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Der Schneeflockenfänger
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eBook397 Seiten5 Stunden

Der Schneeflockenfänger

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Über dieses E-Book

Der unscheinbare Max inspiriert die Fotografin Vivien zu einer neuen Ausstellung. Seine Mutter Ursula hält den Jungen spätestens seit der Vernissage für hochbegabt. Sein Lehrer Jerry hingegen sieht in ihm nur einen introvertierten Experten für griechische Mythologie. Warum in aller Welt will ausgerechnet dieser Junge im Schultheater mitspielen? Erst nach Jahren darf Max seine Bühnenpremiere feiern - als Laterne. Für die wortkargen Rollen gilt er fortan als gesetzt, bald auch als Statist am städtischen Theater. Hier ist er ein stiller Sonderling, dessen Bühnenspiel von einer seltenen Begabung zeugt: Max kann normal sein! Umgeben von talentierten Darstellern und Selbstdarstellern wird er zu einer Provokation und zum Opfer eines demütigenden Scherzes. Für Max wird es Zeit, die Diskretion einer Laterne abzulegen. Aber wie?
Ein sarkastischer und zugleich liebevoller Roman über den bürgerlichen Kulturbetrieb, das Erwachsenwerden und die Sehnsucht nach Bedeutung und Normalität.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Feb. 2017
ISBN9783734596582
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    Buchvorschau

    Der Schneeflockenfänger - Michael Pannes

    I

    Vivien

    1 Premierenfeier

    Vivien beobachtete den Jungen schon seit einer ganzen Weile. Sie hatte sich mit ihrem Teller und einem Glas Prosecco in eine Ecke des Foyers zurückgezogen. Gedankenverloren hatte sie, ohne bislang viel gegessen zu haben, in ihren Antipasti herumgestochert. Irgendwann musste sie auf diesen Jungen aufmerksam geworden sein, denn ihre Augen hafteten noch immer auf ihm, als hätte sie etwas entdeckt, das von Bedeutung gewesen wäre. Vivien nahm einen Happen von der Lachspastete und trank einen Schluck Prosecco. Sie langweilte sich. Wie nach jeder Premiere hatte sie auch heute gehadert, ob sie zur anschließenden Feier bleiben oder nach Hause gehen sollte.

    Warum tat sie sich das immer wieder an? Vivien ließ den Blick über das Meer aus Abendkleidern und dunklen Anzügen schweifen. Sie hatte sich angewöhnt, nicht mehr allzu genau hinzuschauen. Sie wusste, dass sie zur Menschenverachtung neigte, wenn sie in den teuren Garderoben eitler Damen das Gewöhnliche erkannte. Und sie konnte unentwegt lästern, wenn sie an akkuraten Herrenhosen abwärts schauend ausgetretene und gummibesohlte Straßenschuhe entdeckte. Meist bestätigte sich dann ihr Verdacht, dass am oberen Ende des feinen Zwirns nahezu kahle Köpfe heraustraten, auf denen die letzten Haare aus Verzweiflung zu einer peinlichen Frisur gelegt worden waren. Vivien mochte aber nicht mehr lästern. Sie mochte auch nicht mehr nach den graumelierten, ganz in Schwarz gekleideten Männern Ausschau halten, die sich mit ihren locker umgelegten Schals bemühten, intellektuell und kunstbeflissen zu wirken. Heute war es ihr unerklärlich, wie sie früher auf so etwas hatte reinfallen können.

    Drüben an der Theke standen einige Blechbläser. Sie hatten noch nicht ihre Fracks abgelegt, damit sie in aller Gemächlichkeit ihre Stammplätze in der Nähe des Zapfhahns einnehmen konnten, ein Territorium, das sie Viviens Erfahrung nach in den nächsten Stunden hart verteidigen würden.

    Sie schaute wieder zu dem Jungen, der reglos inmitten einer Menschentraube stand, die sich um das Buffet drängte. Ab und an ging er einen Schritt vor. Es war erstaunlich, dass er überhaupt vorankam und nicht längst von einem unachtsamen Erwachsenen überrannt worden war.

