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Arschloch mit Herz: Rettungsversuch eines havarierten Lebens
Arschloch mit Herz: Rettungsversuch eines havarierten Lebens
Arschloch mit Herz: Rettungsversuch eines havarierten Lebens
eBook233 Seiten3 Stunden

Arschloch mit Herz: Rettungsversuch eines havarierten Lebens

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Über dieses E-Book

Der Hauptschullehrer Nico Tannenberger betäubt sich mit Alkohol und Medikamenten, mit zynischen Gedanken und schlechtem Sozialverhalten. Er lenkt sich mit Gemeinheiten gegenüber Kollegen und Schülern ab sowie mit faden Nächten nach Ü40-Partys, aus denen er stets alptraumartig erwacht.
Was hat Nico ruiniert? Erste Antworten werden greifbar, als Nicos Selbstbetäubungsversuche endgültig scheitern und er den Alltag nicht mehr bewältigen kann. Ausgerechnet die unbeliebte und gemobbte Schülerin Erika Kroll schafft es, das Mitgefühl des verbitterten Außenseiters zu wecken. Im Bestreben Erika zu helfen verwickelt sich Nico in abenteuerliche Zusammenstöße mit tragischen sowie skurrilen Gestalten und stellt sich dabei zunehmend seinen verdrängten Ängsten.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum29. Aug. 2017
ISBN9783745015119
Arschloch mit Herz: Rettungsversuch eines havarierten Lebens

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    Buchvorschau

    Arschloch mit Herz - Sebastian Blumenthal

    Sebastian Blumenthal

    Arschloch mit Herz

    Rettungsversuch eines havarierten Lebens

    Roman

    Imprint

    Arschloch mit Herz

    Copyright: © 2017 Sebastian Blumenthal

    E-Book-Erstellung: Erik Kinting / www.buchlektorat.net

    Covergestaltung: Erik Kinting

    www.epubli.de

    Ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    Inhalt

    Prolog

    1. Sonnenaufgang

    2. Raketen

    3. Verkehrsnachrichten

    4. Führerbunker

    5. Maisfelder

    6. Nachtruhe

    7. Columbo

    8. Gulaschsuppe

    9. Wintereinbruch

    10. Primaten

    11. Schlick und Wind

    12. Rumänien

    13. Gauß

    14. Kriegsreporter

    15. Verischor

    16. Delfine

    17. Pärchen

    18. Sonnenuntergang

    19. Stand der Dinge

    Prolog

    Die junge Frau blieb stumm und deutete mit dem Finger in Richtung der Treppe, als der hagere Mann in der roten Jacke erneut nach dem Weg zum Zimmer fragte. Höflichkeit war das erste Gebot in ihrem Beruf, doch die plötzliche Hektik zerrte ihre guten Manieren wie ein reißendes Gewässer mit sich.

    Nur eine halbe Stunde zuvor hatte sie der Mittagschicht »einen schönen Abend« gewünscht und wollte wie an jedem Abend im Schutz der einkehrenden Ruhe die Buchungslisten prüfen. Das Abhaken von Listen, die Organisation des Frühstücks, das Nachbestellen unterschiedlichster Verbrauchsartikel und die vielen anderen Tätigkeiten, die sich nach einem verbindlichen Schema verrichten ließen, waren der Grund, weshalb sie die Arbeit im Hotel so sehr schätzte. Und natürlich auch der Umgang mit den Gästen. Zumindest mit den Meisten von ihnen. Nur wenige Monate zuvor hatte sie noch aufgeregt in der Abschlussprüfung gesessen und war Landesbeste geworden, aber das Überraschungsmoment ließ die eingeübte Routine erlahmen und machte alles bisher Gelernte zunichte.

