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Josty: Eine Liebe zwischen Berlin und Sims Maria
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eBook133 Seiten1 Stunde

Josty: Eine Liebe zwischen Berlin und Sims Maria

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Über dieses E-Book

Berlin, Anfang des 19. Jahrhunderts: Johann hat es durch »Fleiss und Thätigkeit« zu einem wohlhabenden Patissier gebracht: Kunden aus »Hof, Kunst und Geist« lieben seine süßen Kunstwerke. Das Leben in der höheren Gesellschaft ist für ihn nur ein Spiel mit Umgangsformen – um preußische Konventionen schert er sich nicht. In Lina findet Johann eine perfekte Verbündete: Sie ist eine unabhängige Frau und ihrer Zeit weit voraus. Und da Lina Jüdin ist und nicht konvertieren will, leben beide in wilder Ehe glücklich zusammen. Doch Johann wird immer mehr von Schuldgefühlen geplagt: Als zwölfjähriger Junge war er – ohne sich zu verabschieden – vor der Armut und Enge seines Elternhauses im Engadin geflüchtet. Ein Lottogewinn ist nun der Auslöser für eine Reise an den Ort seiner Kindheit: Sils Maria. Es ist Johanns zweite Flucht – diesmal vor dem Verlust der Erinnerung. – Isabelle Azoulay erzählt nicht nur die Geschichte einer unkonventionellen Liebe in einer politischen und gesellschaftlichen Umbruchzeit. Es ist auch ein Buch über den Wunsch nach Individualität und über die Angst, aus der Welt zu fallen.
SpracheDeutsch
HerausgeberElfenbein Verlag
Erscheinungsdatum15. Nov. 2016
ISBN9783941184954
Josty: Eine Liebe zwischen Berlin und Sims Maria

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    Buchvorschau

    Josty - Isabelle Azoulay

    kartoniert)

    I

    Johann

    Er dachte selten an Gott. Er achtete ihn zwar, in der Regel verließ er sich aber lieber auf sich selbst.

    Johann Josty geht über den Schlossplatz. Carolina hüpft ihm voraus, dunkle Locken, fünf Jahre. Er ruft ihr zu, sie solle in den Laden gehen. An der Stechbahn, schräg gegenüber dem Schloss, ist seine Konditorei. Er schaut seiner Tochter hinterher, ruft noch einmal, winkt. Er will ins Bankhaus. Er komme gleich, ruft er. Zwei Häuser weiter: das Bankhaus Jacquier & Securius. Allein die schwere Tür lässt nur Eigenwillige hinein.

    Vor zwei Wochen hat er aus Witz und Zerstreuung ein Lotterielos gekauft. Die Verkäuferin hat ihn charmant in ein Gespräch verwickelt, und Johann hat das Los gekauft, weil er gerne höflich parliert, er hat ja gesagt, um nicht nein sagen zu müssen. Johann ist reelle Werte gewohnt, und dass aus dem Nichts heraus große Summen kommen mögen, hält er für Spinnerei. Zu lange hat er auf seinen eigenen Fleiß setzen müssen, zu sehr ist er viele Jahre beharrlich gewesen, zu genau ist diese Rechnung aufgegangen. Und was geschah jetzt? Die Beiläufigkeit erlaubte sich, allen Fleiß der Welt zu überholen: Am 26. März 1810 zieht Johann das Los mit dem größtmöglichen Gewinn: hun­dertfünfzigtausend Taler, direkt, ohne Bedingungen, sofort abholbar, nebenan. Er hat gelacht und wieder gelacht, doch in die Flanke dieses Lachens hat sich ein unheimliches Gefühl geschlichen. Dieses Lachen ist ihm, kaum zu Hause mit sich allein, im Halse steckengeblieben. Er erzählt nur wenigen davon. Trotzdem weiß es jeder. Er fürchtet Neid. Glück hatte er schon vor dem Gewinn, also konnte dieses Zusatzglück nur zum Übermut verhelfen. Dass Gott im Spiel war und ihm die Anständigkeit und den unermüdlichen Fleiß reich belohnte, war ohne Zweifel, aber Johann fühlte sich zweifach belohnt, es machte ihn nachdenklich. Der Verkäuferin des unheimlichen Loses gab er ein üppiges Trinkgeld, beschenkte großzügig seine geliebte Lina und beschloss, eine Reise zu wagen. Die Reise.

    Eine große Summe möchte er mitnehmen. Nach Hause. Morgen früh will Johann diese Reise antreten. Er ist durch seine Geschäfte viel unterwegs, aber jetzt kommt es ihm so vor, als stünde seine erste große Reise an. Eine Reise, die ihm ein Rückweg ist.

    Vor fünfundzwanzig Jahren war er hierhergekommen. Zu Fuß – mit einer kurzen Ausnahme: In Landeck hatte er einer Postkutsche aus dem Graben geholfen und durfte dafür bis nach Ma­rienbad mitfahren. 1785. Frei, hungrig, neugierig, schwerelos.