    Applaus setzte ein. Vivien wandte den Blick nach rechts, wo gerade der Dirigent mit den Solisten und dem Regisseur auftrat, um die Ovationen des Publikums entgegenzunehmen. Gleich würde wieder eine dieser unsäglich schmalzigen Reden des Intendanten folgen. Vivien ahnte schon, was sie erwartete: Wie immer wird er mit einer devoten Lobhudelei an die Künstler beginnen und dann mit einer Anekdote aus dem eigenen Leben ausschweifend werden. Vermutlich wird er erzählen, wie er gemeinsam mit dem Regisseur und dem Dirigenten – seinen Freunden, wie er betonen wird – in einer legendären Nacht den großen Wurf der Inszenierung erdacht habe, um schließlich hinzuzufügen, dass sein eigener Beitrag an diesem Musikgeschichte schreibenden Ereignis bescheiden gewesen sei. Zugleich wird er natürlich hoffen, dass nach seiner Rede Lucien und Kenneth, wie er sie nennen wird, das Wort ergreifen werden, um ihm zu widersprechen und seine visionäre Kraft und seinen Mut zu preisen.

    Vivien schüttelte sich bei ihren Gedanken, aber kaum war einer von ihr abgefallen, entstand der nächste, dies so lange, bis sie den Intendanten in der Toskana wähnte, wo dieser selbstverliebt vor seinem Rustico ein Glas Rotwein trank, natürlich schwarz gekleidet und mit einem lächerlichen Schal.

    Am Buffet hatten inzwischen die Damen und Herren des Chores die Gunst des Augenblicks genutzt, um diejenigen Premierengäste an der vordersten Buffetkante abzulösen, die jetzt ihre Chance witterten, die Opernstars aus nächster Nähe inhalieren zu können. Hartnäckig geblieben war eine groß gewachsene, stämmige Frau, die gleich zwei Teller mit allem vollschaufelte, was sie kriegen konnte. Das war eine ganze Menge, doch offensichtlich nicht genug, denn gekrönt werden sollten die Berge mit möglichst vielen Oliven, für die sie jetzt ihre Nachbarin zurückschob und sich gefährlich weit vorlehnte, pausenlos mit wem auch immer redend. Der Junge ging derweil wieder einen Schritt vor. Seltsamer Junge, dachte sich Vivien.

    Ein Chortenor – Vivien mochte den Kerl – blies am Buffettisch das Gesicht auf, weitete die Augen, breitete die Arme aus und reckte sich vor, als wolle er bäuchlings auf den Tisch rutschen, ähnlich wie Falstaff eben noch am Ende des dritten Aktes. Er machte das wirklich komisch und fand seine Lacher, während der Intendant bereits bei seiner Anekdote angelangt war und überschwänglich ausgerechnet jenes Festmahl lobte. Was für ein fulminantes Finale, jubelte er durch die knarzende Lautsprecheranlage. Ein Geniestreich, müsse er sagen, und seine Entstehung beim Italiener eine Geschichte wert. „Weißt du noch, Lucien? Und danach dieser Grappa …?"

    Vivien verdrehte die Augen, mochte sich aber nicht länger über den armseligen Intendanten aufregen, sondern lieber gleich über den gesamten Opernbetrieb: Warum endete fast jede Oper mit einem Festmahl, das seine dramaturgisch völlig unsinnige Doppelung dann bei der Premierenfeier fand? Der Chortenor hätte springen sollen. Mit seinem putzigen Schnauzbart voran wäre er auf seinem runden Bäuchlein robbengleich über den Tisch geglitten, hätte der Dame die Oliven weggeschnappt, mit lautem Getöse die Silbertabletts vom Tisch gerissen, die ölige Rede des Intendanten beendet und Falstaff klar in den Schatten gestellt ... Vivien musste unwillkürlich auf die großformatigen Szenenbilder der Oper schauen, welche die Wände des Foyers schmückten. Es waren ihre Aufnahmen. Falstaff im Sturzflug auf das gedeckte Festmahl war nicht dabei – zum Glück. Die Großaufnahmen waren gelungen, fand Vivien, sich selbst lobend. Ja, die Szenen sprühten vor Tempo.

    Paradoxerweise fiel ihr bei diesem Gedanken wieder der Junge ein. Er stand da, wo sie ihn vermutete. Vielleicht hatte er sich einen Schritt nach vorn bewegt, mehr aber auch nicht. Doch nun kam Bewegung in das Schauspiel. Die doppeltbetellerte Frau vom Buffet hatte ihre Olivengarnitur augenscheinlich nur noch mit zwei großen, gefüllten Tomaten beschweren können und hielt den einen der Teller jetzt dem Jungen hin, der ihn anstandslos ergriff und sich selbst zu füttern begann, als wäre er sein eigenes Kind. Er war aber wohl eher das Kind dieser Frau, die nach wie vor ohne Pause redete. Der Junge wirkte völlig durchnässt von ihrem Redeschwall, dachte Vivien. War sie wirklich seine Mutter? Sie konnte nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen beiden entdecken. Vivien versuchte, an ihrem Gebaren abzulesen, was die Frau wohl zu dem Jungen sagte. Offenbar forderte sie ihn gerade auf, tüchtig zu essen. Aber der Junge aß schon tüchtig. Die Frau musste seine Mutter sein.