    Vor dem Hoteleingang lockte das umherschwirrende Blaulicht des leerstehenden Rettungswagens erste Gaffer in seinen Bann. Auch die ältere Dame auf der gegenüberliegenden Straßenseite war jetzt stehen geblieben und reckte ihren Kopf wie ein diensthabendes Erdmännchen in die Höhe, um am Horizont nach Feinden Ausschau zu halten. Dem Hund am Ende ihrer Leine kam es nur gelegen – endlich war es ihm vergönnt, seinem Trieb zu folgen und ausgiebig an der aus dem Boden ragenden Metallstange zu schnuppern.

    Das laute Poltern im Hotelflur und ein kurzer, hektischer Wortwechsel lockte einen Gast hervor. Durch einen schmalen Türspalt hindurch beobachtete er die junge, ungewöhnlich blasse Rezeptionistin, die vor einer weit geöffneten Tür stand und nervös an ihren Nägeln kaute.

    »Hallo?! Können Sie mich hören?!«, schallte eine feste Stimme aus dem gegenüberliegen Zimmer in den Flur. Weil der neugierige Gast zurückgeschreckt war, hatte er den entscheidenden Moment verpasst und konnte nicht erkennen, wer mit schnellen Schritten herausgetragen wurde. Die Gaffer vor dem Haus hatten mehr Glück. Ihr Durchhaltevermögen zahlte sich in Form eines ausgiebigen Blickes zum erschlafften Körper auf der Trage aus.

    »Zumindest haben diese Idioten nicht den Weg verstellt«, murmelte der müde Rettungsassistent grimmig, als er mit quietschenden Reifen davonraste. In dem kleinen Küstenort, in dem es kurz vor Beginn der Urlaubssaison meist ohnehin nicht viel zu berichten gab, war der Vorfall eine Meldung im Lokalteil der Zeitung wert.

    1. Sonnenaufgang

    Meine Wimpern sind verklebt, das Blickfeld verengt und zu den Rändern hin verschwommen. Während der Nacht ist mir zäher Speichel aus dem Maul geronnen und hat seine klammen Spuren auf dem Kissenbezug hinterlassen. Ich sollte Dr. Frauner fragen, ob er mir etwas verschreibt, das mich am Morgen aufputscht. Er ist ja sonst auch nicht zimperlich mit dem Rezeptblock.

    Ich muss mich zusammenreißen. Aufstehen, die Balance halten und inständig darauf hoffen, dass meine blassen, zitternden Beine die ihnen aufgezwungene Bürde tragen. Verdammter Scheißkörper! Aber was rege ich mich überhaupt auf und zerbreche mir den Kopf? Der Tag hat noch nicht einmal begonnen, und ich bin gezwungen, mir meine bescheidenen Kraftvorräte einzuteilen, sonst klappe ich womöglich schon am Mittag zusammen. Keine große Überraschung, dass ich spät dran bin, schon wieder. Wenn der Alte von meiner Verspätung Wind bekommt, wird er mich vor versammelter Mannschaft zur Sau machen, und die hochverehrten Kolleginnen und Kollegen werden sich nicht einmal die Mühe machen, ihre Schadenfreude auch nur ansatzweise zu verbergen. Diese dummen Schweine! Glauben die denn, dass irgendein Mensch auf der Welt morgens aufsteht und denkt, »Hey, schaut her! Heute werde ich nur so zum Spaß auf ganzer Linie versagen und mich mit voller Absicht in eine unvorteilhafte Lage bringen«? Aber das spielt offensichtlich keine Rolle, solange es was zu glotzen gibt, das von den eigenen Unzulänglichkeiten ablenkt.

    Ausgezeichnet, die protzige Karre vom Alten steht noch nicht auf dem für ihn reservierten Parkplatz. So wie es aussieht, gibt es heute keine Showeinlage. Zumindest keine, die auf meine Kosten geht. Wenn ich mich geschickt anstelle, kann ich noch schnell die Arbeitsblätter kopieren, ohne einem der anderen »Leerkörper« zu begegnen.

