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Der Pakt der sieben Krieger
Der Pakt der sieben Krieger
Der Pakt der sieben Krieger
eBook671 Seiten10 Stunden

Der Pakt der sieben Krieger

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Über dieses E-Book

Was würdest du tun, wenn du binnen von Sekunden aus deinem bisherigen Dasein gerissen wirst? Wenn du erfährst, dass die Sicherheit, in der du dich geglaubt hast, nie existiert hat? Sarah Kossin, eine junge, unauffällige Frau, muss sich genau mit diesen Fragen auseinandersetzen. Unterstützung erhält sie von Jonas Glenn, der ihr das Leben rettet und sich gemeinsam mit ihr auf eine gefährliche Reise begibt. Sarah deckt schmerzhafte, bedrohliche Wahrheiten auf und muss bald selbst um ihr Leben kämpfen ...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum27. Jan. 2018
ISBN9783742753335
Der Pakt der sieben Krieger

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    Buchvorschau

    Der Pakt der sieben Krieger - Andrea Hubrich

    Der Pakt der sieben Krieger

    Als die Haustür von außen aufgeschlossen wurde und sich gleich darauf öffnete, bahnte sich gleißender Sonnenschein seinen Weg in den Flur. Die junge Frau, die nichts weiter am Leib trug, als eine bis zu den Knien hochgekrempelte, schwarz-weiß karierte Hose, einen dicken, grauen Wollpullover und völlig durchweichte, vor Schlamm und Dreck starrende Turnschuhe, wurde freudig von Tortie, dem alten Hund, begrüßt. Seufzend nahm sie den großen, hellblauen Müllbeutel vom Rücken, stellte ihn neben der Flurgarderobe ab und strich dem Kaukasischen Hütehund beherzt durch das lange, grau-weiße Fell. „Hey, du taube Nuss! Lass mich doch wenigstens die Schuhe ausziehen, ja? Tortie war wirklich taub, denn er hörte noch nicht einmal mehr die Sirene auf dem Dach des Feuerwehrdepots auf der anderen Seite des Flusses, als sie vor etwas mehr als fünfzig Stunden zum ersten Mal Alarm geschlagen hatte. Wenn diese Sirene losheulte, hörte man sie nicht nur im gesamten Tal, sondern auch am Skihang hinter Rebecca und Florian Fincks Haus, und noch weit über die zum Teil dicht bewaldeten Bergkämme hinaus. Vor fast fünf Jahren, als Sarah Tortie zum ersten Mal begegnet war und sie das Herz ihrer Vermieterin mit einem einzigen Satz erobert hatte, war es noch anders gewesen. Überhaupt war alles anders gewesen, denn damals besaß Sarah noch eine Zukunft. Vor knapp zehn Stunden wurde sie davongetragen und blieb mit dem Dachfirst unter der Moschner-Brücke am Ende des Tales stecken. Die junge Frau entledigte sich ihrer Schuhe und stand nun barfuß im Flur des über dreihundert Jahre alten Zweifamilienhauses. Um sie herum hatte sich eine Pfütze gebildet. Das Wasser tropfte nur so aus Sarahs spärlicher Kleidung herab, und erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sie eigentlich fror. Jetzt, während sie allmählich zur Ruhe kam und nachdenken konnte, erschienen ihr die Ereignisse in den vergangenen beiden Tagen so unwirklich, so absurd und realitätsfern, dass sie sich unmöglich ereignet haben konnten. Die Sonne schien doch, und es wurde am Ende des viel zu kalten Märzes endlich wärmer. Der Schnee, der sich im Laufe des monatelang andauernden Winters stellenweise bis zu einer Höhe von über hundertachtzig Zentimetern getürmt hatte, war hier im Tal fast vollkommen weggeschmolzen, und in der Luft lag ein ganz zarter Hauch von Frühling. Doch in diesem Jahr war es viel zu schnell gegangen. Die schweren Regenwolken waren weitergezogen, aber der Stern des Lebens sandte seine Strahlen über eine verwüstete Landschaft. Sein helles Licht beschien eine schreckliche Vernichtung. Es konnte alles nicht wahr