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Der meergrüne Tod
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eBook423 Seiten5 Stunden

Der meergrüne Tod

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Über dieses E-Book

Leon Walters, Chefredakteur des Koblenzer Tageskuriers, ein unverbesserlicher Morgenmuffel, ansonsten gutmütig, hilfsbereit und voller Engagement stolpert in seinem zweiten Fall mitten hinein ins pralle Drogenleben.
Während seiner Recherchen stößt Leon Walters auf den Manager eines Pharmakonzerns, dem es nicht nur um Geld, sondern vor allen Dingen um Macht, gesellschaftlichen Einfluss und Sex geht. Auf einer Irlandreise entdeckt er, dass aus harmlosen Algen tödliches Gift produziert wird. Leon Walters gerät dabei in akute Lebensgefahr. Wird es ihm gelingen, die Gefahr zu überwinden und die Machenschaften aufzudecken?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum20. Nov. 2016
ISBN9783741868740
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    Buchvorschau

    Der meergrüne Tod - Hans-Jürgen Setzer

    Der meergrüne Tod

    Hans-Jürgen Setzer

    Copyright © 2016 Hans-Jürgen Setzer, Kirchweg 13, 56244 Maxsain

    Lektorat: Autorenteam Ellen Heil und Karin Kuretschka

    All rights reserved.

    ISBN-13: 978-3-7418-6874-0

    Auf ein Neues

    Leon Walters schlürfte den letzten Rest aus seiner Kaffeetasse und machte sich, wie jeden Morgen, missmutig auf den Weg zu seinem Platz im Großraumbüro des Koblenzer Tageskuriers. Er hatte nicht besonders gut geschlafen. Doch das war nicht wirklich neu für ihn. Zu viele Gedanken gingen ihm in den letzten Wochen abends und nachts durch den Kopf. Abschalten wurde immer schwerer für ihn.

    Morgens quälte er sich aus dem Bett. In der ersten Stunde seiner Tage war er sehr müde und hierdurch übelgelaunt. Mitmenschen, die ihm in die Quere kamen, mussten dies in der Regel teuer bezahlen.

    „Und das mit Anfang 40. Wie soll das die nächsten Jahre weitergehen? Einige Jährchen bis zur Rente werde ich weiterhin durchhalten müssen, dachte Leon Walters und bestieg seinen Firmenwagen. „Jedenfalls, wenn ich sie eines Tages und hoffentlich wohlverdient erlebe. Bei diesem Satz musste er allerdings selbst über sich schmunzeln.

    „Koblenzer Tageskurier – Wir bringen es morgens und auf den Punkt, konnte jeder auf der Außenreklame des Wagens lesen. „Ach, schon wieder die ganze City verstopft. So ein Mist. Immer muss das mir passieren, brummelte er vor sich hin. „Das gibt vermutlich einen Rüffel vom Chef, dem alten Paffrath, wenn ich schon wieder zu spät komme." Das morgendliche Jammern des Leon Walters, gute Freunde und Kollegen wussten das, verging jedoch meist schnell. In der Regel konnten sie sich darauf verlassen, dass abends derselbe Leon bereit wäre, im Umkreis von Koblenz Pferde mit ihnen oder für sie zu stehlen. Hier gab es bisher wenige Ausnahmen. Gestern Abend war so eine.

    Am Vortag hatte er einen emotional sehr aufwühlenden Fall endlich abschließen können, als sich durch einen Telefonanruf bereits der nächste ankündigte. Gestern war hierfür wirklich kein guter Tag. Er war zu geschafft, um gleich die neuen Recherchen aufnehmen zu können. Erst einmal wollte er einfach schlafen und genau das hatte er bisher, sehr zu seinem Bedauern, nicht tun können.

    Im Großraumbüro seiner Redaktion herrschte geschäftiges Treiben. Die meisten Kollegen und Kolleginnen schienen gut gelaunt und sogar in dieser Herrgottsfrühe bereits fleißig. Leon kam an einigen freundlich grüßenden und lächelnden Mitstreitern vorbei. Er brummelte leise vor sich hin und fand diese gute Laune am frühen Morgen unbegreiflich und unerträglich.

    Heute führte ihn sein erster Weg, nachdem er die Aktenmappe auf seinem Schreibtisch deponiert und seinem Schreibtischnachbarn von der Sportredaktion, nach einem kurzen Zunicken, einen übel gelaunten Blick zugeworfen hatte, zum Fahrstuhl. Er wollte seinem Chef, dem Zeitungsverleger Alexander Paffrath, im obersten Stock einen Besuch abstatten. „Bing, öffnete sich die Fahrstuhltür mit einem schrillen Glockenton. Dasselbe „Bing ließ die Ankunft am Ziel erkennen.