    Applaus ertönte. Der Intendant hatte seine Rede beendet und wartete nun, als hätte Vivien das Drehbuch geschrieben, auf die Dankesworte des Dirigenten. In der Erwartung, dass der Dank zu einem entscheidenden Teil ihm gelten werde, korrigierte er noch einmal seine Pose. Der kleine Mann rang um Größe und hoffte zugleich, dies vor dem Publikum mit falscher Bescheidenheit tarnen zu können. Wie peinlich, dachte Vivien und schob ihren Teller zur Seite. Der Appetit war ihr vergangen. Sie wollte gerade gehen, als sie wahrnahm, wie sich die mutmaßliche Mutter des stummen Jungen mit ihrem Teller quasselnd durch die Menschenmenge drängelte, um jedes „Danke!" des Dirigenten hautnah kommentieren zu können. Aber wo war der Junge? Intuitiv schaute Vivien dorthin, wo er ihrer Voraussicht nach noch immer stehen müsste. Ja! Er war noch da.

    Vivien fühlte eine Erleichterung, die sie überraschte. Was kümmerte sie dieser Junge? Steht dort allein in seinem eigenen Universum, den Blick ins Unendliche gerichtet, allein mit seinem noch halbvollen Teller, von dem er sich gerade, so gut es eben geht, mit der Gabel eine große gefüllte Tomate aufspießt. Für die Dauer eines Schnappschusses sieht Vivien einen Jungen, der auf einem Jahrmarkt einen Paradiesapfel in der Hand hält, das Bild in schwarz-weiß, nur der Apfel ist rot. Doch als der Junge zubeißt, ist es wieder eine Tomate, die nun nach allen Seiten ihren roten Saft verspritzt. Vivien kann sich ein Grinsen kaum verkneifen. Was für eine Bildsequenz!

    Und wieder Applaus. Er hätte diesen Jungen feiern sollen, doch galt er der Rede des Dirigenten, die, wie erwartet, mit dem Dank und ein paar verbalen Streicheleinheiten für den Intendanten geendet haben musste, denn dieser platzte jetzt schier vor Stolz und schüttelte aufgeregt die Hand des Redners. Man muss sein Licht ja nicht unbedingt unter einen Scheffel stellen, dachte sich die Fotografin, aber anstrahlen sollte man so kleine Lichter auch nicht. Wie winzig der jetzt aussieht, spöttelte sie.

    Der Junge hatte seine opulente Tomate mittlerweile erledigt. Er warf sich Oliven ein und schluckte sie samt ihrer Kerne hinunter. Das hatte nur sie gesehen, da war Vivien sich sicher. Der Regisseur redete derweil von einer magischen Nacht. Eine Bedienstete ergriff ihren beiseitegeschobenen Teller, während Vivien über die Oliven sinnierte. Ja, sie hatten ganz sicher Kerne. Verrückter Junge, steht noch immer an derselben Stelle. Jetzt mit einem leeren Teller in der Hand, den ihm die Bedienung im Vorbeigehen wie selbstverständlich nicht abnimmt. Der Junge ist unsichtbar. Spätestens seit er die rote Paradiesapfeltomate verputzt hat, ist der Junge unsichtbar. Aber warum?

    Die Mutter des Jungen kam angerauscht. Sie wedelte mit einem Bündel Autogrammkarten und hatte bereits wieder das Buffet im Blick. Vivien hatte kaum mitbekommen, dass die Reden geendet hatten und die Schlacht am Autogrammtisch der Solisten tobte. Die Geschwindigkeit, mit der die Dame ihre Karten erobert hatte, war erstaunlich. Vivien mutmaßte, dass sie sich mit ihrem riesigen Busen schon vor Beginn des Kampfes auf den ersten Platz geschoben hatte. Wie sonst hätte sie so schnell ihren leergefressenen Teller gegen die signierten Konterfeis der Künstler tauschen können? Vivien spürte, wie sie aggressiv wurde.