    »Guten Morgen, Nico! Bist wohl auch spät dran? Bist du gleich fertig am Kopierer? Ich muss noch schnell das Arbeitsblatt für die 6c kopieren.«

    Fuck! Ausgerechnet Dorothea. Schon beim Hören ihrer Fistelstimme laufen mir kalte Schauer über den Rücken. Und dieses dumme Lächeln, das sie in jeder erdenklichen Lebenslage zu begleiten scheint. Mein Gott, jetzt wäre mir sogar eine gepflegte Abreibung vom Alten lieber, als mir von dieser faltenschlagenden Schabracke am frühen Morgen den letzten Nerv rauben zu lassen. Absolut rätselhaft, wie so ein selten dämliches Gesicht wie das von Dorothea entstehen kann. Als hätte sich ein Monchichi mit einem mongoloiden Idioten gepaart. Bumm! Neun Monate später erblickt Dorothea dumm grinsend das Licht der Welt. Tja, meine Gedankenwelt bewegt sich halt im politisch unkorrekten Bereich.

    »Guten Morgen, Doro. Nein, ich brauche nicht mehr lange, der ist gleich durch, dann darfst du.«

    Jede Wette, dass sie es nicht dabei belassen kann. Sie wird mir unter allen Umständen ein belangloses Gespräch aufs Auge drücken. Sie kann gar nicht anders als …

    »Sag mal, Nico, hast du eigentlich die Geschichte mit dem Wegner mitbekommen? Dem soll es ja gar nicht gut gehen.«

    Wegner, dieser arbeitsscheue Giftzwerg. Wen interessiert es schon, wie es dem Wegner geht? Der hat doch ständig was. Jetzt erwartet sie eine angemessene Antwort, um den Kopierer-Smalltalk nach den ungeschriebenen Gesetzen der belanglosen Unterhaltung fortzusetzen. Na schön, ich tue ihr den Gefallen, bin ja schließlich kein Unmensch.

    »Ja, der arme Wegner. Was war es doch gleich? Die Bandscheibe?«

    Oh mein Gott! Was tue ich hier? Bin ich noch bei Trost? Anstatt das Gespräch floskelhaft zu beenden, ziehe ich es unnötig in die Länge. Bravo Nico, du Depp! Jetzt geht das Spiel in die Verlängerung, dabei war ich meinem Ziel, dieses Desaster ohne Umschweife zu beenden, schon so nah. Ein kurzes »Ja, schlimm, aber muss los, bin spät dran« hätte doch vollkommen ausgereicht, um zu entkommen. Jetzt darf ich mir ihre Antwort anhören. Ja, da kommt sie schon. Genau, Dorothea, untermale dein belangloses Geschwafel mit deinen knochigen Händen. Das macht den drögen Monolog gleich interessanter. Und wie lustig das ökologisch nachhaltig hergestellte Holzarmband klackert, während du gestikulierst.

    »… aber seine Frau unterstützt ihn auch, wo sie nur kann.«

    »Ja, das wird schon. Ich bin mir sicher, er bekommt das bald wieder in den Griff. So, du kannst jetzt. Wir sehen uns in der großen Pause, bis später.«

    Geht doch! Warum nicht gleich so? Gemein war es schon, den Kopierer auf hundert Kopien einzustellen, bevor ich mich vom Acker machte. In wenigen Sekunden wird sie hektisch auf und ab laufen, und der neue Kopierer, den sie nicht richtig bedienen kann, wird ohne jede Gnade Papier auskotzen. Doppeltseitig und geheftet. In welche Klasse muss ich eigentlich? War es die 9b oder die 9c? Ach, es ist ja erst Dienstag, also die 9c, was bedeutet, dass ich mich schnaubend in die dritte Etage quälen muss. Bevor ich die Stufen erklimme, gönne ich mir lieber noch schnell einen kleinen Schluck. Die große Thermoskanne ist, neben meinem Butterbrot und ein paar Stiften, ohnehin der einzige Grund, warum ich diesen lächerlichen Pilotenkoffer mit mir herumschleppe. Wow, ich war heute Morgen wirklich nicht ganz bei Sinnen. Die Mischung ist nicht von schlechten Eltern. Gut, dass keiner in der Nähe ist, der die Fahne riechen kann. Schnell runter mit dem Zeug, ist gut fürs Nervenkostüm. Viel hilft viel. Jetzt nur nicht nachlässig werden und den obligatorischen Pfefferminzdrops vergessen. Ach was, lieber zwei.