sein. Nichts von dem, was in den letzten vierzig, achtundvierzig Stunden passiert war, sollte jemals geschehen. Niemals. Sarah strich Tortie noch einmal über den Rücken. Dazu musste sie sich wenigstens nicht bücken. Der Kaukasier besaß eine Schulterhöhe von achtundneunzig Zentimetern. Sarah war 1,59 Meter groß. Sie war schlank, um nicht zu sagen, schon ein wenig mager, doch ihre kräftigen Oberarme zeugten von harter, fortwährender Arbeit. Die halblangen, dunkelblonden Haare fielen nass und struppig in ihr Gesicht und in den Nacken. Da Sarah die Ärmel des ihr viel zu großen Wollpullovers ebenfalls hochgekrempelt hatte, konnte man an den gleichermaßen kräftigen Unterarmen und auch auf beiden Handrücken einige dunkelrote, verheilte Striemen erkennen. Sie waren unterschiedlich groß, einige schmal und ein paar Zentimeter lang, andere nur wenige Millimeter klein. Verbrennungen. Sie gehörten zu Sarahs Beruf nun mal dazu. Als sie sich in Bewegung setzte, um die letzte Tür am Ende des Flures zu erreichen, hatte die junge Frau das Gefühl, als würde sie eine tonnenschwere Last hinter sich herziehen. Es war einfach zu viel gewesen. Ihr Weg führte Sarah zwangsläufig an dem großen, schmalen Spiegel vorbei, der neben der Flurgarderobe an der Wand hing. Sie kam nicht umhin, vor ihm stehen zu bleiben und jene erbärmliche Gestalt zu mustern, welche ihr das Spiegelbild bot. „Meine Güte, murmelte Sarah, während sie dem riesigen Hund über den Kopf strich. „Das Ding ist kaputt, Tortie. Jetzt zeigt es schon fremde Leute. Sie erkannte sich selbst nicht mehr wieder. Dunkle Schatten umlagerten Sarahs stahlblaue Augen. An den Wangen, am Kinn und an der Stirn prangerten Schlammspritzer, und ein blutiger Kratzer verlief quer über der linken Augenbraue. Er stammte von herumfliegenden Trümmerteilen, als ein riesiger Baum in das Dach eines leer stehenden Schweinestalls krachte und sich Sarah nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Eine halbe Stunde vorher waren in dem alten Gemäuer noch dreißig Schweine untergebracht gewesen, im angrenzenden Nebengebäude 53 Kühe und noch weiter hinten vier Schafe, elf Ziegen und 25 Hühner. Sarah und ihre beiden Nachbarn konnten alle Tiere ins Freie treiben. Später trotteten ihnen auch noch die beiden leicht verstörten Hofkatzen über den Weg. Somit musste das Leben keiner einzigen Kreatur beklagt werden. Nur das zählte. Kurz, nachdem der Baum in eines der insgesamt fünf Stallgebäude gestürzt war, kam das Wasser. Der Bauernhof, ein mittelständiges Landwirtschaftsunternehmen, stand zu nah am Dorfbach. Dessen Pegel betrug zu normalen Zeiten an seiner tiefsten Stelle keine fünfzig Zentimeter. Jener Dorfbach existierte nicht mehr. Er hatte sich in ein reißendes Ungeheuer verwandelt, welches nicht nur den mehrere Hundert Meter weit entfernten Bauernhof mit sich gerissen hatte, sondern nahezu alles, was ihm im Weg stand. Als das Wasser nahezu zeitgleich auch die Traditionsbäckerei erreichte und binnen einer halben Stunde das gesamte Erdgeschoss überflutete, musste Sarah begreifen, dass sie längst nicht alles retten konnte, was sie retten wollte. Vor zehn Stunden musste sie einmal mehr einsehen, auch verlieren zu können. Es war nicht fair. Diese Bäckerei war ihr Leben gewesen, dort verdiente sie mit unentwegter, ehrlicher Arbeit ihren Lohn. Nun war es vorbei. Sarah stand vor den Trümmern ihrer beruflichen Existenz. Sie löste sich von ihrem schauderhaften Spiegelbild und sah zur hintersten Tür am Flurende. Noch ehe sie den Eingang erreicht hatte, wurde er zaghaft von innen geöffnet. „Hallo, Becky, rief Sarah ihrer Vermieterin zu. „Wie geht es euch? Rebecca, eine wohlbeleibte, dunkelhaarige