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Wanderfieber: 3392 Kilometer zu Fuss von Flumenthal nach Moskau
Wanderfieber: 3392 Kilometer zu Fuss von Flumenthal nach Moskau
Wanderfieber: 3392 Kilometer zu Fuss von Flumenthal nach Moskau
eBook410 Seiten5 Stunden

Wanderfieber: 3392 Kilometer zu Fuss von Flumenthal nach Moskau

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Über dieses E-Book

Nachdem Christian Zimmermann im Jahr 2016 mit einem Einkaufswagen den gesamten australischen Kontinent durchwanderte, konnte er sich am Ende der abenteuerlichen Reise nicht von seinem treuen Transportmittel trennen. Er war so begeistert von dieser Reiseform, dass er in Adelaide seine "Mrs. Molly the shopping trolley" kurzerhand nach Hause einschiffte.

Drei Jahre später verspürt der Fotograf wiederum das Wanderfieber. Er belädt sein Vehikel und macht sich Richtung Osten auf. Der Autor startet vor seiner Haustür in der Schweiz, durchquert acht Länder und absolviert zu Fuss über 30 000 Höhenmeter. Nach 3392 Kilometer und 111 Tagen marschiert Christian Zimmermann friedlich auf dem Roten Platz in Moskau ein.

Wo der Wanderer auch auftaucht, fällt er mit seinem Einkaufswagen auf. Täglich darf er unzähligen Menschen Auskunft über sein irrwitziges Unterfangen geben. Die überwältigende Gastfreundschaft, die er immer wieder erlebt, beeindruckt ihn so sehr, dass er die körperlichen Strapazen dieses Trips gerne in Kauf nimmt. In seinem spannenden, wie humorvoll geschriebenen Buch erzählt Christian Zimmermann nicht nur von seinem abwechslungsreichen Wanderalltag. Vor allem mit den kleinen und feinen Geschichten am Wegesrand nimmt er die Leser auf eine aussergewöhnliche Reise mit.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. Aug. 2020
ISBN9783347009370
Wanderfieber: 3392 Kilometer zu Fuss von Flumenthal nach Moskau

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    Buchvorschau

    Wanderfieber - Christian Zimmermann

    Wie es zu dieser Reise kam

    Als Fotograf und Vortragsreferent reise ich viel. Die letzten 15 Jahre war ich mehrheitlich in Europa unterwegs, meistens ziemlich konventionell mit Flugzeug und Mietwagen. So entstand der Wunsch, einmal wieder etwas Aussergewöhnliches zu erleben. Es musste ein Trip sein, bei dem ich mich mit eigener Muskelkraft von A nach B fortbewege. Ich erinnere mich gerne an solche Abenteuer: Zum Beispiel 1993, als mein Bruder Andreas und ich in 80 Tagen mit dem Kanu den gesamten Yukon River befuhren. 3200 km paddelten wir gemeinsam durch das wilde Kanada und Alaska. Alles, was wir zum Leben benötigten, bunkerten wir in unserer schwimmenden Nussschale. Oder die Fahrradtour 1997 durch Australien: Da strampelte ich nahezu 10 000 km auf meinem Drahtesel ab und erlebte Unglaubliches. Das gemächliche Tempo machten solche Trips zu sehr intensiven Erlebnissen. Diese bleibenden und positiven Erinnerungen inspirierten mich zu einer etwas besonderen Reise. Mit dem eher skurrilen Projekt «TransAustralia, 3059 km zu Fuss mit dem Einkaufswagen durch Down Under», wurde 2016 aus dieser Inspiration endlich Wirklichkeit. Da der letzte Aufenthalt in Australien schon zwei Jahrzehnte zurücklag, stand der Rote Kontinent ganz zuoberst auf der Wunschliste. Bereits dreimal erkundete ich dieses phänomenale Land: Einmal mit einem alten und pannenanfälligen Auto, das zweite Mal, wie erwähnt, mit dem Fahrrad und auf der letzten Reise war ich mit einem zuverlässigen Allradfahrzeug unterwegs. Deshalb blieb mir bei meinem vierten Trip beinahe nichts anderes übrig, als eine Tour zu Fuss zu planen.

    Ich gab mir vier Monate Zeit, fing zu rechnen an und kam auf eine Gesamtdistanz von 3000 km. 30 km pro Tag zurückzulegen, traute ich mir zu und so sollte es möglich sein, Ruhe- und Reservetage eingerechnet, pünktlich für den Rückflug das Ziel, Adelaide, zu erreichen.