    „Guten Morgen, Herr Walters, das ist ja eine seltene Ehre", rief ihm die Chefsekretärin von Weitem entgegen.

    „Na, ob das wirklich eine Ehre ist? Seien Sie ehrlich, Sie sind sicher froh, wenn Sie mich wieder von hinten sehen, oder? Leon wechselte dabei langsam von seinem Brummelton zu seinem Flirtton. „Bei so einer hübschen Frau stehen die Besucher bestimmt Schlange, fügte er an.

    „Nicht, wenn sie vor dem Zimmer des Verlegers sitzt, sagte sie lachend. „Was kann ich für Sie tun, Herr Walters?

    „Na, wenn ich mich nach hier oben verirre und ausnahmsweise einmal nicht Ihr bezauberndes Lächeln bewundern möchte, suche ich meistens den Chef."

    „Das tut mir sehr leid für Sie. Er hat sich eben telefonisch für den Rest der Woche abgemeldet. Er sei krank und müsse sich erst einmal auskurieren."

    „Auweia, vermutlich ist ihm das alles doch näher gegangen, als ich dem Alten zugetraut hätte", sagte er leise.

    „Was meinen Sie?"

    „Ach, nichts. Wenn er anruft, bestellen Sie ihm viele Grüße und gute Besserung."

    „Das werde ich gerne tun. Schönen Tag noch, Herr Walters."

    „Den wünsche ich Ihnen auch."

    Leon ging nachdenklich zurück zum Aufzug, fuhr nach unten und ging an seinen Platz. „Also hatte der Alte vermutlich, genau wie er selbst, nicht gut geschlafen." Sie hatten gemeinsam einige Recherchen zum Abschluss gebracht, die sie beide sehr aufgewühlt hatten. Das passierte hin und wieder selbst den alten Hasen in seiner Branche, dass ein Fall an die Nieren ging. Auf Leon wartete inzwischen neue Arbeit.

    „Also, frisch ans Werk", dachte er und fuhr seinen Rechner hoch, um die Emails zu checken.

    „Sag mal, wer hat eigentlich bei dir so schnell den Schalter umgelegt, Leon?, fragte sein Nachbar von der Sportredaktion. „Eben noch hast du mich mit deinem Blick fast umgebracht und jetzt plötzlich strahlst du wieder?

    „Dieses Geheimnis möchte ich gerne für mich behalten, lieber Kollege. Sag mal, für einen Sportreporter sitzt du allerdings ziemlich viel hier drinnen dumm rum. Wann schafft ihr eigentlich mal wirklich etwas?" Leon wollte das Gespräch gerne auf etwas möglichst Sinnloses lenken. Auf Kommentare zu seiner Eigenschaft als Morgenmuffel hatte er keine Lust. Wo er für heute zum Glück gerade wieder die Kurve gekriegt hatte.

    „Hast du in deinem Leben mal irgendjemand um diese Zeit genau den Sport machen sehen, der die Leser interessiert?", fragte der Kollege.

    „Na, da hast du natürlich auch wieder recht", sagte Leon.

    „Und was macht der Lokalteil am frühen Morgen?", wollte der Kollege wissen.

    „Den nächsten ganz, ganz großen, lokalen Skandal mit Recherchen vorbereiten, natürlich. Was sonst? Leon schaute auf seinen Bildschirm und überflog die Emails. „Nichts Interessantes, dachte er.

    „Hat der Hund vom Bürgermeister Flöhe? Oder was gibt es so an der Front am vierten Mai?" Der Kollege ließ einfach nicht locker.

    Das Gespräch wurde Leon wirklich langsam zu blöd. Er antwortete einfach nicht mehr und tat sehr geschäftig. Das war für diesen Kollegen das beste Patentrezept, wie Leon aus langjähriger Erfahrung wusste. Er fand in seinem Postfach tatsächlich eine Email von jener Dame, die gestern Abend noch zu später Stunde auf seiner Durchwahlnummer angerufen hatte.

    Email von Jennifer Koch an Leon Walters:

    „Wie gestern bereits telefonisch mit Ihnen verabredet, möchte ich das Treffen um 11:00 Uhr vor dem Haupteingang am Koblenzer Schloss noch einmal bestätigen. Bitte kommen Sie, Herr Walters. Sie sind die letzte Hoffnung für meinen Sohn und mich."