    Die Frau hatte sich wieder mit zwei Tellern bewaffnet und lud Nachspeisen auf, während der Junge erneut der Dinge harrte, die auf ihn warteten. Er stand plötzlich wieder weiter hinten im Raum und setzte nur ab und an einen Fuß vor den anderen. Da sich jetzt aber weitaus weniger Gäste um das Buffet scharten, begriff Vivien die Ursache dieses seltsamen Verhaltens: Der Junge folgte nur seiner Mutter, die zwei Meter weiter links schrittweise das Buffet abarbeitete. Eine Szene, die komischer aussah als Parallelschwimmen oder Dressurreiten. Dieser Junge wird der Protagonist meiner nächsten Ausstellung, schwor sich Vivien.

    Ohne zu zögern, stand sie auf, ging zum Buffet, nahm sich einen Teller und begann, ihn ohne ihren sonst üblichen Blick für Details mit Konfekt und Torten vollzuladen, während ihre Gedanken an dem ersten Satz arbeiteten, mit dem sie die Mutter ansprechen konnte. Da sie nicht mit zwei Tellern arbeitete, näherte sie sich der Frau recht zügig. Das beiderseitige Kennenlernen sollte jedoch schneller und auch vor ihrem ersten Satz beginnen, denn die anvisierte Dame wandte sich plötzlich um, tippelte drei weitere Gäste umkurvend auf Vivien zu, drängelte sich zwischen sie und das Buffet und reckte sich nach dem letzten noch verbliebenen gelierten Erdbeertörtchen.

    „Das hat mich eben schon so angelacht. Wenn ich hier gerade mal ... Ich stand eben schon hier ... also nicht, dass Sie denken, ich drängle mich vor."

    „Nein, nein, ganz und gar nicht."

    „Jetzt müsste ich nur noch mal an die Sahne."

    Die Frau reckte sich noch ein wenig weiter vor. Auch wenn es sich bereits erübrigt hatte, entfuhr Vivien noch ein „Bitte sehr".

    „Ich sage immer, ein Erdbeertörtchen ohne Schlagsahne ist doch kein Erdbeertörtchen." Sie nahm energisch einen großen Löffel und richtete sich wieder auf.

    „Ein phantastisches Buffet, nicht wahr", sagte Vivien, weil ihr nichts Besseres einfiel.

    „Nun ja. So ganz korrekt ist das ja nicht, Erdbeeren in dieser Jahreszeit ... Aber wo sie nun mal da sind, kann man sie ja auch nicht stehen lassen, finden Sie nicht? Also, kaufen würde ich mir jetzt natürlich keine. Man muss schließlich auch an die Umwelt denken. Schrecklich teuer sind sie außerdem noch. Alles Importware, müssen Sie wissen. Aber hier hat man ja quasi schon bezahlt, ich sogar doppelt. Mein Mann konnte allerdings nicht mitkommen. Er hat so eine entsetzliche Gastritis. Das wäre dann nichts hier für ihn. Nun ja, da habe ich an seiner Stelle meinen Jungen mitgekommen."

    Sie unterbrach sich selbst, da die Erwähnung ihres Kindes sie daran erinnerte, weshalb sie nicht mit nur einem, sondern zwei Tellern voller Süßspeisen in der Hand sich hatte vom Essen ablenken lassen. „Ach, mein Junge!, sagte sie zu ihrem Sohn, der in einem Sicherheitsabstand von zwei Metern ins Unendliche guckte, „hier, iss, mein Junge!

    Vivien registrierte, wie die Frau ihrem Sohn zunächst den Teller mit dem Erdbeersahnetörtchentopping hinstreckte, sogleich aber ihren Fauxpas bemerkte und ihn noch rechtzeitig, bevor er zugriff, zurückzog und dem Kind den anderen gab.

    „War gar nicht so leicht, hier einen Kinderteller zusammenzustellen. Aber ich weiß ja, was meinem Jungen schmeckt, nicht wahr?"

    Der Junge griff sich als erstes eine der vier Rumkugel und aß sie mit der gleichen Technik wie zuvor die Oliven: Er warf sie ein und schluckte sie umstandslos hinunter.

    „Und dass du mir nichts verkommen lässt! Ich hoffe, du weißt, dass eine solche Premierenfeier etwas ganz Besonderes ist." Die Frau aß nun ihrerseits, was sie allerdings nicht daran hinderte weiterzureden.

    „Schau mal, Junge, die zwei da reden Englisch. Verstehst du schon was? Da siehst du einmal, wie wichtig es ist, Fremdsprachen zu lernen. Nice party here!" Sie winkte mit ihrer Gabel dem fremden Paar zu, dessen Englisch sie so glücklich gemacht hatte.