    In meinem Bekanntenkreis wurde ich für verrückt erklärt. Niemand glaubte mir, dass ich diese wahnwitzige Idee durchziehen würde: «Das ist viel zu weit, zu gefährlich, zu heiss und überall lauern doch diese giftigen Tiere …» Ich liess mich aber von meinem Traum nicht abbringen. Stur verfolgte ich den krassen Plan. Bei der Recherche meiner persönlichen Expedition stiess ich unweigerlich auf den berühmten Stuart Highway. Diese Strasse verbindet Darwin im Norden, mit Port Augusta, respektive Adelaide im Süden des Lands. Der Gedanke, einen ganzen Kontinent zu durchwandern, beflügelte mich zusätzlich. Aber wie kann ich bis zu 30 Liter Trinkwasser, Proviant für jeweils zehn Tage und die vollständige Camping- und Fotoausrüstung transportieren? Ein Rucksack kam da definitiv nicht in Frage – viel zu schwer! Ich wälzte unzählige Ideen und verwarf sie wieder, bis plötzlich mein Bruder Andreas mit dem glorreichen Einfall kam: «Nimm doch einen Einkaufswagen, da hast du garantiert genügend Stauraum und du kannst diese fahrbaren Untersätze überall für einen Franken mieten …» Ich war so begeistert von dieser eigentlich ziemlich absurden Idee, dass ich mich spontan entschloss, es genauso zu machen!

    In Australien angekommen, besorgte ich mir einen Einkaufswagen. Nach einem kleinen Umbau machte ich mich auf, das Land der Aussies ganz allein und auf Schusters Rappen zu durchqueren. Nach zwei Wochen wurde ich in der Ortschaft Katherine von der berühmten «School of the Air» eingeladen. Diese Schule unterrichtet übers Internet Kinder auf abgelegenen Farmen. Bei diesem ungewöhnlichen Schulbesuch erzählte ich den Kids von meinem Alltag und was ich alles schon erlebte. Am Schluss erwähnte ich, dass mein Einkaufswagen noch namenlos sei. Nach einer zehnminütigen Diskussion kam unerwartet ein Vorschlag, der mich vom Sockel riss: «Mrs. Molly the shopping trolley», einfach grandios, nicht nur, weil es sich so schön reimt! Und ich hatte es ja geahnt, dass mein Wägelchen weiblich ist. Wir trafen sehr viele Menschen, die fast nicht glauben konnten, was sie da sahen. Mitten in der Wüste kam ihnen, wohl wie eine Fata Morgana, ein bärtiger Mann mit einem «shopping trolley» entgegen. So entstand auch schnell mein eigener Spitzname: «The Trolley Man». Auf diese Weise durchquerte ich also mit Mrs. Molly in 105 Tagen den ganzen Kontinent und wir überstanden gemeinsam unzählige Abenteuer. Vielleicht tönt es ein bisschen seltsam, aber ich baute in dieser Zeit eine innige Beziehung zu meiner rollenden Dame auf. Nicht nur aus diesem Grund konnte ich sie nach Abschluss der Reise in Australien zurücklassen. Völlig begeistert von dieser Reiseform, nahmen nämlich schon einige verrückte Ideen für weitere Einkaufswagen-Abenteuer Gestalt an! Deswegen wurde Mrs. Molly, unter Mithilfe von Freunden, in Adelaide eingeschifft. Sie schipperte in gut drei Monaten über Singapur bis nach Hamburg und kam anschliessend per Lastwagen in die heimatliche Schweiz. Danach fing ein unmöglicher Mailverkehr mit der Schweizer Firma an, die sich mit der Einfuhr beschäftigte. Nach einem schon fast lachhaften helvetisch-bürokratischen Aufwand konnte ich meine weitgereiste Lady im Zollfreilager abholen. Auf einer Palette aufgebockt und mit dünnem Plastik umwickelt, wurde mir Mrs. Molly nach ihrer mehrwöchigen Odyssee doch noch übergeben. In meinem Buch «TransAustralia» ist die vollständige Story der gesamten Reise detailliert nachlesbar.

    Zuhause war Molly für kurze Zeit die Attraktion. Meine Freunde wollten sie begutachten und nicht wenige drehten eine Proberunde. Wenn es die Möglichkeit gab, durfte mich mein Einkaufswagen auch zu diversen Events begleiten. Verschiedene Male nahm ich sie anlässlich der Live-Reportage «TransAustralia» mit auf Tournee oder sie konnte an einer viertägigen Messe als attraktiver Büchertisch herhalten. Zumindest bildete ich mir ein, dass Mrs. Molly diese besonderen Ausflüge immer sehr genoss.