    Fast fünfzehn Jahre lang dasselbe sadistische Spiel, und trotzdem übermannt mich noch immer das Lampenfieber, kurz bevor ich den Klassenraum betrete. Wobei, der Charakter der Aufregung hat sich im Verlauf der Jahre schon verändert. Am Anfang meiner Laufbahn war es noch eine Art von positiv gestimmter Neugier, ein erwartungsvolles Kribbeln im Bauch. Aber jetzt ist alles anders. Heute fühle ich mich beim Durchschreiten der Türschwelle wie ein Apnoetaucher. Exakt in dem Moment, in dem ich den Raum betrete, stockt mir der Atem, und ich versinke Schritt um Schritt in einer für meine Spezies lebensfeindlichen Umgebung. Überleben kann ich nur, wenn ich Ruhe bewahre, keine Schwäche zeige und mir keine groben Fehler unterlaufen. Es kommt auf jedes Detail an, um das labile Kartenhaus aus gespielter Selbstsicherheit nicht in sich zusammenfallen zu lassen. Der Rum im Kaffee hilft ein wenig dabei, die Anspannung im Zaum zu halten. Wie immer fällt mein erster Blick auf die von weißen Schlieren und altem Anschrieb übersäte Tafel, um anschließend für einen Moment auf dem zerkratzen Pult zu verweilen. Zeit, mich ein letztes Mal zu sammeln, ehe ich mich endgültig dazu überwinde, das erste Mal in die Menge zu blicken. Es ist der immer gleiche Moment, in dem sich mir der Magen umdreht und nur eine Frage der Zeit, bis ich mich inmitten des Klassenraums übergebe. Na klar, die dicke Erika kommt als Erste angerannt. Sie ist dermaßen unbeliebt, verzweifelt und einsam, dass sie sich als Einzige aufrichtig über mein Erscheinen freut – wenigstens eine Person, die ihr etwas Aufmerksamkeit schenkt, beziehungsweise berufsbedingt schenken muss. Abgesehen davon bleiben ihr zumindest die härtesten Attacken ihrer Mitschüler erspart, solange sie sich in meinem Dunstkreis aufhält. Und überhaupt, Erika, was für ein selten dämlicher Name! Als ob dieses debile Kind mit seinem Aussehen nicht schon genug gestraft wäre.

    »Herr Tannenberger, der Justin hat heute Tafeldienst, aber er ist krank. Soll ich die Tafel für ihn putzen?«

    Meine Fresse, kein Wunder, dass dich alle verachten! Wie kann man nur so unterwürfig sein? Fette Made! Hoffentlich quälen sie dich heute wieder in der Pause, wenn die Aufsicht nicht schnell genug zur Stelle ist.

    »Mensch, Erika, das ist aber sehr aufmerksam von dir. Ja, wisch bitte die Tafel und setz dich anschließend auf deinen Platz.«