    „Es wurde ja auch mal Zeit, dass in unserer Stadt internationales Flair einzieht. Oh, I like it! It’s ... äh ... it’s einfach ..."

    „Wonderful?", ergänzte Vivien. Ihr schmeckte es im Grunde nicht, wie sie sich dieser Frau als Souffleuse anbiederte, nur weil ihr der Spleen in den Sinn gekommen war, langweilige, unscheinbare Kinder fotografieren zu wollen.

    „Wonderful!", wiederholte die Frau, die sich jetzt mit einem verklärten Grinsen Vivien zuwandte. „Genießen Sie auch die Atmosphäre hier? Also eben der nette Kontakt zu den Ausländern, und davor dieses ganz besondere Gespräch mit Kenneth Dalton! Er spricht ja ein außerordentlich gutes Deutsch, finde ich. Ich hatte ihm gesagt, wie begeistert ich von der Oper bin, und ich glaube, er war sehr geschmeichelt von meinem Lob. Er sagte, ich dürfe ihn gerne Ken nennen. Ein toller Mann. Und dieses Strahlen! Finden Sie nicht auch, dass er ein besonderes Strahlen hat? Ken Dalton! Der Name passt wirklich sehr gut zu ihm. Das habe ich ihm dann auch gesagt. Und da hat er mir doch tatsächlich ein Foto geschenkt und ein ganz großes Herzlichen Dank darauf geschrieben. Warten Sie, ich zeige es Ihnen! Sie fingerte an ihrer Handtasche herum. „Ach, können Sie mir bitte kurz meinen Teller halten, dann habe ich es gleich.

    Unversehens hatte nun Vivien einen zweiten Teller in der Hand, den sie zu allem Überfluss ausgerechnet dort griff, wo die Schlagsahne vom Erdbeertörtchen schwappte und über den Tellerrand lief. Sie schaute kurz zu dem Jungen, der still vor sich hin aß, kein Wort redete, weder Deutsch noch Englisch. Ein Held, der diese Mutter erträgt, sagte sie sich. Sie wusste, wen sie als Vorbild brauchte, als die Frau aufgeregt ihre Lieblingsautogrammkarte mit dem dankbaren Ken vorzeigte.

    „Sehen Sie hier: Herzlichen Dank."

    Vivien warf einen Blick auf die Karte. Vor dem kernig lachenden Kenneth Dalton erkannte sie jedoch nicht mehr als dessen schwungvolle Signatur. Jetzt nur keine Träume zerstören, ermahnte sie sich. „Nett, sagte sie, „wirklich nett.

    „Möchten Sie sich nicht auch eine holen?"

    „Ach, das muss jetzt nicht sein."

    „Ich sehe doch an ihrem Lächeln, dass sie auch gern eine hätten."

    „Nein, das ist wirklich nicht nötig. Wenn ich mich vorstellen darf: Ich bin die Hausfotografin der Oper. Und gewissermaßen die Urheberin Ihrer Fotosammlung." Vivien glitt der Satz mit einer charmanten Arroganz über die Lippen, die genau den Ton traf, den die Autogrammjägerin brauchte, um euphorisch zu entflammen.

    „Nein, wirklich? Das ist ja aufregend! Heißt das, Sie kennen die Künstler sogar persönlich? Kennen Sie etwa auch noch andere Prominente, die man so kennt?"

    Vivien begriff, dass in dieser naiven Bewunderung die Chance lag, zügig auf ihr Anliegen zu kommen.

    „Nun ja, die Arbeit mit prominenten Künstlern ist mein Alltagsgeschäft. Und natürlich kenne ich viele auch als Menschen recht gut. Was für eine abgenutzte Phrase, dachte Vivien, redete aber tapfer weiter: „Um authentische Fotos zu machen, ist es wichtig herauszufinden, was den Menschen hinter der Person beschäftigt. Noch so ein abgedroschener Satz und verlogen obendrein. Bei solch blöden Künstlerportraits ging Vivien nie tiefschürfend vor. Hier ging es niemandem um Authentizität. Hier ging es um den Schein des Besonderen, der als echt verkauft werden sollte.

    „Interessant, sagte die Frau, die Viviens Worte jetzt förmlich aufsaugte. „Sicher haben Sie ein sehr gutes Gespür, an die Menschen heranzukommen. Was erzählen die denn so, also zum Beispiel Kenneth Dalton? Lassen Sie mich raten: Es ist alles völlig anders, als man denkt, nicht wahr? Aber sagen Sie nichts. Ich finde es selbst heraus!