    „Viel weiß ich bisher leider nicht. Drogen beim Sohn, von einer Mafia sprach sie und hieß Jennifer Koch. Schauen wir einfach einmal, was wir über die gute Dame herausfinden."

    Er tippte den Namen in eine Suchmaschine und fand einige Treffer in Communities. Es war Mode, sich mit Freunden, Klassenkameraden, Gleichgesinnten auf solchen Internetportalen zu treffen beziehungsweise sein Profil online zu stellen. Auf diese Weise sollten sich Menschen mit gleichen Interessen oder alte Freunde zusammenfinden. Andererseits ließen sich diese Seiten natürlich prima von solchen Menschen nutzen, die etwas über andere herausfinden wollten, ohne diese zu fragen. Und das kostenlos, heimlich und nicht immer mit guten Absichten.

    Da hatte die Dame mit Leon jedoch echtes Glück. Er wollte ihr helfen. „Jennifer Koch, 45 Jahre, einen 16-jährigen Sohn, alleinerziehend. Hobbys: Gleitschirmfliegen – hoppla, Reisen, Kriminalromane, las er sich vor. Fast täglich schien sie online zu sein und war vernetzt mit 1.274 Freunden oder das, was in einer Community eben als solche bezeichnet wurde. Vielleicht sammelte sie nur möglichst viele Kontakte, um gut dazustehen. Ein Foto zeigte eine jung gebliebene Dame mit langem, offenem brünettem Haar, die lächelte. Sie hatte sicher mindestens die Hälfte der Freunde allein durch das Foto, wie Leon feststellen konnte. Im Fotoordner waren einige Familienfotos der letzten Urlaubsreise zu sehen. Es könnten die Malediven gewesen sein. Palmen, herrlich blauer Himmel, blaugrünes, leuchtendes Wasser und schneeweißer Strand. Mutter und Sohn standen Arm in Arm und lächelnd vor der Kamera. Leon stellte sich vor, wie sie einen Einheimischen gebeten hatten, das Foto zu machen. Er konnte förmlich das Wasser, den tollen Strand und die Sonne spüren und träumte sich einige Sekunden aus dem Büro. Er druckte einige Fotos auf seinem Laserdrucker aus und steckte sie in seine Aktenmappe. „Wer weiß, wozu es gut ist, sagte er sich.

    „Na, willste Urlaub buchen, Walters? Oder stöberst du wieder mal auf den Kontaktseiten im Internet?", fragte der nette Kollege vom Sportteil. Leon kam ruckartig von seiner Insel zurück in die Realität.

    „Könntest du dich um deine eigenen Recherchen kümmern, lieber Kollege? Vielleicht schiebst du beispielsweise den Aufstieg der Koblenzer Fußballer an, damit du deinen geliebten Beförderungsschreibtisch am hellen Fenster da hinten endlich beziehen kannst." Dabei grinste er den Kollegen frech an und wandte sich gleich wieder seinem Bildschirm zu.

    „Blödmann", hallte es von nebenan.

    „Danke, du mich auch", antwortete er in einem Tonfall, dem zu entnehmen war, dass das alles nicht wirklich ernst und böse gemeint war.

    Leon spürte, wie ihm so langsam die Decke auf den Kopf fiel und er fuhr den Rechner wieder runter, schnappte sich seine Jacke und die Aktenmappe und ging in Richtung Fahrstuhl. Völlig in Gedanken nahm er den Weg zu seinem Dienstwagen in der Tiefgarage. Erschreckt über sich selbst, merkte er, wie er fast in Trance den ganzen Weg zurückgelegt hatte, ohne irgendetwas oder irgendwen wahrzunehmen. So langsam würde es einmal Zeit für einen Urlaub. „Die Malediven wären ja ganz schön, dachte er, sich gedanklich noch einmal an die Urlaubsfotos erinnernd. Doch das Buchen allein kostete ihn bereits Überwindung, so ganz ohne Begleiterin. Er dachte unwillkürlich an seinen letzten Urlaub auf den Seychellen und den dortigen Urlaubsflirt. „Wie hieß sie noch gleich? Yvonne, Yvette? Na ja, egal. Heute Abend werde ich einmal nach Urlaubsreisen im Internet schauen, nahm er sich fest vor.

    Seinem Hungergefühl folgend, würde er erst einmal ein kleines zweites Frühstück zu sich nehmen und dann gestärkt das geplante Treffen ansteuern.

    Er fuhr mit seinem Fahrzeug auf den Parkplatz eines kleinen Cafés am Rheinufer und schlenderte zu einem Tisch im Freien.