    Seit langem ruhte der Wunsch in ihm, Sils, den Ort der Kindheit, wiederzusehen. Das ist ihm eine Gewissheit geworden. Wenn ihm in den letzten Jahren diese Reise als fernes, vages Vorhaben vorschwebte, so war das eine glückliche Vorstellung – aber nun? Wie lange will er bleiben? Einen Monat? Zwei? Den ganzen Sommer?

    Früher dachte er, irgendwann werde sich ein Grund, ein Anlass bieten, irgendwann werde das Leben reif genug sein. Mit zwölf Jahren war er davongelaufen, seitdem gab es keine Gelegenheit, die ihn zurückführte. Keine. Die ers­ten Kilometer war er wie ein Dieb gelaufen. Kaum über die Berge in Richtung Norden, hatte sich schon die Kindheit losgelöst. Endlich den Querriegel der Alpen überwunden, das Strenge, das Düstere, die Armut hinter sich gelassen. Er hatte sich nicht mehr umgedreht. Wie ein Fohlen davongaloppiert, ein paar Tage nach der Geburt, vorwärts, ohne Angst.

    Heute, am Vortag dieser Reise, schreckt er zurück. Hoch in die Alpen, noch höher, als das Auge reicht? Vor Ort war man dem Himmel ausgeliefert, und Johann erinnert sich, wie bedrohlich ihm dieser als Kind erschienen war. Das Leben war von der Natur so kurz gehalten, unendliche Winter hielten die Leute gefangen. Das hatte sich in sein Gedächtnis tief eingegraben. Sils: trostloser Krümel öden Wiesengrunds im tiefen Ende des Tals. Viele Jahre hatte sich seine Seele nicht darum gekümmert. Aber irgendwann begann sich in ihr etwas zu ­regen, scheu, vergessenes Findelkind der eigenen Jahre. Die Dichter kaprizierten sich darauf, gerade die rauen Alpentäler zu bemühen, um die aus der Welt verschwundene Unschuld zu be­den­ken. Narren! Johann wusste, dass diese Neigung nur Fremde ergrei­fen konnte, die es niemals vier Jahreszeiten dort ausgehalten hätten. An der Unberührtheit der Natur hatten be­reits einige die Fehlentwicklungen der Zeit zu messen vermocht. Johann hasste dieses kokette Bemühen der kargen Landstriche, um das Erhabene herbeizuzitieren. Es war doch nur der hilflose Versuch, mit der Fremdheit von Bergen zu hantieren, auf Kosten der Gebeugten, Durchgefrorenen, Faltigen. Seiner Leute.

    Johann hatte versucht seinen Geist daran zu gewöhnen, die Dinge von der guten Seite zu nehmen, und wollte das Wertvolle in ihnen finden. Aber im Schöndichten der rauen Natur raubte man seinen Leuten den Respekt. Das ging zu weit. Diejenigen, die im Besitz eines besseren Lebens waren, gar die im Besitz der Macht Befindlichen, sollten besser auf der Hut sein: Ihre Schwärmerei von der klirrenden Klarheit der Berge stand im Dienste der Ablenkung von ihrem wankenden Sockel.

    So war sein Blick auf die Dinge. Eine tiefe Traurigkeit hatte sich ihm zwischen Lunge und Herz gelegt. Gefühlskeusch hatte er viele Jahre über sein Weh zu Sils geschwiegen, viele Jahre lang.

    In Berlin lebt sich’s prächtig, eine sublim schöne Stadt. War er glücklicher, als er noch nicht wusste, ob ein Louisdor rund oder eckig ist? Keineswegs. Mit leeren Händen zurückkehren wie sein Vater, das war ausgeschlossen. Die Mutter war zwar von adligem Geschlecht: Sie entstammte der Familie Castelmur, so dass Bildung, Umsicht, Haltung an die Herkunft erinnerten. Aber Vermögen und Privilegien hingen nicht mehr daran.

    Johann ist nun siebenunddreißig Jahre alt. Nichts und niemand wird ihn jemals hinführen, nach Hause. Fast mit Starrsinn hat er bislang die Erinnerung an die frühen Jahre verscheucht, erfolgreich. Nichts und niemand wird ihn zufällig hinschubsen, er muss selbst entscheiden, zurückzuwollen, dort über die Alpen, an die letzte Kante vor Italien, ins Engadin, kurz vor dem Malojapass, nach Hause, nach Sils Maria.

    Zögerlichen Schrittes betritt er die Eingangshalle der Bank, dreht sich noch einmal um – noch kann er zurück, alles vergessen, die Idee dieser Reise tief vergraben, am bes­ten für immer. Johann bleibt stehen. Nein, das passt nicht zu ihm. Er ist nicht mehr in der Lage, so viel Versäumnis geduldig weiterzuschlep­pen. Er weiß zu gut um die jahrelange Sehnsucht, einmal zurückzukehren. Niemand sucht ihn, schließlich ist er doch kein Refugié, kein Mörder, der zum Tatort zurückschleicht. Nichts hat er verbrochen.

