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REMEMBER HIM
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eBook211 Seiten2 Stunden

REMEMBER HIM

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Über dieses E-Book

Der 73jährige Albrecht hat niemanden, der sich an ihn erinnern wird. Seine Erinnerungen trägt er in einer Holzkiste mit sich herum. Eine magische Kiste. Von einem Drama aus dem Leben gerissen, wartet er auf den Tod. Denkt sogar an Selbstmord. Er beginnt, seine Wohnung auszuräumen und mit dem Leben abzuschließen. Als er eines Tages auf dem Friedhof ein fünfzehnjähriges Straßenkind trifft, das alles verloren hat, wird alles anders. Er weiß, dass sein Leben Sinn bekommt, wenn er ihr Leben rettet. Doch sie wehrt sich trotzig dagegen und gerät in einen Polizeieinsatz. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn er weiß - er muss gehen. Wenn es ihm gelingt, ihr Leben in die richtigen Bahnen zu lenken, wird sie sich an ihn erinnern...

Der gleichnamige Film über Leben, Sterben und das Weitergeben von Erinnerungen wurde 2012 mit TV-Star Günter Tolar (Made in Austria) verfilmt.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum20. Juni 2014
ISBN9783844298703
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    Buchvorschau

    REMEMBER HIM - Harald Zilka

    Impressum

    »Remember Him« basierend auf dem gleichnamigen Film von Harald Zilka mit Günter Tolar in der Hauptrolle.

    Lektorat: Victoria Muttenthaler

    Fotos: Karin Kirchner

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung.