    „Was darf es sein, für den Herrn?", fragte eine junge, hübsche Kellnerin und lächelte dabei fröhlich.

    „Sie lächeln so gewinnend, dass ich Ihnen blind vertraue. Bringen Sie mir einfach Ihr Empfehlungs-Überraschungsfrühstück", antwortete Leon und wartete gespannt auf ihre Reaktion. Er liebte diese kleinen Spielchen mit Menschen, vor allem, wenn sie weiblichen Geschlechts waren.

    „Ich hatte heute Morgen frittierte Grashüpfer auf einem Ameisen-Schnecken-Geleebett", kam schlagfertig ihre Antwort.

    Leon verzog das Gesicht. „Klingt lecker. Der Tag verspricht ja interessant zu werden", sagte er und lächelte verschmitzt.

    „Der Koch sagt leider, das wäre für heute aus. Nein, jetzt mal im Ernst, was darf ich denn bringen?"

    „Sie haben gewonnen, junge Dame. Bringen Sie mir ein Frühstücksei, zwei Brötchen mit Wurst und Käse und ein Kännchen Kaffee. Das hätten Sie mir mit Ihrer Sach- und Menschenkenntnis sicher empfohlen, oder?"

    „Na klar. Gerne." Sie ging zurück zum Eingang des Cafés.

    „Und einen frisch gepressten Orangensaft!", rief Leon hinterher.

    „Kein Problem, wird geliefert", sang die Kellnerin fast.

    An dem Nachbartisch setzte sich eine Dame, minimal älter als er und nachdem Leon grübelte, woher er sie kannte, schoss es ihm wie ein Gedankenblitz durch den Kopf: „Jennifer Koch".

    „Welch ein Zufall, sagte er. „Sind Sie nicht Frau Koch?

    Die Dame zuckte förmlich zusammen. „Ja, aber …"

    „Walters, Leon Walters, Koblenzer Tageskurier. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach anspreche und wie ich bemerkt habe, habe ich Sie damit ganz schön erschreckt."

    „Ja, ja. Wie haben Sie mich überhaupt erkannt?"

    „Ein guter Reporter weiß alles oder sagen wir es etwas bescheidener, fast alles, lächelte er. „Darf ich Sie zu einem Frühstück einladen? Leider habe ich schon bestellt. Aber die freundliche junge Dame kommt sicher gleich wieder, sagte er.

    „Gerne, ja, dann könnten wir vielleicht gleich hier …?, fragte sie ein wenig verunsichert. „Ich dachte, ich trinke vor unserem Termin noch einen Kaffee und das Schloss ist ja gleich um die Ecke. Auf alle Fälle wollte ich pünktlich sein.

    „Stärken wir uns erst einmal, dann geht sicher alles ein wenig leichter. Möchten Sie hier oder lieber an einem anderen Tisch Platz nehmen?"

    „Nein, Ihr Tisch ist völlig okay." Sie setzte sich und schaute etwas betrübt unter sich.

    Der nächste Fall

    Die nette Kellnerin brachte für beide das gleiche Frühstück. Während sie ihre Brötchen schmierten, belegten und aßen, begann Jennifer Koch ein wenig zu erzählen.

    „Wissen Sie, ich habe mich immer bemüht, eine gute Mutter zu sein. Nach dem Tod von Julians Papa sicher noch mehr. Ich habe versucht, ihm Vater und Mutter gleichzeitig zu sein. Natürlich geht das nicht, wie mir im Laufe der Zeit immer klarer wurde. Doch das jetzt …" Sie weinte.

    Leon reichte ihr ein Taschentuch.

    „Entschuldigen Sie."

    „Ach was, das ist völlig in Ordnung. Er nahm tröstend ihre Hand und sie schaute ihn freundlich an. „Was ist denn nun eigentlich passiert?, nahm er das Gespräch wieder auf.

    Ihr Gesicht wechselte wieder ins Sorgenvolle.

    „Gegen Ende der Grundschulzeit ging das alles los. Als Julian in der dritten Klasse war, hatte sein Vater einen Unfall. Er war ja nie viel zu Hause. Für einen Maschinenbaukonzern war er in der ganzen Welt auf Montage. Alle paar Wochen war er mal für eine knappe Woche auf Heimaturlaub. Manchmal sind wir auf Firmenkosten für einige Tage ins jeweilige Einsatzland geflogen und haben ihn dort besucht. Julian war diesbezüglich also gar nicht übermäßig verwöhnt. Eines Tages kam jedoch tatsächlich die immer wieder befürchtete Nachricht.