    Sie starrte äußerst engagiert auf die Autogrammkarte und kam sogleich zu einer Entdeckung, die sie stolz machte. „Ich hab´s! Irgendwie haben seine Augen etwas Diabolisches, finden sie nicht? Ich spüre, dass da noch etwas anderes ist. Das haben Sie wirklich hervorragend hingekriegt. Wirklich, eine tolle Arbeit. Oder kann man da überhaupt von Arbeit reden? Ich meine, wer Fotos von Kenneth Dalton und solchen Leuten macht und dabei so richtig an deren Menschsein rankommt, wie Sie so schön gesagt haben, der geht doch wohl eher einer Leidenschaft nach als einer Arbeit, oder?"

    Sie lachte verzückt auf. Vivien war froh, dass zwischen ihr und der Frau dank des unvollendeten Nachtisches wenigstens noch ein Zwei-Teller-Abstand gewahrt blieb. Trotzdem erhöhte sie das Risiko.

    „Möchten Sie nicht noch Ihr Erdbeertörtchen essen?"

    „Wie aufmerksam von Ihnen!"

    Sie übernahm endlich wieder ihren Teller und machte sich unverzüglich über ihr Törtchen her, während Vivien ihren aus der Schlagsahne befreiten Daumen unbeobachtet an einer Tischdecke hinter ihrem Rücken abwischte.

    „Wir redeten von Leidenschaft", sagte die Frau mit vollem Mund.

    „Wie bitte?"

    „Das Fotografieren."

    „Ach, so – ja, es ist durchaus beides: Arbeit und Leidenschaft. Meine Leidenschaft ist die Suche nach neuen Motiven. Dadurch erklärt sich auch, warum Prominente nicht zu meinen Leidenschaften zählen. Prominente sind Arbeit. Ihre Bekanntheit macht sie zu abgegriffenen Motiven, die mich eher langweilen."

    „Langweilen? Ich meine, es hat ja eine gewisse Logik, was Sie da sagen, aber wenn ich mir vorstelle, ich wäre allein in einem Studio mit Kenneth Dalton, das wäre doch aufregend!"

    „Für mich wäre es, ehrlich gesagt, wesentlich aufregender, Ihren Sohn zu fotografieren."

    Die Frau guckte sie entgeistert an, so entgeistert, dass Vivien unsicher wurde, ob ihr Vergleich diskreditierend, anzüglich, unmoralisch oder einfach nur dumm gewirkt hat. Belustigend schien er jedenfalls nicht gewesen zu sein.

    „Das meinen Sie aber jetzt nicht im Ernst? Das sagen Sie jetzt sicher nur, um mir zu schmeicheln."

    „Nein, nein, antwortete Vivien, erleichtert, dass keine ihrer Befürchtungen zutraf. „Darum geht es mir nicht. Mein Beruf ist nicht das Schmeicheln, sondern das Beobachten.

    „Ich verstehe Sie nicht recht."

    „Ich beobachte Menschen. Ich beobachte den ganzen Tag Menschen, immer auf der Suche nach aufregenden Motiven. Wir redeten doch von meiner Leidenschaft."

    „Ja, und dann?"

    „Wenn ich Glück habe, treffe ich auf Personen wie Sie."

    „Sie meinen, ich ...? Nun, hätte ich das gewusst. Ach, mir wird ganz heiß! Ich hätte ja noch ein anderes Kleid gehabt, ein luftiges. Ich glaube, es hätte auch besser zu meiner Frisur gepasst, aber das lässt sich ja alles noch ändern … Ach, wissen Sie, ich glaube, es sollte einfach so sein, dass wir uns hier kennenlernen. Wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt. Bauer. Ursula Bauer."

    „Vivien Mandelbaum."

    „Spannend, wie Sie das eben beschrieben haben mit dem Beobachten und der Leidenschaft! Ich beobachte ja auch gern andere Menschen. Mich interessiert immer, was wie wirkt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Körpersprache, sage ich nur. Wissen Sie, ich bin Anwältin. Da bringt es schon eine Menge, wenn man Körpersprache einsetzt. Nicht irgendwie, sondern bewusst. Bewusst!"