    Sie gehorcht aufs Wort und beginnt umgehend mit dem Wischen. Was für ein beschissenes Durcheinander. Und dieser verdammte, nervtötende Lärm. Was fällt diesem ungezogenen Scheißhaufen bloß ein? Die haben doch alle längst mitbekommen, dass ich den Raum betreten habe, trotzdem schert sich niemand einen Dreck um meine Anwesenheit. Früher hatten es die Lehrer noch einfach. Eine bitterböse, versteinerte Miene und ein harter Rohrstock als deutlich erkennbares Zepter der Autorität reichten vollständig aus, um eine angemessene Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Und wagte es jemand dennoch, aus der Reihe zu tanzen, muss das scharfe Zischen des Rostocks, kurz bevor sein Hieb die ausgestreckten Kinderhände zum Anschwellen brachte, wie Musik in den Ohren der Pädagogen geklungen haben. Was für eine wundervolle Komposition aus Zucht, Ordnung und Kindertränen das gewesen sein muss. Und heute? Heute bringen die Seminare den Lehrern nur noch unnützen, politisch korrekten Schwachsinn bei. Leblose Kopfgeburten, die alle Schüler zu individuellen Siegern erklären und höchstens auf dem Papier innenhalb einer akademischen Umgebung funktionieren. Stichwort »Classroom-Management«. Ich lach mich tot. Englische Worthülsen ohne jeden Realitätsbezug, die aber dafür umso wichtiger daherkommen, je inhaltsloser sie sind. Gebt der Belegschaft die Rohrstöcke zurück! Ihr werdet dann schon sehen, wie schnell sich die Pisa-Resultate zum Guten wenden.

    Ach, sieh mal einer an. Die Dicke ist mit Tafelwischen fertig und steht jetzt regungslos vor mir. Sie gleicht einer stupiden Maschine, die man mit eindeutigen Instruktionen füttern muss, damit sie ihren Dienst tut.

    »So, würdet ihr bitte eure Plätze einnehmen und still sein? Auch du, Erika. Der Unterricht hat begonnen. Jan, kannst du bitte kurz zusammenfassen, womit wir uns in der vorausgegangenen Unterrichtsstunde befasst haben?«

    »Ja, also … wir haben uns irgendwas mit Dreiecken angeschaut oder so?«

    Irgendwas mit Dreiecken. Geniale Zusammenfassung, eine Sternstunde der Trigonometrie. In wenigen Jahren wird China Europa bei lebendigem Leib verspeisen. Völlig zu Recht! Mal schauen, was Büsra beizutragen hat.

    »Nun Jan, das war noch etwas lückenhaft, ging aber in die richtige Richtung. Büsra, kannst du mehr dazu sagen?«

    »Ähm, ja. Wir haben uns, ähm, die Flächen angeschaut in Dreiecken oder um die Dreiecke herum? Die haben wir dann irgendwie ausgerechnet. Oder die Seiten der Dreiecke? Ähm, weiß nicht genau. Aber es hatte was mit Pita Gyros und einer Formel zu tun.«

    Natürlich, großes Gelächter. Gut, sei’s drum. Das warʼs für heute. Ich habe genug und gebe auf. Immerhin, die ersten zehn Minuten sind um. Was macht es schon für einen Unterschied, ob ich unterrichte oder nicht? Klar, Hauptschule. Vermutlich befinden sich nicht gerade die kommenden Nobelpreisträger unter diesen von Pusteln übersäten Hormonzombies, aber irgendeinen nachweislichen Effekt muss die ganze Mühe doch mit sich bringen. Zumindest etwas, irgendetwas! Scheißegal, was mach ich mir Gedanken?! Da kann ich genauso gut versuchen, das Weltenergieproblem oder den Nahostkonflikt zu lösen. Kopien austeilen und hoffen, dass sich die Lautstärke im Verlauf der verbleibenden dreißig Minuten nicht allzu sehr hochschaukelt. Mehr kann ich jetzt auch nicht tun. Mein Kopf, mein armer Kopf. Ich brauche unbedingt einen kleinen Schluck aus der Thermoskanne.

    »Ich muss ins Lehrerzimmer, um einige organisatorische Dinge zu klären. Ich verlasse mich darauf, dass ihr in einer angemessenen Lautstärke an den Aufgabenstellungen arbeitet.«

    Klar, und morgen ist im Himmel Jahrmarkt.