    An einem kalten Herbsttag gingen wir sogar auf eine Wanderung. Gemeinsam mit drei Freunden spazierten wir gemütlich über 7 km zu einem Wirtshaus. Es versteht sich von selbst, dass nicht nur ich mit einem Einkaufswagen unterwegs war. Meine Begleiter «mieteten» ihre Exemplare bei einer bekannten Supermarktkette. Vor dem Abmarsch deckten wir uns mit überlebenswichtigem Proviant, sprich Bier und salzigen Snacks ein. Unsere kleine und aussergewöhnliche Karawane sorgte für ziemlich viel Aufsehen. Nach einem herrlichen Gaumenschmaus, inklusive Wein und Schnaps, ging es auf demselben Weg zurück. Böse Zungen behaupten noch immer, dass wir auf dem Nachhauseweg wegen unseren Schlangenlinien einige 100 Meter Strecke mehr bewältigen mussten.

    Bei einer anderen Gelegenheit missbrauchte ich Mrs. Molly als rollenden Kühlschrank. An meiner Geburtstagsparty füllte ich sie kurzerhand mit Eiswürfeln auf, um nicht nur alkoholfreie Getränke kühlzuhalten. Das hat auch prima funktioniert und Molly stand wieder einmal im Mittelpunkt des Geschehens! Diese Aktivitäten ebbten aber allmählich ab und der gutmütige und nicht mehr vollständig abstinente Einkaufswagen fristete in der Garage meistens ein eher gelangweiltes Dasein.

    Die Vorbereitung

    Im Jahr 2018 bemerkte Mrs. Molly, dass ihr Herr und Meister (damit bin ich gemeint), eine neue Idee mit sich herumtrug. Im Sommer begann ich den Einkaufswagen europatauglich umzubauen. Unter Mithilfe meines Nachbarn Ruedi wollte ich die verbreiterten Achsen in den Originalzustand zurückversetzen. In Australien, wo vieles ein bisschen grösser ist, war die Spurbreite von 80 Zentimetern optimal. Knappe 60 Zentimeter schienen mir für Europa angebrachter, um möglichst durch alle Türen zu passen. In Ruedis Werkstatt bockten wir Mrs. Molly auf. Funkenschlagend und schon fast brutal, schnitten wir mit dem Winkelschleifer ihre vier alten Räder ab. Anschliessend drehten wir Molly zum Schweissen um. Mit Schraubzwingen fixierten wir die neuen Teile millimetergenau. Vor allem bei den Bockrollen, also bei den starren Rädern am Bug, mussten wir sehr präzise arbeiten. Die müssen perfekt in der Spur stehen! Bei den hinteren Lenkrollen ist die Genauigkeit nicht derart wichtig, da die Räder mitdrehen können. Mit dem Elektroden-Schweissgerät zog Ruedi gekonnt Schweissnaht um Schweissnaht. Immer wieder hämmerte er die entstandene schwarze Schlacke weg, um seine Arbeit kontrollieren zu können. Bei Bedarf schweisste er ein wenig nach, bis die vier Rollen fehlerfrei befestigt waren. Mit der Drahtbürste reinigte er sorgfältig alle Schweissnähte. Zu guter Letzt sprayte Ruedi die bearbeiteten Teile mit einem grauen Korrosionsschutz ein, damit das Wägelchen keinen Rost einfängt.

    Bei dieser Gelegenheit gönnte ich meinem Gefährt auch eine neue Bereifung. Die alten, australischen Pneus waren nämlich völlig abgefahren und die Armierung kam teilweise zum Vorschein. Der Plan war eigentlich, von den geschäumten und pannenfreien Rädern auf luftgepumpte Exemplare zu wechseln. Ich versprach mir ein noch besseres Rollverhalten. Aus diesem Grund fuhr ich zu einer spezialisierten Firma im Kanton Aargau, die solches Material im Angebot hat. Die Frage, ob ich den Pneu bei einer Panne zum Flicken problemlos von der Felge kriege, wurde bejaht. Ich wollte mich aber persönlich davon überzeugen und bat deshalb den Werkstattmitarbeiter, mir einen Reifenwechsel vorzuzeigen. Dieser wollte das Rad kurzerhand in den Schraubstock einspannen, was ich ihm aber verbot, da ich dieses Hilfsmittel auf meiner Reise nicht zur Verfügung hätte. Ohne Schraubstock biss sich der Profi an der Felge, auch mit drei langen Metallhebeln, die Zähne aus. Die 20 Zentimeter Durchmesser des Pneus liessen sich von Hand einfach zu wenig dehnen, damit der Gummi über die Felge sprang. Wir stellten den Versuch ein und die Wahl fiel unweigerlich wieder auf die geschäumten Räder.