    Copyright: © 2014 Harald Zilka

    Covergestaltung & Satz: Sound & Visual Project

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    ISBN 978-3-8442-9870-3

    Inhalt

    Prolog

    Das Kind von der Straße

    Der Mann mit dem Trenchcoat

    Phasen der Trauer

    Der Fünfte im Zimmer

    Das dunkle Refugium

    Die Dunkelheit

    Die Bedeutung der Dinge

    Albrecht räumt sein Leben

    Die Schatten der Nacht

    Wege der Läuterung

    Die Kiste der Erinnerung

    Albrecht beginnt zu verstehen

    Das Mädchen in Schwierigkeiten

    Albrecht ist enttäuscht

    Apfeltasche und Big Mac

    Besuch bei Albrecht

    Italienischer Abend

    Das letzte Treffen

    Ein neuer Anfang

    Spuren auf Teneriffa

    Der römische Garten

    Lisa Maria

    Albrecht kehrt zurück

    Clara

    Der Traum am Meer

    Raphaels Tod

    Der Herbst des Lebens

    Das Erbe

    Nach vorne und nie zurückschauen

    Die Übergabe der Erinnerung

    Epilog

    Nachwort zum Buch

    Prolog

    Sie werden sagen, ein Friedhof ist nicht der richtige Ort, um einem fünfzehnjährigen Mädchen zu begegnen. Wenn man genau darüber nachdenkt, halten sich nicht einmal Erwachsene gerne dort auf, wo aus unbekannten, in Stein geschlagenen Namen lebendige Erinnerungen werden, wenn man die Inschriften den Menschen zuzuordnen weiß. Mancher mag den Gräberreihen und Parkanlagen mit einem gewissen Unbehagen entgegentreten. Andere sagen, Friedhöfe haben etwas Positives, sehr Energetisches, vor dem man keine Angst haben muss. Einige Zeit dachte ich, die Geschichte handelt von Religion oder Spiritualität, aber das tut sie nicht. Spiritualität ist nicht nur auf dem Friedhof zu finden, sondern generell in der Natur. Bei einem solchen Spaziergang im Freien habe ich beschlossen, die Geschichte niederzuschreiben. Viele Monate und Jahre hatte ich mir das immer wieder vorgenommen und es vor mir hergeschoben. Eines Tages fasste ich den Entschluss und begann einfach damit, es niederzuschreiben. Ich machte einen langen Spaziergang auf einem Grashügel über der Stadt und der kühle Wind schlug mir ins Gesicht. Das war der Augenblick, als meine Erinnerungen an Albrecht und die geheimnisvolle Kiste sich in meinem Kopf zusammensetzten wie ein Mosaik. Albrecht, der alte Mann mit dem beigen Trenchcoat war jemand, den Sie nicht einmal bemerkt hätten, wenn sie ihm auf der Straße begegnet wären. Er war groß und trotz seiner hageren Gestalt keiner, der besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. Niemand, den man besonders lange im Gedächtnis behielt. Eines von zahllosen Gesichtern, denen man im Laufe eines Tages begegnet, ohne dass diese Begegnungen Spuren hinterlassen. Für gewöhnlich macht man sich nicht die Mühe, Fremde so weit wahrzunehmen, dass man ihre Schicksale hinterfragt. Sie rauschen vorbei, kreuzen unsere Leben und verschwinden, wie die Schatten einer Nacht, wenn die Sonne aufgeht. Sie lösen sich auf, als wären sie nie da gewesen wie Sandburgen am Strand. Man ist ja sowieso das ganze Leben damit beschäftigt, seine eigenen Probleme zu meistern. Natürlich könnte man meinen, diese Geschichte handle von Schicksal, von Vorherbestimmung und von höheren Mächten. Albrecht hatte - wenn er überhaupt je an Höheres geglaubt hat - ein Leben voller Enttäuschungen hinter sich. Besonders in den mittleren Lebensjahren begegnet man Menschen, die ohne Zutun vom Leben geprügelt wurden. Kaum haben sie eine Katastrophe überlebt und sind daran gewachsen, stolpern sie in die nächste Katastrophe. In der Psychologie gibt es sogar einen Ausdruck dafür, das ›self-made-Desaster‹. Es bezeichnet Menschen, die schon zu einem frühen Zeitpunkt, in der Pubertät oder beim Berufseintritt Probleme haben und auch später in negative Bewältigungsmuster fallen. Diese Theorie ist aber schwer umstritten, weil sie in gewisser Weise den Leidenden selbst die Schuld zuschiebt. Manche von den Geplagten schaffen es tatsächlich, ihren Glauben zu wahren oder sogar Gott zu entdecken. Albrecht war keiner von ihnen. Er weigerte sich zu glauben, dass ein Leben voller Prüfungen und Schicksalsschlägen im nächsten Leben belohnt wird. Er verglich den Glauben mit einem Ratenkredit, bei dem man niemals wusste, ob man die Summe ausbezahlt bekommt. »Das ist wie bei einer Versicherung, wo man ein Leben lang einzahlt und im Fall einer Erkrankung die Leistung wegen dieser Vorerkrankung oder jener genetischer Disposition abgelehnt wird!« sagte er oft. Albrecht war aber nicht immer so gewesen. Aufgewachsen am Land, war er sogar katholisch erzogen worden, auch wenn diese Zeit wie ein Nebel am Morgen grau und weit zurücklag. Im Haus seiner Großmutter und auch der Eltern hatte es einen Herrgottswinkel gegeben, eine christliche Zimmerecke in der bäuerlichen Wohnstube. Vielleicht zweifelte Albrecht schon damals daran, denn er wuchs auf in den Wirren des Weltkrieges und verlor zwei Brüder und einen Onkel an der Front. Das Leben hatte ihn gewandelt, seine Einstellung verändert und Albrecht zu einem Pessimisten gemacht, der das Positive im Leben nicht einmal erkennen würde, wenn es ihm auf die Schulter tippt. Einige Zeit suchte er sogar nach dem Glauben, kam aus dem Gestrüpp der negativen Gedanken aber nicht hinaus. Erfahrungen mit dem Tod eines geliebten Menschen hatten damit auch zu tun, aber die hat jeder und muss sie auch bewältigen. Die Psychologie ist voll mit Ratschlägen, wie man seine Trauer verarbeiten kann. Und Albrecht hasste Psychologen noch mehr als er Ärzte hasste. Er gehörte zu den Vertretern seiner Generation, die nie zum Arzt gingen. Ich habe einmal den Fehler gemacht, einem befreundeten Biologen zu erklären, Trauer sei ein Gefühl, das uns von den Primaten unterscheidet. Er hat mich lange angesehen und dann gelacht. Bevor der Abend vorüber war – und es war ein langer, beeindruckender Abend - erfuhr ich von seinen Reisen nach Kenia, wo er die Totenwache der Elefanten beobachtet hatte. Eine Elefantenkuh war nach einem Schlangenbiss zusammengebrochen und die Forscher beobachteten mehrere Tage eine Herde von Tieren, die vor Trauer ganz benommen war. Jeden Abend wanderten die Tiere acht Kilometer weit, um Futter zu finden. Am nächsten Morgen trotteten sie acht Kilometer zurück zu ihrer toten Artgenossin, um Mahnwache zu halten. Ich erfuhr vom Abschiedsschmerz der Paviane und Schimpansen, die ihre toten Kinder herumtrugen, bis sie auf ihren Schultern zu Staub zerfielen. In heißen Gebieten passierte das innerhalb von wenigen Tagen. »Am Anfang dachten wir, die Affen verstehen nicht, dass ihr Kind tot ist! « erzählte mein Freund. »Später entdeckten wir, das dieselbe Affenart, die in kälteren Regionen lebte, sich in viel kürzerer Zeit von ihren Toten verabschieden. Weil das Klima dort es nicht anders zuließ. Die Körper verwesten dort wesentlich langsamer, die Tiere mussten die Toten liegen lassen. Schmerz und Trauer ist etwas, was zum Auftrag der Evolution dazugehört«.