    Ein Vorgesetzter von Achim kam und klingelte. Da wusste ich schon, dass etwas nicht stimmte. Achim war unter einen großen Stahlträger geraten. Mit den Sicherheitsvorschriften haben die es am Ende der Welt oft nicht so genau genommen. Das hatte Achim häufig erzählt und bescherte mir natürlich die eine oder andere Sorge. Anfangs regte es ihn sogar selbst noch auf, doch irgendwann kapitulierte er und arbeitete nach deren lockeren Regeln. Heute muss ich sagen: Leider gab er dort seine Zwänge auf, die mich sonst gewaltig an ihm nervten. Einige Tage konnte ich es Julian einfach nicht sagen. Doch die Beerdigung rückte näher und ich musste dann …" Sie weinte erneut. Leon strich ihr ein wenig über den Rücken. Es schien ihr nicht unangenehm zu sein.

    „Ich verstehe. Sie haben schwere Zeiten hinter sich", sagte Leon.

    „Oh ja. Wir haben das alles gemeinsam miteinander durchgestanden und ich weiß manchmal nicht, wer wem mehr Stütze war. Irgendwie konnte Julian hierdurch nie so richtig Kind sein, glaube ich heute. Er war mehr ein Ersatzpartner. Auch wenn ich oft versucht habe, dies unter allen Umständen zu verhindern. Automatisch lief es immer wieder ein wenig darauf hinaus."

    „Sie sprachen vorhin von Drogenproblemen." Leon versuchte, wieder auf das eigentliche Thema zurückzulenken.

    „Lassen Sie mich erst einmal weitererzählen", sagte sie und verdeutlichte hiermit ihr Bedürfnis, mit irgendjemandem einmal darüber reden zu müssen.

    „Klar." Leon nickte dabei verständnisvoll.

    „Julian wurde gegen Ende der Grundschulzeit ständig zappeliger und unkonzentrierter. Die Lehrer bestellten mich immer häufiger in die Schule oder riefen zwischendurch an und baten mich, mit Julian zu einem Kinderpsychologen oder einem Psychiater zu gehen. Glauben Sie mir, das war ein Schock für mich. Mein einziger Halt, weshalb ich überhaupt noch das Leben ertragen konnte, sollte krank sein, gestört oder wie auch immer Sie das nennen wollen. Und natürlich machte ich mir sofort Vorwürfe. War ich das? Habe ich ihn überfordert?"

    „Das kann ich mir vorstellen", sagte Leon.

    „Haben Sie Kinder, Herr Walters?"

    „Nein."

    „Glauben Sie mir, dann fällt es schwer, das in der ganzen Tragweite nachzuvollziehen. Wenn mit Ihrem Kind etwas ist, das tut viel mehr weh, als wenn Sie selber etwas Schlimmes hätten. Na, jedenfalls kam dann natürlich raus, Julian hätte ADHS. Sie wissen, was das ist?"

    „Ja, ich denke schon: Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom."

    „Genau, so nannte man das lange Zeit. Mir wurde dann auch sehr schnell ein Medikament empfohlen. Der Kinderpsychiater sagte, niemand hätte Schuld an diesem Problem. Es sei eine Stoffwechselstörung, wie zum Beispiel Diabetes. Mit dem Medikament würde alles besser. Ich sollte mir keine Sorgen machen. Also bekam Julian ein Medikament, das ganz neu auf dem Markt war und genau das Stoffwechselproblem beseitigen sollte: Infantocalm. Tatsächlich merkte ich, wie er ruhiger wurde und die Lehrer sagten ebenfalls, es wäre eine deutliche Besserung eingetreten. Er sei konzentrierter und störe nicht mehr den Unterricht."

    „Ja, das wurde viele Jahre lang immer häufiger diagnostiziert und genau so behandelt, wie bei Ihrem Sohn, soweit ich das mitbekommen habe."

    „Doch ganz geheuer war mir das nicht, meinem Kind ständig ein Medikament, nahe verwandt mit drogenähnlichen Substanzen, zu verabreichen. Ich wurde immer wieder unsicher. Als es dann in der Schule einigermaßen zu laufen schien, und er 15 Jahre war, beschloss ich: Jetzt reicht es. Wir versuchen es ohne Medikamente."

    „Und hat es funktioniert?", fragte Leon.

