Lotus im Wind: Mystery-Roman
Von Norman Dark
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Über dieses E-Book
Gleichzeitig wird die Geschichte eines armen Fischermädchens erzählt, das in den 20er Jahren von seinen Eltern verkauft wird und von der Maiko zur Geisha aufsteigt. Das dunkle Kapitel ihres Werdegangs verschweigt sie, sodass sie erpressbar wird.
Wie beide Geschichten zusammenhängen, erfahren die Leser erst zum Schluss. Dramatische Ereignisse im Japan von einst und jetzt, die unter die Haut gehen.
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Buchvorschau
Lotus im Wind - Norman Dark
Kapitel 1Prolog
PROLOG
Es waren die schwülheißen Tage Mitte August, an denen in Kyōto traditionell das alljährliche bud-dhistische Totenfest, das Obon-Fest gefeiert wurde. Laternen an Hauseingängen, Wegen und Flüssen luden die Seelen verstorbener Ahnen in die Häuser der Hinterbliebenen ein, um dort bewirtet zu werden und mit ihnen gemeinsam die folgenden Nächte zu verbringen, derweil auf den Straßen gefeiert und getanzt wurde. Die Laternen, die während des Festes in Buchten, auf Flüssen, Seen oder dem Meer platziert wurden, ließ man am Ende der Feierlichkeiten abdriften, um damit den Rückweg der Vorfahren zu ihren Gräbern zu symbolisieren. Ein gigantisches Feuerwerk am Ende des Festes hingegen sollte die unerwünschten Geister vertreiben.
Aufführungsorte dieses japanischen Festivals waren neben Tempeln, Schreinen und Kulturzentren auch öffentliche Plätze, wo die Menschen auf ovalen oder kreisförmigen Linien tanzten. In der Mitte gab es meist eine erhöhte hölzerne Plattform, auf der ein Taiko-Trommler den Takt der Musik begleitete. Außerhalb der ovalen Linien säumten immer zahlreiche Zuschauer den Spielort, um den Taiko-Trommlern, den Taiko-Gruppen und den Tanzenden Beifall zu spenden.
Yumiko Koizumi, deren Nachname „kleine Quelle" bedeutete, war die verborgene Welt mit ihren Er-zählungen über Dämonen, Rachegeister, Monster, Zaubertiere, und andere Spukgestalten nicht fremd, denn sie war mit den hyakkumonogatari, einer Sammlung von Gruselgeschichten, aufgewachsen. Wörtlich übersetzt bedeutete das Wort: „Hundert Geschichten". Zugrunde lag eine Geisterbe-schwörungspraxis, bei der die Teilnehmer ab-wechselnd Gespenstergeschichten erzählten und an deren Schluss jeweils eine von hundert Kerzen löschten, die zuvor den Raum erhellten. Nach der letzten Erzählung erschien den Séance-Teilnehmern dann das herbeigerufene Geistwesen. Und auch Yumikos Familie hatte zu denen gehört, die sich am Ende der Regenzeit an heiß-schwülen Sommertagen die kaum weniger erträglichen Abendstunden mit abwechselnd vorgetragenen Gruselgeschichten versüß-ten. Der einhergehende Gänsehautschauer hatte dabei kaum für Abkühlung gesorgt, umso mehr beeinflussten die Geschichten, in denen auch immer wieder yôkai vorkamen, die Träume und die Fantasie der Kinder.
Die yôkai, eine Art dämonischer Wesen, die in Theaterstücken, Erzählungen und sogar in die klas-sischen Geschichtsbücher Einzug gehalten hatten, waren in Japan nach wie vor beliebt und fanden auf Werbeplakaten und Sammelkarten Verwendung. Unter anderem sagte man ihnen nach, dass sie ungenutzte oder vergessene Gegenstände zum Leben erwecken konnten, die sich dann an ihren nachlässigen Besitzern rächten. Dabei war es egal, ob es sich um Musikinstrumente, Möbelstücke, Schiebetüren oder gar Regenschirme handelte. Der Volksmund sagte, dass über neunundneunzig Jahre nicht berührte Dinge sich als Spukgestalten in Erinnerung brachten.