    Vivien musste nun zusehen, wie Ursula Bauer ihren immer weiter ausufernden Redeschwall mit ihrem wallenden Körper untermalte. Warum, in Gottes Namen, musste sie jetzt auch noch mit ihrem Körper sprechen? Während Frau Bauer sich anschickte, das Maximale aus sich herauszuholen, reduzierte sich der Junge neben ihr auf sein Wesentliches. Der Junge, der noch immer keinen Namen hatte, sondern einfach nur der Junge war, der nur da stand, atmete und aus leeren Augen in das Nichts schaute.

    „Frau Bauer, fuhr Vivien energisch dazwischen, „ich würde gerne einige Aufnahmen von Ihrem Sohn machen.

    Ursula Bauer verstummte. Nur ihr Körper sprach noch. Unbewusst.

    2 Weiß

    Endlich Stille. Es hatte eine gefühlte Stunde gedauert, bis Ursula Bauer das Studio verlassen hatte. Wortlos saß der Junge vor Vivien auf einem Stuhl und starrte sie an. Oder sah er durch sie hindurch? Vivien war sich da nicht so sicher. Ihr war auch nicht klar, ob der Junge seine Mutter vermisste oder nur auf seine eigentümliche Art die Ruhe genoss. Vielleicht war ihm Ruhe aber auch unheimlich, weil sie ihm fremd war? Die verbalen Amokläufe seiner Mutter mussten ihm seit pränatalen Zeiten vertraut sein. Was hatte sie sich eben noch lautstark echauffiert, bevor sie die Tür des Ateliers hinter sich zugeschlagen hatte! Vivien hatte darauf bestanden, mit dem Jungen allein zu arbeiten. Dass Frau Bauer trotz ihrer Verärgerung endlich abgerauscht war und ihren Sohn zurückgelassen hatte, lag, da machte Vivien sich nichts vor, weniger an ihrer Überzeugungskraft als am Ehrgeiz einer Mutter, die ihre eigene unerfüllte Sehnsucht nach Anerkennung nicht anders zu stillen wusste als mit der Hoffnung auf ein paar süße Bilderchen von ihrem Jungen, ihrem Küken, ihrem unter der Muttergluckenlast zerquetschten kükigen Jungen.

    Wirklich geschickt war sie ja nicht mit Frau Bauers Traumwelt umgegangen, das musste Vivien sich eingestehen. Was hätte es sie gekostet, vorneweg noch schnell ein paar Aufnahmen von ihr zu machen und dabei ihre in Haarspray zementierte neue Frisur zu loben, die sie sich nicht zufällig heute früh beim teuersten Friseur der Stadt hatte hochföhnen lassen, um sie, kombiniert mit einem gewagten Minirock aus Studienzeiten und diversen Kostproben ihrer Körpersprache, zum Objekt von Viviens Kamera zu machen? Ihr Posieren erschöpfte sich jedoch in so plumpen Nachahmungen erotischer Klischees, dass Vivien sich außerstande sah, auf den Auslöser zu drücken. Als schließlich auch Frau Bauer begriffen hatte, dass an diesem Nachmittag ihre Karriere als Fotomodell nicht beginnen würde, eruptierte sie mit Ratschlägen für ihren Sohn, der vor allem mehr lächeln solle, und Anmerkungen zur Farbgestaltung des Studios, das doch „sehr weiß gehalten sei. Das sei ja fast wie Schnee, hatte sie gesagt und sogleich von ihren gelungenen Aufnahmen aus dem letzten Winter erzählt. Sowohl der Junge als auch der Schneemann seien so farbenfroh und kontrastreich gewesen, Vivien solle daher unbedingt auch die Blende ein wenig weiter öffnen. „5,6 waren ihre letzten Worte, bevor Vivien die Contenance verloren und Frau Bauer aus dem Studio geworfen hatte.

    Wunderbar, diese Ruhe! Vivien atmete tief durch und bekam das Gefühl, die Wände und Möbel des Studios täten es ihr nach. Der ganze Raum atmete tief durch und weitete sich. Hatte sie gesagt, sie wäre in zwei Stunden wieder hier? Sie schaute den auf dem Stuhl zusammengesunkenen Jungen an. „Atme!", wollte sie ihm zurufen.

    „Möchtest du einen Kakao?", fragte sie ihn aber.

    Der Junge zuckte mit den Schultern. Vivien lächelte.

    „Naja, ich mache dann mal einen."

    Sie holte Milch aus dem Kühlschrank, füllte sie in einen kleinen Topf und stellte ihn auf den Herd.

    „Du kannst dich hier gern umschauen."