    Zusätzlich zur neuen Bereifung kleidete ich den Einkaufswagen wasserdicht aus. In Australien hatte ich nur die letzten paar Tage mit Regen zu kämpfen. Um Mrs. Molly und die Ausrüstung vor Nässe zu schützen, genügte mir da ein Stück weisses Plastik, das ich unterwegs im Strassengraben fand. Auf meinem geplanten Trip im Sommer 2019 rechnete ich mit etwas feuchterem Wetter. Aus diesem Grund wollte ich mich regensicher einrichten. Ein altes Stück Teichfolie musste für dieses Unterfangen herhalten. Das Zuschneiden der Folie stellte sich als eine ziemlich komplizierte Herausforderung dar, da der Korb von Molly überall konisch zuläuft. Ich kämpfte geraume Zeit bis die Falten eliminiert waren und das Teil passte. Mit Wäscheklammern fixierte ich die Folie rundherum am Wagen, schnippelte da noch ein Stück weg und werkelte geduldig an den Ecken herum, bis ich mit dem Resultat zufrieden war. Erst dann kam der PVC-Kleber aus dem Baumarkt zum Einsatz. Obschon ich diese Arbeit im Freien durchführte, benebelten mich die Dämpfe, so dass ich mich wie auf Wolke Sieben fühlte! Zusammen mit dem Deckel hoffte ich, einen dichten Stauraum geschaffen zu haben.

    Ein weiteres neues Gadget, das ich mir leistete, war ein Strandschirm. Das untere Rohr spannte ich mit mehreren Kabelbindern fix an Mrs. Molly. Die 150 Zentimeter Durchmesser des Polyesterschirms werden mich hoffentlich während des Marschierens vor Sonne und Regen schützen. Zusätzlich könnte ich einen Handgriff am Schirm montieren, um diesen auch konventionell zu nutzen. An den Lenker befestigte ich zudem eine Smartphone-Halterung, um beim Gebrauch der Navigation die Hände freizuhaben. Ein Schloss musste auch noch an den Wagen. Ich schraubte zwei dicke Ösen auf den Deckel, eine hinten, die andere vorne. Nun kann ich mit einem Stahlseil den Deckel sichern und mit einem Vorhängeschloss abschliessen. Bei Bedarf kann ich den Wagen zusätzlich mit einem handelsüblichen Fahrradschloss irgendwo anketten. Last but not least befestigte ich an der hinteren Gitterfläche drei 1,5 Liter PET-Flaschenhalterungen. Auf diese Weise werde ich das regelmässig benötigte Trinkwasser immer in Griffnähe haben. Und alles Material, das aussen befestigt werden kann, nimmt mir keinen kostbaren Platz im Innern weg.

    Sehr viel Zeit hatte ich auch in die Recherche der Routenwahl gesteckt. Wo genau sollte die Reise zwischen Flumenthal und Moskau durchführen?

    Die direkteste Strassenverbindung wurde mir im Internet mit 2654 km angegeben. Nach den 3059 km in Australien ist das ja ein Klacks, dachte ich mir! Doch auf Europas Autobahnen haben Mrs. Molly und ich definitiv nichts verloren. Darum richtete ich mein Augenmerk vorwiegend auf Fahrradwege. Bis nach Wien kann ich die berühmte «EuroVelo 6» der Donau entlang benützen. Da ist alles bestens ausgeschildert und wird die optimale Strecke zum Einlaufen sein. Nach Brünn in Tschechien und weiter ins polnische Krakau soll es noch einzelne andere Fahrradwege geben. Im weiteren Verlauf der Reise werde ich mich über möglichst verkehrsarme Seitenstrassen Richtung Norden schlängeln. Um Weissrussland werde ich einen weiten Bogen machen und viel lieber durch Polen, Litauen und Lettland marschieren. Dieses Teilstück wird voraussichtlich das Herausforderndste betreffend kluger Streckenwahl werden. Ab der russischen Grenze werde ich dann keine Auswahl mehr haben. Vorausgesetzt, dass mich die Zöllner in ihr riesiges Reich lassen, werde ich auf der Fernstrasse M9, ohne irgendwo abzubiegen, die 620 km bis in die russische Hauptstadt abspulen. Und hoppla – aus den ursprünglichen 2654 km sind nach der Feinplanung plötzlich 3400 km geworden – doch Mrs. Molly und der Trolley Man sind bereit!