Frau Anfang Fünfzig, starrte Sarah mit weit aufgerissenen Augen an. Statt auf die Frage ihrer Mieterin zu antworten, rief sie: „Du kommst jetzt erst nach Hause? Nach siebenundvierzig Stunden? Sarah zuckte mit den Schultern. Als sie näher trat und sich an die rechte Wandseite quetschte, um Tortie vorbei zu lassen, drang die nächste Frage in ihre Ohren: „Mein Gott, wie siehst du denn aus? Becky nahm Sarah in die Arme, drückte sie kurz an sich und strich ihr über die nassen, schmutzigen Haare. „Es war zu viel gewesen, Becky, rief Sarah leise. „Wir hatten keine Chance. „Hast du dich wenigstens ein bisschen ausgeruht? Sarah schüttelte mit dem Kopf. „Auch nicht für eine Stunde? Du musst doch wenigstens etwas gegessen haben! Die Jüngere der beiden Frauen lächelte matt, während sie antwortete: „Ja, doch. Als unsere Bäckerei noch stand, haben wir uns zwei Schubkarren geschnappt und soviel Brot und Brötchen heraus geschleppt, wie wir tragen konnten. Florian war der Letzte gewesen. Er konnte gerade noch entkommen, bevor das ganze verdammte Haus einfach davon geschwemmt wurde. Plötzlich traten Sarah Tränen in die Augen. Sie lächelte immer noch, doch während sie davon sprach, wie knapp sie und ihre Truppe mit dem Leben davon gekommen waren, begann sie zu verstehen, dass niemals wieder irgendjemand auch nur einen einzigen Fuß in die Bäckerei setzen würde. Sicherlich trug auch ihre Erschöpfung dazu bei, dass Sarah weinen musste. Sie war am Ende ihrer Kräfte und bemerkte erst jetzt, wie fertig sie nach knapp zwei Tagen des unermüdlichen Noteinsatzes eigentlich war. Becky umarmte Sarah noch einmal. „Denke nicht darüber nach, Kind. Nicht jetzt. Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich dir oben ein heißes Bad einlassen. Es wird dir gut tun. Meine Mutti hat nach dir gefragt. Du weißt ja, wie sie ist. Sie hat die Bilder im Fernsehen gesehen. Es waren meistens Luftaufnahmen gewesen, aber wir haben euch erkennen können, als ihr Florian vom Bäckereigrundstück gezerrt habt und gerade noch das Brot in Sicherheit bringen konntet, bevor das Gebäude in die Fluten stürzte. Unser Dorf ist im ganzen Land berühmt geworden. Die Bilder werden auf fast allen Kanälen ausgestrahlt. Becky sprach die letzten Sätze mit fremder Stimme, denn wüsste auch sie es nicht besser, so wollte sie liebend gern glauben, dies alles sei nur ein schlechter Film gewesen. „Ach, Becky, seufzte Sarah. „Auf diesen Ruhm möchte ich nur zu gern verzichten. Aber nun sag’ schon. Wie geht es Mariechen? Sarah hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sie ihren Namen rufen hörte. Sie öffnete die angelehnte Tür vollends und betrat einen hellen, lichtdurchfluteten Raum. Die linke Wandseite wurde fast vollständig von einer Anbauwand aus dunklem Holz vereinnahmt. Die breite Fensterseite mit der gläsernen Balkontür wurde mit etlichen Zimmerpflanzen begrünt, und an der rechten Wandseite stand Mariechens Bett. Das Fußende des Schlaflagers zeigte zum Fenster. Mariechen lächelte, als sie Sarahs Stimme erkannte. „Oh, mein Schätzchen! Wie schön, dass du da bist! Ich habe dich im Fernsehen gesehen. Dich, Florian und ein paar Leute aus dem Dorf. Ich hatte ja keine Ahnung, wie schlimm es wirklich ist! „Ich hoffe, dass wir das Gröbste überstanden haben, Mariechen! Sarah setzte sich auf jenen Stuhl, auf dem zuvor Becky gesessen und gemeinsam mit ihrer Mutter die neuesten Ereignisse im Fernsehen verfolgt hatte. Mariechen war weit über achtzig Jahre alt, geistig noch völlig wach und bis auf ein paar kleine Zipperlein kerngesund. Nur ihre Beine gaben vor fast neun Jahren schon ihren Dienst auf. Sarah hatte die Mutter ihrer Vermieterin