    Die Erkenntnis, dass sogar Primaten Tod und Trauer erfuhren und sich Rituale schufen, traf mich hart. Das ist keine gravierende Neuigkeit, von der man nie gehört hat – aber eine, die man lieber zur Seite schiebt. Tiere mit menschlichen Zügen zu sehen, ist unangenehm. Wer geht schon in den Tierpark und baut ein persönliches Verhältnis zu Affen oder Elefanten auf, es sei denn, man blickt zu lange in ihre Augen und damit in das Lebewesen dahinter. Aber wer will das schon? Niemand fährt auf einen Bauernhof und dort einem Schwein einen Namen zu geben, von dem man weiß, dass es zwei Wochen später in Zellophan verpackt im Kühlregal wieder auftauchen könnte. Der Trick der Verdrängung ist, das man nach einer Woche wieder zurückfährt und nur die kurzen, persönlichen Eindrücke mitnimmt. Man grillt ja auch kein Steak, um vorher darüber nachzudenken, wie das Rind in den Gang getrieben wird, wo der Schlachtschussapparat wartet. Man fährt auch nicht nach Italien und erinnert sich dann an die Mafia oder die Arbeitslosigkeit der Jugend, sondern an die warmen Sommerabende mit Lasagne und Chianti, den salzigen Duft im Hafen und den Geruch von Pinien. Die Verdrängung begleitet uns das ganze Leben. Manche Menschen haben den Vorteil, dass sie über ihre Gefühle sprechen können. Sich Anderen zu öffnen, kann Verletzung bringen, aber auch Heilung. Im Tierreich scheint es bei den meisten Arten die gleichen sozialen Verfahren zu geben, die auch bei uns oftmals Linderung bringen. So erfuhr ich an jenem Abend, dass auch Tiere sich im Umgang mit ihren Artgenossen trösten. Bei Schimpansen und Primaten scheint die Trauer damit zu enden, dass die Betroffenen nach der Trauer anderen aus der Gruppe das Fell pflegen und dadurch über den Schmerz hinwegkommen.