    Bereit? Noch nicht ganz. Für Russland werde ich eine Einreisebewilligung benötigen. Das normale Touristenvisum wäre nur 30 Tage gültig, was rein theoretisch absolut ausreichen würde. Doch ich wusste natürlich nicht genau, wann ich an der Grenze auftauchen werde. Die Strecke der ersten drei Monate konnte und wollte ich nicht auf den Tag genau verplanen. Und ich hatte auch nicht vor, mich unter Druck zu setzen, um das tägliche Pensum hirnlos abzuarbeiten. Ich wollte das Abenteuer möglichst geniessen und auch immer spontan Zeit haben, um irgendwo einen Abstecher zu machen oder einen zusätzlichen Ruhetag an einem schönen Ort einlegen zu können. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als ein Geschäftsreisevisum zu beantragen, das drei Monate gültig ist. Ich wandte mich an eine spezialisierte Firma in Bern, die für mich das Administrative und die Gänge zur Botschaft erledigte. Das Prozedere war relativ simpel. Zuerst füllte ich den ausgedruckten Fragebogen aus. Den Versicherungsnachweis meiner Krankenkasse hatte ich schon vorgängig organisiert. Dort musste explizit die Deckung der Heilungskosten in Russland und auch die Rückführung im Krankheits- oder Todesfall bestätigt werden. Mit einem aktuellen Passfoto und dem unterschriebenen Fragebogen steckte ich meinen Pass in einen Briefumschlag und sandte ihn eingeschrieben nach Bern. Zwei Wochen später und um 260 Schweizer Franken erleichtert, kam der Pass mit dem russischen Visum auf dem Postweg zu mir zurück. Ich war definitiv bereit!

    Orte und Distanzen von Flumenthal nach Moskau

    Packliste Ausrüstung

    Wohnen

    ▪ 2 Mann-Kuppelzelt Exped

    ▪ Schlafsack Exped bis minus 10 Grad inkl. Seiden-Inlet

    ▪ Liegematte Therm-a-Rest inkl. Reparatur-Kit

    ▪ Campingstuhl Therm-a-Rest Treo Chair, kleines Kopfkissen

    Kochen/Reparatur/Diverses

    ▪ Kocher mit zwei 660 ml Gaskartuschen

    ▪ Feuerzeug, Schweizer Taschenmesser

    ▪ 2 Pfannen, je 1 Löffel klein/gross, Plastiktasse

    ▪ Geschirrtuch, Nähset

    ▪ 6 PET-Flaschen mit je 1,5 Liter Fassungsvermögen

    ▪ Kabelbinder, Schnur, Duct Tape, WD-40 Schmierspray

    ▪ 2 Gummi-Spannseile, Fahrrad-Kettenschloss, Schirm Ø150cm

    ▪ 4 wasserdichte Packsäcke, 3 Plastikboxen für Kleinmaterial

    ▪ 4 Reserveräder 200/50 für Einkaufswagen

    Bekleidung

    ▪ 2 Paar lange Trekkinghosen zum Zippen

    ▪ 3 T-Shirts, 1 langärmliges Shirt Odlo

    ▪ Wollmütze, Fingerhandschuhe

    ▪ Softshelljacke Mammut, dünne Daunenjacke Adidas

    ▪ 3 Paar Wandersocken, 3 Paar Unterhosen

    ▪ Regenhose und Regenjacke Adidas aus Gore-Tex

    ▪ Sonnenhut, Bandana, Sonnenbrille, Leuchtweste

    ▪ je 1 Paar Trekkingschuhe Salomon/ Trekkingsandalen

    Toilettenartikel

    ▪ Zahnbürste, Zahnpaste, Sonnencreme, Bodylotion, Deo

    ▪ Fusscreme, Duschgel, Schmerzmittel, Imodium

    ▪ Nagelschere, diverse Pflaster, Merfen-Spray

    ▪ Mückenspray, Wattestäbchen, Rasierschaum, Rasierklingen

    ▪ Frotteetuch, Waschlappen, Elastische Binde

    ▪ Toilettenpapier, Taschentuch

    ▪ kleine Pflanzschaufel für Outdoor- Toilettengang

    Foto/Film/Kommunikation

    ▪ 2 Gehäuse Fujifilm X-T3 mit 6 Akkus

    ▪ Objektive zu Fujifilm: 10-24 mm, 16-55 mm, 50-140 mm

    ▪ Aufsteckblitz

    ▪ Funkfernauslöser B.I.G.

