei mir war. Ich hole die Schuhe aus dem Haus und sie wechselt sie. Dabei verzichte ich auf einen Aschenputtelmoment für mich und lasse sie allein gewähren.

    »Nun aber wirklich«, sagt sie energisch. »Einen schönen Tag noch und viel Erfolg bei allem.«

    Damit verschwindet sie und ich stehe ein paar Augenblicke später allein inmitten von Umzugskisten und Möbeln in einem Raum, der knappe zwei Meter hoch ist. Eine Glühlampe baumelt an einem Kabel von der Decke. Schwere Balken ziehen sich von einem Ende des Raums zum anderen. Dunkles Holz, völlig erdrückend. Ich werde die Decke in diesem Zimmer weiß streichen, das schöne Holz hin oder her.

    Ich verrücke ein paar Kisten und sorge danach dafür, dass ich im oberen Raum schlafen kann. Vor allem schaffe ich Platz im Wohnzimmer um den Kachelofen herum. Noch bevor es dunkel ist, lodert es behaglich in ihm, ich öffne die Türen und er wärmt alle anderen Räume. Am Abend liege ich auf der Matratze im Schlafzimmer, einem schlauchartigen Raum, knapp zwei Meter fünfzig breit, aber sieben Meter lang. Neben mir auf dem Boden steht eine uralte Nachttischlampe, die mir ein schwaches Licht spendet. Meinen Blick lasse ich über die Decke schweifen, wo an unzähligen Stellen Strohhalme aus dem Lehm ragen. Die Balken der Wand und der Decke sind vergilbt und zum großen Teil von Würmern zerfressen. Den Kopf in meine verschränkten Arme gebettet, schaue ich mich um und lächle. Gut, dass ich das gemacht habe, ohne großartig nachzudenken. Das wird eine sehr befriedigende Arbeit werden. Ein richtig schönes Projekt.

    Am nächsten Morgen klopft es energisch an der Haustür.

    »Hallo?«, hallt eine tiefe Männerstimme von unten durch den gesamten Flur zu mir nach oben.

    »Moment!«, schreie ich, so laut ich kann, stehe auf und steige in meine Jeans. Dann ziehe ich einen Pullover über das T-Shirt und schlüpfe in die Turnschuhe. Ich habe dieselben Klamotten vom Vortag an, etwas anderes ist noch nicht ausgepackt.

    Ich öffne die Tür und ein beleibter, überaus gemütlicher Fleischer steht in der Tür. Es gibt Menschen, die bekommen die Berufswahl in die Wiege gelegt. Zartrosa Haut, dicke Backen und eine Nase wie … Nein, er sieht doch nicht aus wie ein Fleischer, eher wie ein Schwein. Ein kleines Schwein. Er ist das Ferkel.

    »Bruns, hallo«, begrüßt er mich mit einem Grunzen und entgegengestreckter Hand. »Sie sind der Neue, nicht wahr?« Sein Grinsen geht von einer Schwarte zur anderen und verdrängt dabei zwei Kilo Fett auf jeder Seite. Der Druck seiner Haxe zerquetscht meine Hand spielerisch.

    »Ja«, zische ich unter Schmerzen und atme durch, als er wieder loslässt.

    »Ich dachte, dass ich mal hallo sage«, bellt er eine Spur zu laut. »Kommen Sie doch heute Abend mal in den Krug. Ist ja nicht weit von hier. Einfach Richtung Dorfmitte und dann laufen Sie direkt drauf zu. Das erste Bier geht aufs Haus.«

    »Ah, sind Sie der Wirt … ähm, also der Inhaber vom Dorfkrug?«

    »Ja, aber nicht nur. Ich bin der Bürgermeister. Also nicht vom Dorf, sondern von der Verwaltungsgemeinschaft. Ehrenamt, klar. Wenn Sie Probleme haben, kommen Sie am besten direkt zu mir in die Wirtschaft.«

    Er drängt sich an mir vorbei. Geradezu spielerisch schiebt er mich zur Seite, als wäre ich ein störendes Möbel, ein Leichtgewicht noch dazu. Wie ein Bausachverständiger lässt er den Blick schweifen, vom Boden zur Decke, in alle Ecken, die Treppen hinauf und dann öffnet er auch noch die Tür zum Wohnzimmer.

    »Brauchen Sie Hilfe?«, fragt er mit Schweiß auf der Stirn. »Das sieht nach einer Menge Arbeit aus.« Er trägt ein schwarz-weißes Flanellhemd, das er tief in eine schwarze Cordhose geschoben hat. Über seinen mächtigen Bauch spannen sich rote Hosenträger und die Füße stecken in unglaublich großen Gummistiefeln. Er schaut zur Treppe hinauf. »Sagen Sie mal …«, fragt er und damit geht er die Stufen nach oben. Das Holz ächzt und atmet die Last aus. »… sieht das eigentlich noch immer so schlimm aus?«, höre ich ihn aus dem kleinen Zimmer rufen. Das Spielzimmer der Frau Lorenz. Ich sehe sie gedanklich vor mir, höre aber nur die Stimme des Ferkels. Eine verstörende Phantasie.

    »Da haben Sie sich aber was vorgenommen!«, schreit der Bürgermeister.

    Ich will ihm gerade in die erste Etage folgen, da stampft er schnaufend die Treppe herunter und kommt mir entgegen. Er steht vor mir, holt aus seiner Hosentasche ein kariertes Stofftaschentuch und tupft sich in großer Ausführlichkeit die Stirn ab. »Schön geheizt haben Sie ja schon mal. Aber die alten Kachelöfen machen auch ganz ordentlich Alarm.« Er beugt sich zu mir. »Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn sie hier was umbauen. Mit dem Denkmalschutz habe ich es nicht so.« Bruns kommt noch ein Stück näher und ich merke, wie sich die Härchen an meinem Ohr und im Nacken aufrichten. »Sie können ja unmöglich so bauen wie vor ein paar hundert Jahren, nicht wahr?«

    Er tritt wieder zurück und zwinkert mit einem Auge. Ich hoffe, dass es eine verschwörerische Geste ist und kein nervöser Tick, denn er sieht damit eher entstellt aus, als jovial. Er nickt vor sich hin und dabei wackelt sein dünnes blondes Haar auf dem Kopf.

    »Draußen müssen Sie aber schon mal alles herrichten. Jetzt im Herbst und im Winter mag das ja noch gehen, da heißt es nur streuen und Schnee schippen, wenn er denn kommt. Aber im Frühling und Sommer sehen es die Gemeindemitglieder gern, wenn die Gehwege frei von Unkraut und Dreck sind.« Er legt mir die Hand auf den Arm. »Aber nur die Ruhe, nichts überstürzen.«

    Ich nicke. »Ja, natürlich«, bestätige ich vorsichtshalber.

    Bürgermeister Bruns steht unbeholfen in der Diele, wippt vor und zurück und lächelt mich an. Wartet er auf einen Kaffee, den ich ihm noch nicht anbieten kann? Hofft er auf eine Einladung zum Frühstück in den Krug? Auf meine Kosten?

    »Und?«, fragt er schließlich, was mir allerdings mangels Präzision nicht weiterhilft. Sein Blick ruht auf mir wie der eines enttäuschten Lehrers, der eine einfache Frage gestellt hat, der dumme Schüler aber die Antwort nicht weiß.

    Ich sehe ihn fragend an, lächle, ziehe beide Augenbrauen nach oben, nicke. Gefühlt verbringen wir mehrere Minuten mit

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