niemals eigenständig stehen gesehen. „Wie geht es dir?, wollte Sarah wissen. Sie nahm die knochige Hand der alten Frau und streichelte sie sanft. „Seit der Strom wieder gekommen ist und auch das Telefon funktioniert, geht es mir viel besser. Sarah erinnerte sich. Anfangs, noch bevor die Hölle auf Erden über das kleine Dorf hereingebrochen war, kündigte sich das Unheil mit dem Stromausfall an. Im gesamten Ort herrschte völlige Finsternis. Keine zwanzig Minuten später brach auch das Mobilfunknetz zusammen, sodass Hohenhausen vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten war. Wann beides wieder zu funktionieren begann, wusste Sarah nicht. Als sie zu dem Mann in dem schwarzen GMC-Geländewagen hinübersah und sie erkennen konnte, dass er sie immer noch ganz genau beobachtete, während er sein Handy ans Ohr hielt und telefonierte, war es schätzungsweise kurz nach Mittag gewesen. Seit ein paar Tagen klebte der dunkle GMC wie ein zweiter Schatten an Sarahs Fersen, und sie konnte sich nicht erklären, warum. Das erste Mal, als sie den befremdlich wirkenden Wagen erblickte, war am Montagmorgen gewesen, also vor zwei Tagen erst. Der Wetterbericht hatte zum ersten Mal am Freitagnachmittag in der vorangegangenen Woche von einsetzendem Tauwetter in den Bergen gesprochen und vorsichtshalber eine Unwetter- und Lawinenwarnung herausgegeben. Letzteres geschah in einem Mittelgebirge so gut wie nie. Selbst die Dorfältesten, von denen viele schon seit mehr als siebzig Jahren in Hohenhausen wohnten, konnten sich an eine Lawinenwarnung nicht erinnern. Jedoch wurde die Wirklichkeit von den Vorhersagen der Wetterfrösche bei Weitem übertroffen. Keiner konnte am Wochenanfang ahnen, wie schlimm es wirklich werden würde. Doch seit genau diesem Montag wurde Sarah auf Schritt und Tritt beobachtet. In den vergangenen beiden Tagen hatte sie keine Zeit mehr gehabt, um darüber nachzudenken. Erst vorhin, ehe sie die Haustür aufgeschlossen hatte, drehte sie sich noch einmal um und erblickte zwischen den reißenden Fluten des Dorfbachs und der heimischen Auffahrt zur Garage, dieses unheimliche Auto mit dem heruntergelassenen, getönten Fenster auf der Fahrerseite. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber Sarah stand nicht der Sinn danach, um sich mit dem Fremden anzulegen. Vielleicht sah sie auch nur Gespenster. Vielleicht war es nur ein verspäteter Winterurlauber gewesen, der den Abschluss der Skisaison fernab des üblichen Trubels feiern wollte und nun in Hohenhausen festsaß. Die einzige, größere Zufahrtsstraße auf der Seite des Skihanges war auf einer Länge von knapp vierzig Metern einfach nicht mehr da. Sie fiel wie so vieles der entfesselten Naturgewalt zum Opfer. In Gedanken an die zerstörte Verbindung zur Außenwelt, lehnte sich Sarah zurück. Sie wollte am liebsten für den Rest ihres Lebens auf diesem Stuhl sitzen bleiben. Es geschah zum ersten Mal seit über zwei Tagen, dass sie länger als eine Minute am Stück in einem warmen, trockenen Zimmer saß, ihre schmerzenden, kalten Füße von sich strecken konnte und die großen Hautfetzen entdecke, die sich von ihren aufgeweichten Fußsohlen gelöst hatten. Dennoch kämpfte sich Sarah wieder hoch. „Sei mir nicht böse, meine Liebe, aber Becky lässt mir gerade ein heißes Bad ein. Ich bin so müde! Mariechen lächelte. Ihre grauen Augen musterten die über sechzig Jahre jüngere Frau, während sie sprach: „Du musst dich nicht entschuldigen! Was du, was ihr getan habt, war großartig und heldenhaft! Florian war einmal kurz hier, als er sich trockene Kleidung geholt hat. Er hat uns erzählt, wie mutig und rastlos ihr gearbeitet habt! Unser Dorf ist euch allen zu großem