    „Es schien jedenfalls zunächst so. Wir gingen ganz langsam mit dem Infantocalm in der Dosis runter und setzten es dann ab. Julian blieb genauso, wie vorher. Bis ich dann vor Kurzem entdeckte, dass Julian … Wieder musste Jennifer Koch weinen und stockte. „Julian probierte alle möglichen Drogen aus und ich bekomme ihn nicht mehr davon weg. Wir haben seither riesigen Ärger miteinander. Er hängt immer mit denselben Kumpels ab und die hängen natürlich genauso in den Drogenproblemen drin. Er bräuchte einfach einen anderen Umgang. Ich habe mit seiner Klassenlehrerin gesprochen. Sie sagte mir, ihr sei aufgefallen, dass er in seiner Gefühlswelt für sein Alter viel zu kindlich geblieben sei. Konflikte mit den Klassenkameraden halte er kaum aus und er könne sich einfach nicht altersgemäß wehren, wirke dann hilflos, habe sogar häufiger geweint. Seine Lösungen sind offensichtlich die Drogen und seine Kumpels machen es genauso. Andere männliche Vorbilder hat er leider keine. Zu den Psychiatern habe ich inzwischen natürlich ebenfalls kein Vertrauen mehr. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.

    „Okay, das ist ein ganz schöner Brocken, den Sie da zu schlucken hatten und haben."

    „Das können Sie laut sagen."

    „Was ich bisher nicht verstehe, ist, wie ich Ihnen helfen könnte." Leon schaute sie fragend an.

    „Die Drogen kriegen sie sogar in der Schule auf dem Pausenhof. Damit wird natürlich ein riesiges Geschäft gemacht. Niemand unternimmt etwas. Alle schauen nur hilflos zu. Ich habe eine Scheißwut und könnte kotzen, entschuldigen Sie den Ausdruck. Wenn Sie einen Artikel über die Drogen an den Schulen in Koblenz verfassen würden, dann müsste die Schule langsam aufwachen und etwas unternehmen oder die Polizei oder egal wer. Hauptsache die Drogen kommen weg. Wenigstens die nachfolgenden, jüngeren Kinder sollen nicht dasselbe durchmachen müssen."

    „Alles klar, dann verstehe ich, was Sie meinen. Natürlich muss ich mir in der Sache erst einmal weitere Informationen beschaffen, recherchieren und kann nichts versprechen. Das scheint mir ein sehr heißes Eisen zu sein."

    „Bitte, Herr Walters, glauben Sie mir, ich weiß nicht mehr weiter, sonst würde ich nicht die Presse um Hilfe bitten."

    „Ich sehe, was ich machen kann. Sie hören von mir."

    Sie tranken die letzten Reste ihres Kaffees aus und verabschiedeten sich.

    „Arme Socke, dachte Leon. „Sie hat ganz schön was hinter sich.

    Erste Recherchen

    Leon überlegte, wie er weiter verfahren könnte. Was gäbe es in diesem Fall überhaupt zu recherchieren? Von der Mutter hatte er im Internet einiges gesehen. Das Gleiche könnte er natürlich mit dem Sohn machen. Besser wäre es allerdings vermutlich, in der Nähe des Schulhofs einmal zu beobachten, wie sich die Dealer den Kindern näherten. Eventuell ließe sich über diese Personen mehr herausfinden, um ihnen später das Handwerk zu legen. Aber ganz ungefährlich wäre diese Aktion für ihn vermutlich nicht. Mit den meisten Dealern wäre bestimmt nicht gut Kirschen essen. Und, würde es überhaupt etwas bringen, die Dealer vor den Schultoren auffliegen zu lassen? Dann würden die höchstwahrscheinlich einfach an andere Orte ausweichen, so wie immer in der Vergangenheit. Und für jeden abgeschlagenen Hydra-Dealer-Kopf würden drei neue nachwachsen.

    Handelte es sich um eine Geschichte, die die Leser des Koblenzer Tageskuriers wirklich interessieren könnte? Nun ja, viele Leser hatten Kinder und für die meisten war es sicher somit das Wichtigste im Leben, dass es den eigenen Kindern gut ging. „Also, Leon, auf geht es. Mach was draus", feuerte er sich in Gedanken selbst an.

    Leon fuhr in das nächstgelegene Internetcafé am Münzplatz, denn die Fahrt in die Redaktion lohnte sich für die kurze, notwendige Recherche kaum und von seinem Nachbarn, dem Sportreporter, hatte er für heute ohnehin genug. Er wollte nachsehen, was über Julian Koch im Internet zu lesen sein würde, und ob er eventuell sogar herausfinden könnte, welche Schule er besuchte.