Yumiko konnte an diesem späten Abend nicht sagen, was die Ursache für ihre seltsame Sinnes-wahrnehmung war. Die eigentümliche Atmosphäre des Obon-Festes, die drückende Schwüle, die schaurige Puppe im Theater oder einfach nur Erschöpfung und Müdigkeit. Jedenfalls erschrak sie heftig, als die Küche in dem Haus, das sie bewohnte, ein gänzlich anderes Erscheinungsbild bot. Statt modernen, hochwertigen Geräten und nüchternen Einbauschränken befand sich jetzt mitten im Raum eine rechteckige Öffnung im Holzfußboden, eine Art mit Sand aufgefüllte Grube mit einem lackierter Holzrahmen darum. Von der Decke reichte ein Bambusrohr herab, an dem sich ein Eisendraht in Form eines Fisches zum Aufhängen des Topfes befand. Yumiko erkannte sofort, dass es sich bei der Anlage um den traditionellen japanischen Herd, namens Irori, handelte. Ein Ofentyp, der in der frühen Nara-Zeit neben dem Kochen auch zum Heizen gedient hatte. Auf Fotos und Illustrationen hatte sie diesen Herd öfter gesehen. Außerdem fand eine kleinere Form des Irori noch immer in japanischen Teehäusern Verwendung.
Aber, als sie am Nachmittag das Haus verlassen hatte, war der Herd in ihrer Küche noch ein modernes Ceranfeld gewesen, und ihre Wohnung war alles andere als ein öffentliches Teehaus. Auch konnte man ihr so manches nachsagen, nur eine schlechte Köchin war sie nicht. Schon gar keine, die ihren Herd über Jahre unberührt ließ, weil sie sich nur von mitgebrachtem Fast Food ernährte. Wenn also ein yôkai für den Spuk verantwortlich war, dann hatte er tüchtig danebengegriffen. Nur sagte eine leise Stimme in Yumikos Innerem, dass es eine andere Ursache für diese seltsame Begebenheit geben musste, denn es war nicht die erste, die sich in der letzten Zeit ereignet hatte. Dass es auch nicht die letzte sein würde, wusste Yumiko an diesem Abend noch nicht. Es war mehr eine leise Ahnung, die sie befiel, dass es erst der Beginn einer Kette von mysteriösen Ereignissen war, die nachhaltig ihr Leben beeinflussen würden.
Kapitel 2
Das kleine Mädchen zitterte am ganzen Körper. Die Ursache war weniger der Umstand, dass es in diesem frostigen Winter des Jahres 1920 nur einen dünnen Mantel trug, sondern vielmehr die Furcht vor dem, was da auf es zukommen würde. Als brave Tochter hatte sie nicht widersprochen, als ihre Eltern ihr eröffneten, dass jetzt für sie ein ganz neues Leben beginnen, das ihr Ruhm und Ansehen bringen würde. Man werde sie in kostbare Stoffe hüllen und ihr auserlesene Köstlichkeiten servieren. Sie würde nie wieder Hunger leiden müssen und könnte irgendwann ihre Familie finanziell unterstützen. Die Kleine konnte mit Begriffen wie Ruhm und Ansehen nichts anfangen. Wie edle Stoffe sich anfühlten, wusste sie auch nicht, deshalb vermisste sie diese nicht, und wenn es bei ihrer Familie in dem kleinen Fischerdorf mitunter wenig zu essen gab, so hatte sie das als normal empfunden. Anderen Kindern erging es bestimmt nicht anders, dachte sie. Ihrer Familie zu helfen, indem sie sich in das fremde Ōsaka bringen ließ, war der einzige Grund, weshalb sie die Trennung von ihren Geschwistern und Eltern tapfer ertrug. Sie hatte es sogar fertig gebracht, beim Abschied nicht zu weinen, um ihre Mutter nicht noch trauriger zu machen.
Als sie in das Haus geführt wurde, musste sie zuerst ihre Schuhe ausziehen, um auf den Tatami-Matten keine Flecken zu hinterlassen. Erst dann konnte sie weiter Vordringen auf ihren dünnen, abgetragenen Socken. In dem Raum, in den man sie führte, befanden sich fünf Personen, allesamt weiblich. Die älteste schien eine Dienerin zu sein, denn sie versuchte der kaum jüngeren jeden Wunsch von den Augen abzulesen und war unentwegt bemüht, geschäftig hin und herzulaufen und sich dabei möglichst geräuschlos zu verhalten. Dann gab es noch eine sehr schöne, junge Frau, die ihr langes Haar offen über die Schultern trug und deren Augen den Neuankömmling kritisch musterten, eine ebenfalls sehr hübsche, aber etwas freundlicher Blickende, und ein Mädchen, das einige Jahre älter war als die Kleine. Nur die Zweitälteste saß mitten im Raum, wobei sie ihre Füße und ihren Unterkörper unter der Decke des beheizten Tisches kotatsu wärmte, der im Winter einen Ort der familiären Gemeinsamkeit darstellte, während die anderen sich im Hintergrund hielten. Da sie offensichtlich das Sagen in diesem Haus hatte, ergriff sie sogleich das Wort.