Dank verpflichtet! „Aber Mariechen, entgegnete Sarah ein wenig peinlich berührt. Sie war es einfach nicht gewöhnt, dass sich jemand so überschwänglich und herzlich bei ihr bedankte. „Es hätte doch jeder getan, nicht nur wir Zwölf. Denke nur mal an unsere Feuerwehrleute. Außerdem kommt man in manchen Situationen einfach nicht mehr dazu, großartig nachzudenken. Dann muss man handeln, ohne Fragen zu stellen. Ich bin nur froh, dass keinem von uns etwas Schlimmeres passiert ist. Soweit ich weiß, gab es bisher auch nur Sachschäden. Niemand wurde ernsthaft verletzt, und ich glaube, dafür sollten wir trotz allem, was passiert ist, dankbar sein!" Sarah begab sich zur Tür, winkte Mariechen zu und verabschiedete sich von ihr. Tortie blieb am Krankenbett sitzen und bewachte die alte Dame. Diese Aufgabe übernahm er oft und gern. Mariechen hatte ihm vor elf Jahren, als er ein sechs Wochen alter Welpe war und sie noch laufen konnte, das Leben gerettet. Ein treues Hundeherz vergisst so etwas nicht.

    Bevor Sarah in das eingelassene Badewasser eintauchen konnte, leerte sie den blauen Müllsack. Sie förderte ein nasses, schmutziges Kleidungsstück nach dem anderen zutage. Eine dicke Winterjacke hing nun auf einem Wäscheständer im Bad, ebenso eine verschmutzte Jeanshose, vier Paar Socken, ein dunkelblaues T-Shirt und eine braune Kapuzenjacke. Auf dem Badezimmerschrank, unter dem Waschbecken, lag eine große, rote Taschenlampe, daneben ein Handy, die Schlüssel und Sarahs Portemonnaie. Auf einem Wischlappen unter der Heizung standen schwarzgraue Gummistiefel, die gänzlich ruinierten Turnschuhe, sowie ein Paar einstmals weiße Pantoletten. Ausnahmslos alles, was Sarah bei sich getragen und irgendwann in diese Mülltüte gestopft hatte, war völlig durchgeweicht. Sie wunderte sich nur, dass ihr Handy noch funktionierte. Es war schon einige Jahre alt, und als sie es gekauft hatte, war es schon nicht mehr neu gewesen. Für ein besseres Telefon fehlte Sarah das Geld. Nun saß sie auf der Toilette, denn auch dafür konnte sie sich nach mehr als zwei Tagen endlich wieder genug Zeit nehmen. Sie rieb sich ihre brennenden, müden Augen, als das Mobiltelefon klingelte. Der schrille Ton erschreckte Sarah bis ins Mark, denn sie rechnete nicht damit, dass es überhaupt jemals wieder klingeln würde. Zu den wenigen Menschen, die im Besitz von Sarahs Telefonnummer waren, gehörten nur Becky und Florian, sowie ihr Backstubenmeister und ihre beiden Kolleginnen aus dem Verkauf. Sarah sah auf das Display. Unbekannter Anrufer. Sie zögerte einen Moment lang, dann nahm sie ab. Ihr Blick richtete sich auf das geblümte Toilettenpapier neben sich, während sie in einem wunderlichen Anfall von Sarkasmus sprach: „Friedhofsgärtnerei Immergrün, wir führen auch Klopapier mit Blümchenmuster! Welchen Traum dürfen wir für Sie begraben? Nach einer kurzen Pause von vielleicht zwei, drei Sekunden, in denen der Anrufer überlegte, was er auf diese alberne Begrüßung antworten sollte, rief er: „Sie müssen aus diesem Haus verschwinden! Sarah nahm das Handy vom Ohr und sah es verwundert an. Als sie es wieder anlegte, rief sie: „Geht’s noch? Ich sitze gerade auf dem Scheißhaus, und dort fühle ich mich zurzeit auch wirklich pudelwohl! Was soll das überhaupt? Wer spricht da? „Hören Sie mir zu! Ich habe keine Zeit für Späße oder lange Erklärungen! Sie sind in höchster Gefahr! Plötzlich begriff Sarah. Sie sah alles so klar vor sich. Alles passte zusammen. „Mein Vater schickt Sie, habe ich Recht? „Er hat mich beauftragt, Sie von hier wegzubringen, falls Sie in Schwierigkeiten geraten! Ich stehe mit dem Wagen vor Ihrem Haus ...! „Der schwarze GMC, unterbrach Sarah