    ▪ Reinigungsset

    ▪ Videokamera Sony mit 2 Akkus

    ▪ Drohne DJ Mavic Pro mit 3 Akkus

    ▪ GoPro Hero7 Black mit 2 Akkus

    ▪ 7 Klebehalterungen für GoPro

    ▪ Stativ Manfrotto mit Kugelkopf

    ▪ ASUS SSD Notebook

    ▪ 2 Samsung Portable SSD mit je 500 GB

    ▪ 1 externe Festplatte WD Elements 1 TB

    ▪ Fotorucksack Lowepro

    ▪ Weltstecker, 3fach Stecker, diverse Ladegeräte

    ▪ Smartphone, mobiler Hotspot Netgear Air Card 785

    ▪ Stirnlampe Black Diamond

    Proviantliste

    Frühstück

    ▪ Kaffeepulver, Teebeutel, Zucker

    ▪ Instant Porridge

    ▪ Nüsse, getrocknete Früchte, Marmelade, Honig

    Unterwegs/ Mittagessen

    ▪ Äpfel, Bananen, Aprikosen, Orangen

    ▪ Kuchen, Kekse

    ▪ Gesalzene Nüsse, Kartoffelchips

    ▪ Diverse Schokoladen- und Getreideriegel

    ▪ Brot, Käse, Salami, Karotten, Gurken, Tomaten

    Abendessen

    ▪ Konservendosen: Chili con carne, Thunfisch, Gulasch

    ▪ Nudelsuppen mit verschiedenen Geschmacksrichtungen

    Kalter Start

    Tag 1: Sonntag, 5. Mai 2019, 23 km (23 km)

    Pünktlich um 8: 30 Uhr klingelt es an der Haustür. Joel Grolimund vom Schweizer Fernsehen steht mit einem Lachen vor mir. Er wird mich für die Sendung «Glanz & Gloria» interviewen und mich beim Start mit der Kamera begleiten. Auch Radio 32 und die Solothurner Zeitung haben sich angemeldet. Wegen des Reisefiebers konnte ich die letzten zwei Nächte kaum schlafen und aus diesem Grund begrüsse ich den sympathischen Fernsehmann nicht gerade frisch und munter. Nach einem kurzen Briefing geht es an die Arbeit. Da das Thermometer gerade mal kalte fünf Grad anzeigt und dazu ein steifer Wind bläst, packe ich mich in die warme Daunenjacke ein. Joel filmt mich, wie ich meine Ausrüstung zusammenpacke und Mrs. Molly belade. In verschiedenen Interviews schildere ich mein Vorhaben. Die Zeit vergeht wie im Flug und schon tauchen die ersten Gäste auf unserem Hausplatz auf. Ab 10 Uhr ist eine einfache Abmarschparty organisiert und ich habe Freunde, Verwandte und Nachbarn eingeladen. Rasch hole ich Wein, Wasser, Most und Snacks aus dem Keller, damit ich die Besucher verköstigen kann. Unter dem Titel «Frühschoppen», also «geselliger Trunk am Vormittag», deklariere ich dieses Beisammensein! Es treffen stetig mehr Bekannte ein. Zwischen Radiointerview und Posieren für Fotos, versuche ich meine Freunde persönlich zu begrüssen. Mit allen möchte ich anstossen und ein paar Worte wechseln. «Hey Chris, hast du die Schneeketten für Mrs. Molly eingepackt?» Solche und ähnliche Sprüche muss ich mir an diesem eisigen Morgen einige anhören. Tatsächlich hat es bis in tiefe Lagen runtergeschneit und die Jurahöhen sind weiss eingepudert. Immerhin verspricht die Wetterprognose trockene Tage. Ich werde mit vielen kalorienhaltigen Geschenken aufgemuntert, damit ich mit genügend Energie und Power durch diesen «sibirischen Winter» komme. Der Einkaufswagen ist schon randvoll beladen, aber irgendwo werde ich auch für diese Fresspakete noch Platz in meiner rollenden Dame finden. Die Zeit ist viel zu kurz, um die Party richtig geniessen zu können. In der Bauchgegend macht sich langsam ein komisches Gefühl bemerkbar. Ich freue mich zwar ungemein auf das neue Abenteuer, aber der Abschied von meiner Partnerin und dem Rest der Schar fällt mir schwer. Für vier Monate werde ich nun von zu Hause weg sein. Ein letztes Posieren für den Fotografen, eine innige Umarmung mit meiner Liebsten und schon schiebe ich den Einkaufswagen über den Hausplatz. Mrs. Molly ist mit ihren 92 Kilogramm wieder schwer beladen, aber ich glaube, auch sie freut sich auf diese etwas längere Ausfahrt. Aus über 50 Kehlen klingen mir gute Wünsche und Anfeuerungsrufe entgegen und schon bin ich unterwegs. Ich weiss gar nicht, wie mir geschieht. Der Fernsehmann läuft vor mir her und filmt konzentriert. Er folgt mir für den ersten Kilometer, bis er genügend Material für die Sendung im Kasten hat.