    Der Kontakt mit dem Lebenden und das Greifen nach sozialen Strukturen scheint das Einzige zu sein, was ein gebrochenes Herz heilen kann. Bei Tieren, die in Gruppen leben, funktionieren also die gleichen Rituale, die Menschen viele Jahrhunderte ebenfalls vollzogen. Besonders in ländlichen Gebieten wurden die Älteren seit jeher im Familienverband gepflegt, bis die Menschheit abbog und alternde Menschen und deren Tod aus der Gesellschaft verbannte. Wer hat schon die Kraft seine Mutter zu pflegen, während man sich gerade mit zwei Jobs über Wasser halten muss, um die Miete zu bezahlen und nebenbei noch den Kindern hinterherhetzt? Outsourcing wurde eingeführt, könnte man sagen und dabei fielen Menschen wie Albrecht durch das soziale System, die noch nicht alt genug waren, um zu sterben, aber auch zu wenig soziale Kontakte hatten, um gepflegt zu werden. Albrecht hatte keine Nachkommen und keine Familie. Er war nicht der Typ, der an lustigen Seniorenabenden oder Schachturnieren teilnahm. Zu groß war die Angst, dass die Menschen in sein Herz sahen und sein Geheimnis entdeckten. Nach seinem größten Verlust war er wie ein Haustier, das seinen Besitzer verliert und daran selbst zu Grunde geht. Ich bin mir sicher, Sie kennen jemanden, der von solchen Begebenheiten berichten kann. Eine der wenigen Erinnerungen, die ich aus meiner eigenen Kindheit habe, ist der Schäferhund meines Großvaters. Als mein Großvater starb, hinterließ er den steinalten Hund, dessen genaues Alter niemand kannte. Das Alter sah man ihm an, denn sein Fell war zottig und die Bewegungen langsam. Anzeichen auf eine Krankheit gab es aber nicht. Wie bei den meisten Hunden war die Nähe zu meinem Großvater das, was ihn am Leben hielt. Keine drei Wochen, nachdem Großvater starb, starb auch der Hund. Er hatte sich kaum mehr bewegt und kein Futter zu sich genommen. Als ich Albrecht, der eine besondere Vorliebe für Hunde hatte, diese Geschichte später erzählte, nickte der nur und sagte:

    »Er starb am gebrochenen Herzen«. Die Wahrheit ist, dass ich gar nicht sehr bewandert bin, was man in ein gutes Buch hineinschreibt oder nicht. Die Geschichte von Albrecht ist auf jeden Fall eine, die das Leben geschrieben hat und das sind oft die Härtesten. Albrecht hatte niemanden mehr, der sich an ihn erinnern würde und das war für ihn schlimmer als der Tod. Er hatte sich aufgegeben und trieb mehr dahin, von einem Tag in den anderen, statt zu leben. Eine Abwärtsspirale, die nur dadurch durchbrochen wurde, dass er völlig unverhofft einen Menschen kennenlernte, der viel jünger war und fast ebenso verloren durch das Leben trieb. Eine Begegnung, die beider Leben verändern würde. Und sie begann dort, wo gewöhnlich die Geschichten enden, nämlich am Friedhof in Ober St. Veit, über den Hügeln von Ober St. Veit.