    Endlich, der verstimmte Dreiklang, der das Ende dieses Trauerspiels einläutet. Was ist zwischenzeitlich eigentlich gelaufen? Ich habe nicht auch nur den Hauch einer Ahnung, aber da alle das Klassenzimmer verlassen, scheint nichts Auffälliges passiert zu sein. Nur die dicke Erika schlängelt mal wieder ziellos durch das Klassenzimmer, um etwas Pausenzeit zu schinden. Eigentlich müsste ich noch das Klassenbuch pflegen, aber wenn Erika mitbekommt, dass ich sitzenbleibe, wird sie versuchen, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Soll sich der Nächste darum kümmern. Ihr hinterlasst mir vollgeschmierte Tafeln, ich hinterlasse euch leere Klassenbücher.

    »Erika, Pause! Geh ein bisschen an die Luft«, scheuche ich sie hinaus.

    Hoffentlich setzt sich im Lehrerzimmer nicht wieder der verschissene Referendar neben mich. Dem scheint immer dermaßen die Sonne aus dem Arsch, dass einem nur schlecht werden kann. Immer wenn er mich anspricht, kneife ich meine Augen zusammen und schiele ein wenig, um ihn und seine unerträglich blendende Arschsonne nur verschwommen wahrnehmen zu müssen. Da er mich noch nie anders zu Gesicht bekommen hat, hält er meine verkniffene Fratze vermutlich für das entstellende Resultat eines Schlaganfalls. Na? Wer kommt wohl heute angetrudelt, um mir die Pausenzeit zu versüßen? Da es keine feste Sitzordnung gibt, ist die Sitznachbarlotterie in vollem Gange und der Spannungsbogen erreicht allmählich seinen Scheitelpunkt. Hätte ich mir nicht eine viertel Valium zu meinem Kaffee gegönnt, wäre ich jetzt bestimmt ganz aufgeregt. Ach, da kommt der Hajo. Der ist recht erträglich, fast schon in Ordnung, mit dem Hajo kann ich ganz gut. Ein unaufgeregter Typ kurz vor der Pension. Meistens schweigt er für eine Weile, bevor er auf eine Frage antwortet. Aber leider hat er den Alten, Herrn Direktor Kortenbrock, im Schlepptau, und wenn der sich auch nur in meine Nähe setzt, verkommt meine Pause zur Dienstbesprechung. Der Alte ist ein Meister der Beherrschung. Der fällt nie aus der Rolle. Immer ernst, immer Schulleiter. Mensch ist er nur in seiner Freizeit, aber da bin ich mir auch nicht wirklich sicher. Vielleicht ist sein heimisches Arbeitszimmer genau wie sein Büro mit meterlangen, bunten Dienstplänen zugekleistert, zerstochen von kleinen Fähnchen, die haarklein festlegen, wer wofür im Haushalt zuständig ist. Und zum Frühstück, Mittag- und Abendessen bimmelt wohlmöglich eine eigens dafür installierte Klingel. Gebumst wird natürlich auch nur nach Plan und im 45-Minuten-Rhythmus. Hut ab, Herr Direktor, immer im Dienst. Ich drifte ab. Los, Nico, konzentrier dich, sonst fällst du noch auf. Es sieht tatsächlich danach aus, als ob der Alte mit dem Gedanken spielt, sich neben mich zu setzen. Er wirft mir einen kurzen, verheißungsvollen Blick zu, dem ich nicht schnell genug ausweiche. Ich könnte noch schnell anhand der freien Stühle ausrechnen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass er sich doch noch für einen anderen Platz entscheidet. Aber was würde das schon bringen? Vielleicht haben die Schüler recht, wenn sie sagen, dass Mathematik letztendlich vollkommen unnütz ist, und es keinen Sinn macht, sich dafür anzustrengen. Das wahre Leben ist ohnehin unberechenbar, viel zu komplex, um adäquate mathematische Lösungsansätze für seine verworrenen Herausforderungen zu finden. Da sitzt er nun, direkt zu meiner Rechten. Wie immer dunkle Stoffhose, unauffälliges Hemd und akkurat gebundene Krawatte

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