ihren Gesprächspartner. „Ich weiß. Sie waren nicht zu übersehen! Aber nun hören Sie mir zu, und spitzen Sie Ihre Lauschlappen gefälligst genau! Da Sie seit Beginn dieser Woche wie fest gebacken an meinem Arsch kleben und es seltsamerweise immer geschafft haben, sich genau dort aufzuhalten, wo ich mich gerade befunden habe, dürften Sie ja mitbekommen haben, dass ich in letzten Tagen keinen Kindergeburtstag veranstaltet habe! Ich habe keine Ahnung, wie Sie an meine Handynummer gekommen sind, ebenso wenig, wie ich weiß, wie viel Ihnen mein Vater zahlt! Beides interessiert mich im Moment auch überhaupt nicht, aber Sie können Ihrem Boss ausrichten, dass Sie Ihren Wirkungsbereich zukünftig wohl unter eine Brücke verlagern müssen! Dort werde ich nämlich landen, weil ich vor ganz genau elf Stunden erst meinen Arbeitsplatz verloren habe und nun nicht mehr weiß, von welchem Geld ich meine Miete bezahlen soll! Und nun entschuldigen Sie mich bitte! Ich werde jetzt in die Badewanne steigen, etwas essen und dann zu Bett gehen, damit Sie auch wissen, was Sie in Ihr verdammtes Protokoll schreiben sollen! Auf Wiederhören! „Sie verstehen nicht ...! Sarah unterbrach die Verbindung und schleuderte ihr Handy mit einer fahrigen Bewegung auf den Unterschrank, der sich neben ihr befand, zurück. In ihre Erschöpfung mischte sich Wut. All ihre Bemühungen, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, all die Opfer, die sie in den vergangenen fünf Jahren gebracht hatte, waren vergebens. Ihr alter Herr, ihr Erzeuger, hatte Sarah aufgespürt. Als sie sich damals in diesem kleinen Ort im Erzgebirge versteckt und den Mädchennamen ihrer über alles geliebten Mutter angenommen hatte, war sie sich sicher gewesen, für den mächtigen Patriarchen und Erben eines der größten deutschen Transportunternehmen unauffindbar zu sein. Sarah hatte sich geirrt. Einen Herbert Lansink konnte niemand an der Nase herumführen. Auch nicht seine eigene Tochter. Erneut klingelte das Handy. Ohne nachzudenken, erhaschte Sarah das kleine, schwarze Teil und warf es in die Badewanne. Es versank in den weißen Schaumfluten und verstummte, noch bevor es den Boden des mit dampfendem Wasser gefüllten Bottichs erreicht hatte. Zufrieden stand Sarah auf, ließ die Jalousie am Badezimmerfenster herab und zog sich aus. Als sie ins Wasser stieg und die wohlig warmen Wellen auf ihrer Haut spürte, veränderte sich ihr wütender Gesichtsausdruck in ein Lächeln. Sie fischte das abgesoffene Mobiltelefon heraus, warf es mit voller Wucht gegen die gegenüberliegende Badezimmerwand und beobachtete begeistert, wie es in viele kleine Einzelteile zersprang. Heute würde sie keiner mehr nerven. Doch kaum hatte Sarah diesen Gedanken zu Ende gebracht, klopfte es leise an die Tür. Die junge Frau tauchte soweit in das herrlich wohltuende Badewasser ab, bis nur noch ihr Hals und ihr Kopf herausragten, bevor sie rief: „Ja, bitte? Beckys Kopf lugte herein. „Entschuldige bitte! Ich habe dir ein paar warme Sachen zurechtgelegt und ein paar Brote zubereitet. Schwester Berit hat eben angerufen. Sie wird es schaffen und heute noch nach Marie sehen. Sie ist gerade eingeschlafen. Seit sie weiß, dass es dir gut geht, ist die gesamte Anspannung von ihr abgefallen. Tortie muss aber raus, und so werde ich ihn mitnehmen, wenn ich nach Florian suche. Kommst du zurecht? Sarah lächelte. „Aber natürlich. Ich werde nur noch etwas essen und mich gleich hinlegen. Berit hat doch einen Haustürschlüssel, also braucht sie mich nicht. Bis später, okay? Und vielen Dank für deine Mühe! Becky lächelte beruhigt. „Keine Ursache! Bis später. Ich nehme mein Handy mit, falls etwas sein sollte. Mach´s gut!"