    Natürlich war es für einen sechzehnjährigen Jungen aus dieser Generation genauso üblich, in allen gängigen Internetportalen vertreten zu sein. Leon erkannte ihn fast nicht wieder. Auf den Urlaubsbildern mit Mami auf den Malediven sah er noch brav aus. Inzwischen war er zu einem deutlich auffallenden Revoluzzer mutiert. Er ließ sich mit jungen Frauen ablichten, die man früher als Punkerinnen bezeichnet hätte. Die Damen trugen Lederklamotten, überall Piercings, klappernde Ringe, Ketten und Tattoos. Er kleidete sich passend dazu. Tattoos und Piercings hatte er allerdings noch keine. Dies stellte Leon mit Befriedigung fest. Schließlich handelte es sich um einen Jugendlichen, der dafür die Zustimmung der Eltern benötigte. Vielleicht funktionierte also ausnahmsweise irgendetwas in Richtung Jugendschutz.

    Für jeden Personalchef wären die Einträge ein gefundenes Fressen: Angegebene Hobbys waren „Saufen, huren, abhängen, grenzüberschreitende Erfahrungen".

    Na, da hatte Leon natürlich so seine eigenen Vorstellungen, was mit grenzüberschreitenden Erfahrungen gemeint sein könnte.

    „Hm, irgendwie kommt wirklich alles mal wieder. Genau solche Typen gab es schon einmal. Verdammt, wo geht der Bengel nur zur Schule. Das wäre jetzt hilfreicher. Da, jaaa, Bingo: Astrid-Lindgren-Gesamtschule, Koblenz. Danke, Julian. Dann werde ich dir und deiner Penne mal einen Besuch abstatten."

    Auch noch die andere Wange hinhalten?

    Leon ging zu Fuß vom Münzplatz zur Astrid-Lindgren-Gesamtschule. Sie lag einige Straßen weiter. Ein kleiner Fußmarsch würde ihm guttun und erschien ihm unauffälliger als mit seinem Dienstwagen dort vorzufahren. Plötzlich hielt ein kleiner Wagen mit quietschenden Bremsen direkt neben Leon.

    „Hey, Walters, haste ne Panne? Komm, ich nehm dich mit." Sein Kollege aus der Sportredaktion war heute so lästig wie eine Schmeißfliege und extrem hilfreich dabei, seine verdeckte Ermittlung auffliegen zu lassen.

    „Nein, danke, Herr Kollege, für das nette Angebot. Ich muss etwas zu Fuß erledigen. Fahr du mal allein zu deinen attraktiven Handballdamen, sonst versaue ich dir dort die Quote. Leon lächelte dem Kollegen zu und ging weiter. „Schon komisch. Wenn ich wirklich eine Panne hätte, könnte ich wahrscheinlich kreuz und quer durch Koblenz laufen, hätte schon Blasen an den Füßen und niemand würde mir helfen, aber heute? Er schüttelte mit dem Kopf.

    Da war sie schon: Die Astrid-Lindgren-Gesamtschule, wie er deutlich in großen Buchstaben am Gebäude lesen konnte. Es war ein älteres Gebäude, hässlich und grau, so wie sie in den Siebziger- oder Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gebaut wurden. An der Betonfassade waren als einzige Zierde Ornamente eingegossen, natürlich ebenfalls in dezentem Grau. „Grau schafft bekanntlich eine fröhliche Lernatmosphäre und verbessert ungemein die Stimmung", dachte Leon zynisch. Hie und da hatten sich die Schülergenerationen mit Graffitis Luft gemacht.

    In einem ähnlichen Gebäude hatte, vor einer zunehmenden Zahl von Jahren, der etwas jüngere Leon seine Stunden, Tage, Wochen und Jahre absitzen müssen. Er sah in einem Klassenraum im Erdgeschoss einen Lehrer an der Tafel und vor seiner Klasse unterrichten. Welches Fach mochte es wohl gerade sein?

    Kurz schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit. Leon ging recht gerne zur Schule. Er war ein guter Schüler gewesen. Nur einige wenige Fächer entdeckte er erst nach Ende seiner Schulzeit, wie Deutsch, Geschichte, Sozialkunde. Hier hatte die Lehrerin es einfach nicht geschafft, einen Funken von Begeisterung auf die Schüler überspringen zu lassen. Na ja, jedenfalls nicht auf ihn.