    Vivien hatte bisher selten mit Kindern zu tun gehabt, eigentlich nie. Der Junge schaute sich wie notgedrungen ein wenig um. Er stand sogar zögernd wieder auf, blieb aber bei seinem Stuhl. Vivien nahm ihre kleine Nikon, die neben dem Herd lag, und machte ein Foto. Wenn sie portraitierte, fing sie immer so an: Sie griff sich spontan die nächstliegende Kamera und machte beiläufig ein Bild. Ihr wäre es lieber gewesen, der Junge wäre jetzt ein bisschen herumgegangen, aber das tat er nicht. Er blieb vor seinem Stuhl stehen. Also machte Vivien ein Foto von einem Jungen, der vor einem Stuhl stand.

    Beklommenheit lag im Raum. Meist gelang es Vivien, aufkommende Peinlichkeit durch die Beiläufigkeit des ersten Fotos im Keim zu ersticken. Sie machte noch ein Foto. Und noch eins. Sie spürte eine stärker werdende Verspannung in der Brust, begriff aber nicht, dass sie es war, die schon eine Weile die Luft anhielt, während der Junge völlig normal atmete. Sie schämte sich, als sie das nächste Foto machte. Das passierte ihr sonst nie. Was mutete sie dem Kind zu? Eingesperrt in ein kahles, weißes Zimmer, allein mit einer Fotografin, die ihn angaffte und mit ihrer Kamera malträtierte.

    „Hast du auch schon mal fotografiert?"

    Der Junge schüttelte den Kopf.

    „Du redest nicht viel, kann das sein?"

    Der Junge zuckte mit den Achseln. Jetzt wurde er doch verlegen.

    „Weißt du, ich rede auch nicht besonders viel. Ich brauche nicht viele Worte. Für jedes unnötige Wort mache ich lieber ein Foto."

    Sie drückte erneut den Auslöser. Die Kamera hielt sie dabei wie nebensächlich vor ihrem Bauch. „Das habe ich mir so angewöhnt: wenig Worte, aber viele Bilder. Bilder sagen mehr als Worte, verstehst du, was ich meine?"

    Der Junge guckte Vivien an. Sie knipste erneut.

    „Siehst du. Jetzt hast du mir etwas gesagt, und es ist hier drin. Aber lass uns lieber Kakao trinken. Such dir schon mal einen Becher aus."

    Während Vivien die Milch umrührte, damit sie nicht anbrannte, holte sich der Junge einen Becher aus dem Regal und stand plötzlich dicht neben ihr. Vivien war überrascht. Für einen Augenblick berührten sich ihre Arme.

    „Ich heiße Maximilian."

    „Ich ..., begann Vivien. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und rang nach Worten. „Das ist mir jetzt ja so peinlich. Ich habe dich nie nach deinem Namen gefragt.

    „Ich weiß."

    „Oh! Das tut mir leid! Wie konnte ich nur ... So was tut man nicht. Entschuldige bitte. Ich ..."

    „Ist schon gut."

    „Oh nein. Ich rede mit deiner Mutter über dich, lade dich ein, sehe dich heute schon zum zweiten Mal und frage nie nach deinem Namen."

    „Es fragt nie jemand nach meinem Namen. Die Milch kocht."

    Die Milch kochte! Gerade noch rechtzeitig vor dem Überkochen riss Vivien den Topf vom Herd. Keiner fragt den Jungen nach seinem Namen. Sie auch nicht. Auch sie redete in ihren Gedanken immer nur von dem Jungen.

    Auf der Milch hatte sich Haut gebildet.

    „Lass uns rausgehen, Maximilian."

    „Und der Kakao?"

    „Ich lade dich in ein Café ein. Wir feiern jetzt erst mal unser Kennenlernen."

    „Gibt es in einem Café denn auch Kakao?"

    „Aber sicher. Wenn du magst, sogar mit ganz fett Schlagsahne. Ich bin übrigens Vivien."

    „Ich weiß", antwortete Maximilian.

    Vivien lächelte ihn an und reichte ihm seinen Anorak.

    Dann warf sie sich ihre Jacke über, wählte aus der Vitrine die passende Kamera mit einem lichtstarken kleinen Zoom und verließ mit Maximilian das Studio.

    Es war ein sonniger Tag im Spätherbst. Eigentlich ideal, um unterwegs Fotos zu machen. Noch vor ein paar Tagen hatte Vivien, wenn ihr die geplante Ausstellung durch den Kopf ging, ausschließlich Bilder vor

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