»So, du bist also die kleine Emi. Ich muss sagen, du machst deinem Namen alle Ehre, denn Emi bedeutet mit Schönheit gesegnet, wie du vielleicht weißt. Aber dass dir das nicht zu Kopf steigt, hörst du? Bevor du eine maiko, also eine Geisha-Auszubildende wirst, musst du uns vorerst dienen und einige Zwischenstufen absolvieren. Mit uns meine ich mich und meine Töchter. Ich bin die okāsan dieser okiya. So heißt hier das Wohnhaus der Geisha-„Familie". Ich unterstütze deine Ausbildung, indem ich das komplette Ausbildungsgeld bezahle, das du mir später einmal zurückzahlen wirst. Und bis du eine geiko bzw. Geisha wirst, werden noch viele Jahre vergehen. Gemeinsam sind wir deine neue Familie, deshalb möchte ich, dass du mich „Mutter" nennst.«
Emi zuckte kaum merklich zusammen. Der Gedanke, eine fremde Frau Mutter zu nennen, bereitete ihr augenblicklich Kummer.
»Dreh dich einmal«, sprach die strenge Frau weiter. Die Frau, die Emi für eine Dienerin hielt, gab ihr einen Schubs und machte eine Geste, die sich im Kreis drehen bedeutete.
»Ja, ganz ordentlich. Das könnte etwas werden.«
»Also, ich finde, sie sieht wie eine Bauernmagd aus. Ungelenk und tollpatschig ist sie noch dazu«, sagte die Schönheit mit den weniger freundlichen Augen.
»Vergiss nicht, Sakura, dass es bei dir auch ein langer Weg war, bis du zu der ehrwürdigen Geisha mit den anmutigsten Bewegungen geworden bist«, wies „Mutter" sie in die Schranken. »Es war ein Stück harter Arbeit und hat mich eine Menge Geld gekostet, dass du noch nicht vollständig zurückgezahlt hast.«
Sakura, deren Name mit Kirschbaum beziehungsweise -Blüte gleichzusetzen war, machte ein Gesicht als habe sie auf etwas Saures gebissen.
»Ich hoffe, du bist dir deines Glückes bewusst, hier ausgebildet zu werden«, wandte sich die okāsan wieder an Emi. »Ein Vorzug, den die wenigsten Mädchen in Japan genießen können.«
»Ich werde alles tun, was Sie verlangen«, sagte Emi schüchtern.
»Das ist brav. Dann fang gleich damit an, indem du nicht ungefragt redest. Und dem „Sie fügst du noch „Mutter
hinzu.«
Emi schaute betroffen zu Boden und nickte nur.
»Wenn der Tag gekommen ist, an dem du sechs Jahre, sechs Monate und sechs Tage alt bist, also an deinem 2190. Lebenstag wirst du zunächst eine shikomi und ebenso wie meine kleine Riko die Gesangs- und Tanz-Übungsstätte kaburen-jō hier im hanamachi be-suchen, in dem man deine künstlerischen Fähigkeiten in Bezug auf Tanz und Musik weckt und fördert..«
Emi schaute interessiert zu dem Mädchen hinüber, dessen Name „Jasminkind" bedeutete. In diesem Moment fand sie es ganz normal, dass Riko ihr in der Ausbildung voraus war, da sie ja etwas älter war. Dass man das Wohnviertel der Geishas hanamachi, also Blumenviertel, nannte, gefiel Emi sehr, denn es hörte sich hübsch an und machte die fremde Umgebung etwas weniger feindlich.
»Später gehst du in die „nyokoba" Schule«, sprach die okāsan weiter, »dort findet dann deine Tanzprüfung statt. Aber bis es so weit ist, wirst du hier in der okiya mit deiner Arbeit fleißig Wattan unterstützen.« Mutter deutete auf die ältere Frau, deren Namensbedeutung aus der Heimat lautete. »So, jetzt hast du alle, bis auf meine schöne Tochter Himawari kennengelernt.« Mutter lies ihren Blick zu der Frau mit dem freundlichen Gesicht schweifen. »Auch sie ist eine höchst ehrbare und berühmte geiko, die, was den Ruhm angeht, Sakura kaum nachsteht. Ich möchte, dass du meinen Töchtern mit Respekt begegnest und sie ebenfalls mit „Sie" ansprichst, wenn du ihnen antwortest, außer bei Riko, die nur wenig älter als du ist.«
Die okāsan klatschte in die Hände.