    Martin, ein Freund aus Lehrlingszeiten, begleitet mich spontan die ersten 15 km bis zu seinem Wohnort Aarwangen. Wir folgen dem Fluss Aare auf der «Veloroute 5». Martin und ich haben uns schon lange nicht gesehen und deswegen sind wir in ein angeregtes Gespräch vertieft. In Bannwil schlägt er vor, den Fahrradweg zu verlassen. Auf dem Wanderweg auf der linken Seite sei es viel schöner und er kenne die Strecke, die habe er schon mit dem Velo befahren. Absolut kein Problem für so ein Wägelchen, meint er noch. Das stimmt ja auch für die ersten zwei Kilometer. Der kiesige Pfad wird aber immer schmäler und schmäler. Kräftezehrend holpern wir über knorrige Wurzeln durch den Wald. Der Pfad macht unvermittelt eine scharfe Linkskurve und staunend stehen wir doch tatsächlich vor einer steilen Treppe. Die Kinnlade fällt mir herunter und einen fragenden Seitenblick in Richtung meines Freunds kann ich mir nicht verkneifen. «Du bist doch der lokale Führer – und jetzt so was», frotzle ich. Schmunzelnd meint Martin, dass er sich an keine Treppe erinnern könne und überdies werde er dieses Jahr ja auch schon 50 Jahre alt, da verdränge man einiges! Trotz seiner cleveren Argumentation gibt es kein Zurück. Mein vergesslicher Freund packt hinten an und ich suche mir einen guten Griff auf Mollys Vorderseite. Mit einem enormen Kraftaufwand hieven wir den bleischweren Einkaufswagen keuchend die 30 Stufen hinauf. Obschon wir von der Anstrengung völlig ausgepumt sind, können wir uns vor lauter Lachen kaum erholen. Ich klopfe der sperrigen Mrs. Molly schnaufend auf ihren Deckel. Was denkt wohl sie über diesen schwierigen Beginn?

    Ja Christian, auch ich habe mir den Start unseres neuen Abenteuers anders vorgestellt. Du hast davon gesprochen, dass wir es gemächlich angehen werden. Und nun das! Auf unserem gemeinsamen Trip durch Australien hatten wir auf den 3059 km nie eine derartige Treppe als Hindernis zu überwinden. Nach wenigen Kilometern pfeifst du schon aus dem letzten Loch – wie sollen wir es so bis nach Moskau schaffen? Ich weiss, dass du mit einer schweren Erkältung gestartet bist und deine fiebrig glänzenden Augen sprechen Bände. Martin hatte keine Probleme, mich die Stufen hinaufzutragen, doch dich hat diese Anstrengung schon ziemlich ans Limit gebracht. Aber irgendwie hat es mir schon gefallen, von euch zwei Männern wie eine Sänfte raufgetragen zu werden. So darf es ruhig weitergehen!

    Nachdem wir uns beruhigt haben, geht es durch den Wald und nach weiteren 500 Metern stehen wir vor einer Rampe. Dieses Mal ohne Stufen, aber unwahrscheinlich steil, nass und schmierig! Ohne grosse Diskussion packen wir an. Ich mühe mich stossend auf der unteren Seite ab, während Martin gleichzeitig mit voller Kraft am Wagen reisst. Zwei oder drei Mal müssen wir eine Rast einlegen. Ich verkeile mich mit den Absätzen im Dreck, damit sich Molly nicht plötzlich selbstständig macht und den Hang runterpurzelt. Nachdem das «pièce de résistance» überwunden ist, lassen wir uns Zeit den Puls auf einen normalen Rhythmus sinken zu lassen. Und da kommt die Schokolade, die ich geschenkt bekommen habe, gerade richtig. Das gibt wieder Kraft und die restliche Strecke verläuft ganz entspannt. Entspannt auch deshalb, weil mich Martin für einige Zeit an den Holmen von Molly ablöst. Mit einem Augenzwinkern verabschiede ich mich in Aarwangen schweren Herzens von ihm. Jetzt bin ich definitiv auf mich allein gestellt. Und was habe ich aus unserer Treppen-Odyssee gelernt? Im Zweifelsfall werde ich in Zukunft lieber auf dem beschilderten Veloweg bleiben und auch einen Umweg oder ein bisschen Verkehr in Kauf nehmen. Treppen sind definitiv nichts für uns!