    Morgen früh wird er sich auf den Weg machen. Der Ex­trawagen wird auf ihn warten, es ist so weit. So viele Leben stehen zwischen Sils und Berlin, dass er sich trauen kann, der ­Kindheit ins Angesicht zu blicken. Alle hat er damals im Stich gelassen, Mutter und Großmutter, den klei­nen Michel, allen Kummer beschert, das konnte nach so viel Leben dazwischen ver­ziehen werden, so hofft er. Hat die Zeit den Stachel der Aufregungen stumpf werden ­lassen?

    Zuvorkommend wird er von einem servilen Bank­be­diens­teten begrüßt. Dieser Moment nimmt ihm die Zeit, seinen Zwei­feln nachzuhängen. Man bedient ihn mit freund­lichen Gesten, er ist ein gern gesehener Kunde. Viel Geld trägt er hierhin, denn seine Konditorei zwei Häuser weiter ist gut besucht, eine weitere am Potsdamer Tor ebenfalls, und an anderen Läden der süßen Branche ist er betei­ligt. Geschäftlich vif und sicher, hat er mit seinen merkantilen Mutproben gut gezielt. Die Lage der süßen Bran­che ist zu seinen Gunsten.

    Und noch eine Portion List dazu: Als Friederike von Berg, die adelige Hof­dame der Königin Luise, zum ersten Mal die Konditorei betrat, streckte er alle seine Fühler aus. Die sehr gebildete Hofdame redete ununterbrochen, zitierte Goethe, lach­te, probierte Johanns neuste Marzipankreation, und eine Pastete auch, und noch eine, und redete dabei wie ein Wasserfall, schließlich verschluckte sie sich, prustete und hustete heftig. Johann stand vor ihr. Klopft man einer Hofdame auf den Rücken? Johann hob sie knapp vom Boden hoch, ließ einen Stuhl bringen, Was­ser, trös­tete sie, hielt ihr die Hand, während sie wieder zu sich kam. Erschöpft lehnte sie sich zurück. Langsam fand sie Worte, um ihr Entzücken über diese neuen Gau­men­freu­den kundzutun. Johann nahm das Lob stolz an und stand angespannt, aber ruhig auf.

    »Was Ihrem Gaumen auf diese Weise schmeichelt, könn­te auch Königin Luise erfreuen.«

    Flink packte er seine besten Stücke ein, hoffte, dass die geschwätzige Hofdame nicht selber die Pasteten verdrückte, ohne die Königin davon kosten zu lassen. Glück hatte er: Sie soll die Pröbchen hoch gelobt haben, wurde Johanns Kundin. Der Hof liebt es, wenn einer die Vorlieben des preußischen Königshauses, und noch mehr die der Königin Luise, kennt. Sie ist eine junge anziehende Schönheit, deren Charme man sich kaum entziehen kann. Welche Delikatessen sie schätzt, merkt sich die weitere Hof­gesellschaft genau. Und die Hauptstadt liebt es, die süßen Extravaganzen des Hofes ebenfalls zu goutieren, und die Provinz eifert mit Vergnügen den Usancen der Hauptstadt nach. Voilà. Alle Gunst der Stunde für Johann. Die Umstände stärkten sein freudiges Temperament und auch seinen Durchsetzungswillen. Was er anfasst, floriert. Dabei ist er nicht wirklich ein Abenteurer, er ist – viel subtiler – ein Fuchs, eine Nase, ein hochsensibler Experimentierer, der, wenn es passt, schnell disponiert, dann ist er in seinem Element.

    Um wieder Land zu gewinnen, musste er in den ersten Jahren in Berlin mühsam den Gehorsam abschütteln, den ihm die lange Lehrzeit in Magdeburg aufgebürdet hatte. Der Engadiner Meister der Patisseriekunst und Wasserbrenner Fanconi, in Magdeburg niedergelassen, hatte ihn in die Lehre genommen. Johann wunderte sich: Die eigenen Leute waren überall. Er verlor keine Zeit, fing sofort an, und hatte dabei schlicht vergessen, dass auch sein Vater Zuckerbäcker gewesen war, in Triest. Nach kurzer Zeit wunderte er sich noch mehr: Bündner Konditoren waren überall. Noch in der Lehre schwebte ihm vor, diese Tatsache zu nutzen, Netze zu knüpfen.

    Johann machte einen guten Eindruck, man konnte auf ihn setzen, er wirkte zuverlässig. Als einer der wenigen begann er seine Lehre schuldenfrei. Viele hatten sich den geplanten Weg zum Meister finanzieren lassen und mussten ihre Reise mit dem mageren Lehrgeldlohn jahrelang ab­ar­beiten. Johann begriff rasch, »Fleiss und Thätigkeit« konn­ten sein Glück und sein ferneres Fortkommen schneller begründen. Er bekam sofort Kleidung und Wäsche, fühlte sich adrett, der Weg machte Sinn.

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