»So, jetzt wird der kleine Dreckspatz gebadet und anschließend ziehst du, Wattan, ihm etwas Vernünftiges an. Es wird Zeit, dass Emi aus ihren Lumpen herauskommt. Am besten, du wirfst alles gleich ins Feuer. Möchtest du noch etwas zu dir nehmen, bevor man dich zur Ruhe bettet, Emi?«
»Ja, wenn Sie so freundlich wären.«
»Wenn Sie so freundlich wären, MUTTER.«
Yumiko saß in ihrem Wohnraum und konnte es kaum erwarten, dass ihre Freundin und Mitbewohnerin, Mayumi, nach Hause kam. Mayumi arbeitete nachts in einer Bar im Kyōtoer Vergnügungsviertel. Dabei verdiente sie so gut, dass sie den Hauptteil der Miete aufbrachte. Yumiko hätte sich das teure Haus am Rande des Gion-Viertels kaum leisten können, da es aber unweit ihrer Arbeitsstätte, dem Gion Corner Theater lag, war sie froh, es so gut getroffen zu haben. Geld war ohnehin kein Thema zwischen den Freundinnen, die sich schon seit der Schulzeit kannten.
Inzwischen hatte die Küche in der unteren Etage des Hauses, die Yumiko nutzte, wieder ihr normales Aussehen angenommen. Der Spuk war schnell vorbei gewesen, aber Yumiko hatte ihn natürlich nicht vergessen können. Auch musste sie immer wieder an die Puppe im Theater denken, die ihr so viel Angst machte. Yumiko trug nämlich zum Programm des Theaters bei, indem sie eine Puppenspielerin des bunraku, einer Puppenspielkunst mit mehr als vier-hundert Jahren Tradition, war. Schon ihr Vater hatte diese Kunst ausgeübt und in seiner Tochter eine begeisterte Schülerin gefunden. Seiner Berühmtheit und Fürsprache hatte sie es zu verdanken, in das Ensemble aufgenommen worden zu sein. Denn es war ein Novum, dass auch Frauen dabei sein durften. Über die Jahrhunderte war bunraku ausschließlich von Männern präsentiert worden. Bunraku-Ken hatte diese Kunst einst in Ōsaka etabliert und sie zunächst „ningyô-jôruri – Puppen-Erzähl-Drama genannt. Dabei vereinten sich drei Künste in einer – Puppenspiel, Gesang und Musikbegleitung – „sanmi ittai
, die besondere Ästhetik der Aufführungen und drei Genüsse in einem.
Die etwa achtzig Zentimeter hohen Puppen trugen prachtvolle Kostüme, wobei die Puppenspieler schwarzgekleidet und maskiert waren, damit sie nicht von den Puppen ablenkten. Nur der Meister, der den Kopf und die rechte Hand der Puppen führte, trug ebenfalls prächtige Kostüme, oft mehrere über-einander, die er bei den Verwandlungen der Puppen zeitgleich abwarf. Ein zweiter Spieler bediente die linke Hand und ein dritter die Füße.
Der dramatische Text - joruri wurde dabei nicht von den Spielern gesprochen, sondern von einem oder mehreren gidayu-Sängern vorgetragen. Emotionen waren nur an deren Mimik, der Interpretation oder an Stimmvariationen abzulesen. Dazu gab es die Be-gleitung einer Langhalslaute – eines sogenannten shamisen – und untergeordneten Musikinstruments wie die „liegende japanische Harfe" das koto, Tamburine und Klanghölzer.
In den frühen Morgenstunden traf Mayumi Tsukuda endlich ein und wunderte sich, ihre Freundin noch wach zu sehen.
»Was ist dir denn widerfahren?«, fragte sie leicht angeheitert, »ist dir ein yôkai begegnet?«
»So könnte man es ausdrücken. Als ich nach Hause kam, hatte sich das Haus ziemlich verändert, genauer gesagt meine Küche.«
Yumiko erzählte kurz von ihrem Erlebnis.
»Das ist mir auch schon passiert«, sagte Mayumi, »dass ich dachte, im falschen Haus gelandet zu sein. Meistens, wenn ich etwas zu viel getrunken hatte.«
»Mit dem Unterschied, dass ich nüchtern war.«
»Jetzt nimm das doch nicht so ernst. Vorüber-gehende Sinnestäuschungen gehören zum Leben. Kein Wunder, bei den vielen Reizen, denen