    In Wolfwil gönne ich mir eine halbstündige Siesta. Auf einer Parkbank mit Sicht auf den Fluss verpflege ich mich mit Banane und Schokolade. Unvermittelt fährt ein graues Auto vor und ein älteres Ehepaar steigt aus. Sie hätten mich eingangs des Dorfs beobachtet. Das ist doch der verrückte Kerl, der zu Fuss nach Moskau wandert, habe sie zu ihrem Mann gesagt. Deshalb haben sie postwendend das Auto geentert und sind mir hinterhergefahren. Wir unterhalten uns eine Weile und zum Abschied fragt mich die Dame schüchtern, ob sie ein Foto von mir und meinem Einkaufswagen machen dürfe. Klar darf sie. Sie zückt ihr Smartphone und brav posieren Molly und ich. Nach der Verabschiedung packe auch ich zusammen und nehme die nächsten paar Kilometer unter die Füsse. Es ist noch immer bitter kalt und die Wollmütze bleibt definitiv den ganzen Tag auf dem Kopf. Die Route verläuft mehrheitlich im Wald. Hier treffe ich eine vierköpfige Familie auf ihrem Sonntagsspaziergang. Was hat ein Einkaufswagen im Wald zu suchen, scheinen Mutter, Vater und die Kinder staunend zu denken. Gerne kläre ich sie auf. Sie können nicht glauben, was ich vorhabe, wünschen mir aber trotzdem eine gute Reise.

    Langsam werden die Beine schwer. Ich spüre jeden Knochen in meinem Körper. Nach läppischen 23 km fühle ich mich leer, schlapp und ausgebrannt. Im Wald zwischen Fulenbach und Boningen habe ich genug. Ich finde einen Grillplatz, der mir sogar einen rustikalen Tisch mit Bänken bietet. Wild campieren ist in der Schweiz und in weiten Teilen Mitteleuropas eigentlich verboten, aber das ist mir egal. Schnell ist das Zelt aufgestellt. Auf dem Gaskocher wärme ich mir lustlos eine Nudelsuppe und streiche mir dazu ein Sandwich, das ich grosszügig mit Salami und Käse belege. Nach dem Essen scheint die Welt wieder einigermassen in Ordnung zu sein. Während ich diese Zeilen schreibe, frieren mir die Finger schier ab und deswegen verziehe ich mich schon kurz nach 20 Uhr in mein behagliches Nest.

    Bekannt wie ein bunter Hund

    Tag 2: Montag, 6. Mai 2019, 28 km (51 km)

    Ich habe sehr schlecht geschlafen. Ich benötige immer einige Tage, um mich an die relativ harte Matte und den Schlafsack zu gewöhnen. Es ist noch dunkel und ich liege für eine Stunde im herrlich warmen Bett. Es ist ruhig, nur in der Ferne kann ich das leise Rauschen der Autobahn hören. Genau um 5: 15 Uhr fangen die ersten Vögel zu zwitschern an, wie um mir zu sagen, dass ich meine müden Knochen aus dem Schlafsack schälen sollte. Das mache ich dann auch eine halbe Stunde später. Ich komme nur sehr schwer in die Gänge. Ich fühle mich noch immer schlapp und der starke Husten fördert unappetitliche Mengen grünen Schleim aus dem Hals. Der heisse Kaffee bewirkt Wunder und mit dem kochenden Wasser rühre ich auch den Porridge an. Den Haferbrei verfeinere ich mit getrockneten Früchten und Nüssen. Mein Appetit scheint das einzige Gesunde an mir zu sein und ich verschlinge mit Heisshunger die stolze Portion. Ein Raureif liegt auf den Pflanzen und ich wärme die klammen Finger an der heissen Tasse. Eine Stunde später ist das Camp abgebaut und Mrs. Molly beladen. Sicherheitshalber kettete ich sie über Nacht, fünf Meter neben meinem Zelt, mit dem Fahrradschloss an einen Baum. Das erscheint jetzt sogar mir ziemlich grotesk und übertrieben. Wer will schon mitten im Wald einen Einkaufswagen klauen? Aber man kann ja nie wissen – sicher ist sicher. Während der Nacht fand übrigens die gesamte Ausrüstung im Zweimannzelt Platz.

    Die ersten Kilometer führen mich gemächlich durch den Wald. Im Dorfzentrum von Boningen treffe ich zwei Bauarbeiter. Einer fährt mit seinem Bagger gerade über die Strasse. Er fällt um ein Haar aus seiner Baumaschine, als er mich erblickt. «Bist du nicht der verrückte Kerl, der zu Fuss nach Moskau läuft? Ich habe die Story gerade eben im Radio 32 mitbekommen!» Sein Arbeitskollege

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