    Ein sehr bekannter deutscher Gehirnforscher hatte schon vor 25 Jahren in vielen Vorträgen immer wieder betont, was für ein wirksames Lernen wichtig sei: Eine Atmosphäre ohne Angst zu schaffen gehörte dazu, um mit Begeisterung den Schülern zu vermitteln, wie spannend die Welt sein konnte. Auf keinen Fall sollte man Wissen mit Strafen einprügeln. Es bleibt dann mit viel Glück zwar im Gedächtnis haften, aber gekoppelt mit dem empfundenen Schmerz. Schmerzen schaffen ja bekanntlich selten und nur bei sehr wenigen Menschen wirklich Begeisterung.

    Leon wusste noch, wie in der Grundschule das Kopfrechnen im kleinen und großen Einmaleins geübt wurde. Es mussten bei diesen Übungen alle Schüler aufstehen und der schnellste Rechner durfte erleichtert wieder Platz nehmen. Er konnte es zum Glück gut genug, um sich schnell wieder hinsetzen zu können. So viel Glück hatte der kleine Uwe nicht. Als Letzter stand er meistens noch und rechnete selbst dann falsch. Leon sah es bildlich vor sich, wie der kleine Uwe, vor der ganzen Klasse, schön ans Fenster ins Licht gezogen wurde. Frau Werner schnappte sich dann mit ihrer rechten Hand seine Wange und packte sie wie mit einer Zange, zog daran, bis der daran befestigte Kopf ein Stück mit in die Richtung kam, ließ dann los, der Kopf flog zurück und die flache Hand hinterher, zurück auf die Wange. ‚Klatsch’, machte es. Nach mehreren falschen Ergebnissen wurde die Backe rot und irgendwann sogar mit einem Stich ins Blaue. Das wäre allenfalls für den Biologieunterricht nutzbar gewesen, um die Hautdurchblutung zu erklären, wie ein Bluterguss zunächst auf- und später über alle Regenbogenfarben wieder abgebaut würde. Die ganze Klasse schaute hilflos zu und vermutlich nicht nur Leon wusste nicht, wo er noch hinschauen sollte. Verstanden hatte Leon diese Strategie jedenfalls nie. Sie übertrug auch auf ihn eher ein Gefühl von Angst.

    „Schaut genau her, das könnte jedem von euch blühen. Also lernt und benehmt euch." Das sollte wohl die Botschaft sein.

    Vielleicht kam daher auch so sein leichtes Bauchkribbeln, wenn er den Fahrstuhl zum alten Paffrath betrat. Und in diesem Moment verstand er schlagartig, wieso er es kaum ertragen konnte, dabei zuzusehen, wenn einem anderen Menschen ein Unrecht geschah. Es war schlimmer, als selbst angegriffen zu werden. Aber er war stets bemüht, sich nach außen nichts von seinen Ängsten oder auch der Wut auf den Täter anmerken zu lassen.

    Jedenfalls verbreitete sich kurze Zeit später, mit einiger Genugtuung, das Gerücht, dass die Eltern von Uwe sich in der Schule beschwert hatten.

    „Gäbe es vielleicht eine winzige Spur von Hoffnung in dieser Welt?", fragte sich damals der kleine Leon. Die Prügelstrafe und solche Erziehungsmethoden waren nämlich eigentlich viele Jahre zuvor aufgegeben worden. Gelernt hatte er persönlich viel bei der Dame, wofür er dankbar sein konnte. Ob jedoch Uwe jemals rechnen gelernt hatte, blieb für Leon leider im Verborgenen. Er hatte da jedenfalls so seine Zweifel. Vielleicht sollte er in Kürze mal nach dem Verbleib und den Rechenkünsten von Uwe schauen.

    Ein melodischer Gong holte Leon von seinem kleinen Ausflug in die Vergangenheit wieder zurück. Wegen der Träumerei bekam er durch seine Beobachtung bisher keinen Eindruck, ob sich in der Schule diesbezüglich etwas geändert hatte. Die Schüler strömten aus den zwei Eingängen wie Ameisen aus einem Ameisenhaufen. Es schien große Pause zu sein. „Sehr gutes Timing", dachte Leon. Er hatte eine gute Beobachtungsposition auf der anderen Straßenseite erwischt und konnte so den ganzen Schulhof überblicken.

    Schultüte oder Tüte in der Schule

    „Hm, zu nahe heran zu gehen, das könnte vielleicht gefährlich werden. Einen erwachsenen Mann in der Nähe einer Schule müssten die darauf sensibilisierten Lehrkräfte, jedenfalls positiv gedacht, als Pädophilen oder Drogendealer einstufen. Wieso gelang es überhaupt erwachsenen

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