    KAPITEL 1

    Das Kind von der Straße

    Das Mädchen mit den braunen Haaren und dem schmutzigen Overall war keine fünfzehn Jahre alt. Sie hatte mit der Welt gebrochen. Dass sie sich hier am Friedhof herumtrieb, war kein Zufall. Wer keine Angst vor Friedhöfen hat, kann diese Orte der Ruhe und Andacht zum Verweilen und Nachdenken entdecken. Die Bäume und Sträucher der Grabanlagen, die geschmückten Steine sind tatsächlich ein Anstoß zur inneren Einkehr. Der Friedhof lag in dem Wiener Außenbezirk Ober St. Veit. Den gibt es wirklich und er gilt als die älteste Spur menschlichen Lebens, nachdem Zeugnisse einer paläolithischen Siedlung hier gefunden wurden. Heinrich II. verschenkte es an die Bamberger Dombrüder, ehe es 1529 und 1683 von den Türken verwüstet wurde. Im Jahr 1762 verkaufte Kardinal Migazzi die Herrschaft St. Veit an Maria Theresia und diese ließ eine Straßenverbindung nach Schönbrunn anlegen, welche seit 1894 »Hietzinger Hauptstraße« heißt. Über diese oder das Wiental erreicht man die Straßen, in denen Albrecht wohnte und den Friedhof. Hat man das Wien-Tal verlassen und folgt den ansteigenden Gassen zum Roten Berg, ist es nicht mehr weit. Am Rande des Lainzer Tiergartens liegt die Gedenkstätte, wo auch Egon Schiele und Gustav Klimt ihre letzte Ruhe gefunden haben. Hier wurde auch der gleichnamige Hollywood-Film über das Leben von Gustav Klimt gedreht, mit John Malkovich in der Hauptrolle. Der Blick über die Stadt Wien und die ruhige Verkehrslage machten diesen Friedhof ganz sicher zu einem besonders inspirierenden Ort. Das Mädchen suchte auf dem Friedhof aber keine Inspiration. Sie war keiner Sekte oder Jugendbewegung zugehörig, die Gothic-Elemente verehrte und hatte kein starkes Verhältnis zu Gott. Sie hasste Gott mit der gleichen Abscheu, mit der sie sich selbst hasste. Auf dem Friedhof strich sie nur an wärmeren Tagen herum, wenn sie die Schule schwänzte. Die Wiener Einkaufsstraßen oder die Innenstadt waren dafür kein guter Ort, weil Massen von geschäftigen Menschen mit Aktentaschen und Einkaufstaschen wie eine Walze jede Ruhe hinwegfegten. Das Mädchen hatte sich im westlichsten Bezirk von Wien und im Wienerwald herumgetrieben, als sie vor einem Platzregen flüchten musste und sich nach erfolglosen Versuchen in Hausfluren in einer der Grüfte versteckte. Sich in den Kellern und Gängen von bewohnten Häusern herumzutreiben, war mit großem Stress verbunden, weil ständig Hausparteien kamen und gingen und man praktisch jederzeit mit großem Geschrei hinauskomplimentiert werden konnte. Die wenigen Nächte, die sie in bewohnten Häusern verbracht hatte, waren schlaflos gewesen, weil ständig irgendwo eine Tür anschlug oder der Lift sich bewegte. Das Flüstern der alten Kastanienbäume am Friedhof, das in manchen Nächten klang, als würden die Menschen, die hier ruhen, von ihrem Leben erzählen, machte ihr keine Angst. Das Mädchen mochte den Friedhof, weil sie in einer Stimmung war, die diesem Flair sehr nahe kam. Viele Habseligkeiten hatte sie nicht bei sich und ihre Kleidung war nicht so schmutzig, wie man es sich bei Land- oder Stadtstreichern vorstellte. Das lag daran, dass sie nicht auf der Straße lebte, sondern bei der Jugendfürsorge gemeldet war und dort betreut wurde. Die finsteren Zeiten, wo man Kinder in dunklen Heimen mit strengkatholischen Schwestern einsperrte, sind vorbei. Der letzte Versuch, gefährdete Kinder in ein sozialpädagogisches Heimkonzept zu integrieren, war in den 70er Jahren die »Stadt des Kindes«, ebenfalls im Westen von Wien. Damals galt die offene Struktur der Jugendbetreuung mit zahlreichen Sportangeboten als enormer Fortschritt, der sich letztlich aber nicht durchsetze. Die Kinder, die dort aufgewachsen sind, sind heute erwachsen. Albrecht hatte einen Schulfreund gehabt, der als Sport-Betreuer in diesen Einrichtungen arbeitete und später sollte das Mädchen auch große Bedeutung gewinnen. Die Gebäude der Kinderstadt wurden mittlerweile abgerissen und in Wohnungen umgewandelt. Das Schwimmbad, die Bibliothek und die Theaterbühne blieben den neuen Bewohnern erhalten. Der Trend der Jugendwohlfahrt ging danach zu anonymen, betreuten Wohngemeinschaften und flexiblen Versuchen, auch Ausreißern immer wieder habhaft zu werden, um sie zumindest mit Streetworkern zu versorgen. Die Auswirkungen der antiautoritären Erziehung, die sowieso eine junge Generation geschaffen hat, die sich wenig sagen lassen will, hat die Betreuung verändert. So war das Mädchen beim Jugendamt und in einer Wohngemeinschaft gemeldet, in der es Pflichten gab und auch die Schulbildung kontrolliert wurde. Dass sie zeitweise ausriss und für einige Tage verschwand, konnte aber nicht verhindert werden. Der Tag, als das Mädchen auf Albrecht traf, war der erste warme Frühlingstag nach einem bitterkalten, aber schneearmen Winter. Die ersten Strahlen

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