    Sarah fand die liebevoll zurechtgelegten Kleidungsstücke in ihrem wenige Quadratmeter großen Wohn- und Schlafzimmer. Es gehörte neben dem Bad und der winzigen Kochnische zu Sarahs kleinem, aber gemütlichem Reich. Eine warme Baumwollhose, dicke, selbst gestrickte Wollsocken, sowie ein T-Shirt und ein weicher, warmer Pullover lagen auf der Schlafcouch. Auf dem Schreibtisch, auf dem unter anderem ein alter Fernseher und ein noch älterer Computer ihren Platz gefunden hatten, entdeckte Sarah einen Teller. Auf ihm lagen vier mit Wurst und Käse belegte Brötchenhälften, sowie einige Gurkenscheiben und Tomatenecken. Still in sich hinein lächelnd, dankte Sarah ihrer lieben Vermieterin. Mit eben solchen Kleinigkeiten zeigte Becky ihre tiefe Verbundenheit für die aufopferungsvolle Pflege und Betreuung von Marie, die Sarah immer dann übernahm, wenn Becky auf Arbeit war und sich Florian auf Montage in ganz Deutschland befand. Kaum hatte sich Sarah fertig angezogen, klingelte es unten am Hauseingang. Genervt rollte die junge Frau mit den Augen und hastete zu ihrer Zimmertür. „Becky?, rief sie laut. Das von Sarah bewohnte Obergeschoss stellte keine in sich geschlossene Wohnung im eigentlichen Sinne dar, sondern bestand aus einem offenen Flur, der an der Treppe endete. „Becky? Bist du noch da? Sarah erhielt keine Antwort. Stattdessen wiederholte sich das Läuten der Türglocke, diesmal lang anhaltender und ungeduldiger. „Ja, zum Teufel, ich komme doch schon! Sarah schleppte sich langsam die letzten Treppenstufen ins Erdgeschoss hinunter, denn sie war inzwischen so müde und erschöpft, dass ihre Beine nicht mehr richtig gehorchen wollten. So schlich sie an der Flurgarderobe mit dem großen Spiegel und dem Schuhschrank vorbei. Sobald sie die Haustür öffnete, blickte sie in das von leichter Panik ergriffene Gesicht des von ihr so forsch abgewiesenen Anrufers. „Sie verstehen nicht, Miss Kossin! Sie schweben in höchster Gefahr, rief der Fremde betont und nachdrücklich. Er war mindestens fünfundzwanzig Zentimeter größer als Sarah, hatte kurzes, fahl-blondes Haar und musste um die 55 Jahre alt sein, jedoch keinesfalls älter. Seine Augen musterten die junge Frau mit unverhohlenem Entsetzen. Wahrscheinlich hatte er noch nie so einen abgehalfterten, übernächtigten Menschen gesehen. Erst jetzt fielen Sarah wieder ihre dunklen Augenringe ein, ein Zeichen ihrer anhaltenden Übermüdung. Dennoch schien ihre herabwürdigende Schlagfertigkeit von diesem Umstand noch nichts mitbekommen zu haben. Aufgebracht rief sie: „Miss Kossin? Also gut, Sie aufgeblasener Riesengorilla! Helfen Sie mir doch bitte auf die Sprünge, okay? Ich kann Ihnen nämlich gedanklich gerade nicht mehr folgen! Entweder sind Sie blind, taub, oder einfach nur dämlich, aber ich werde mich hüten, mit Ihnen in diesen Wagen zu steigen! Sie deutete an den großen Mann vorbei und hinunter zur Straße. Dabei stellte sie besorgt fest, dass der aus allen Ufern geratene Dorfbach begann, auch diesen Teil der Straße zu überfluten. „Nun halten Sie aber mal die Luft an, ja?, schimpfte der Angestellte von Sarahs verhasstem Vater. „Spüren Sie es denn nicht? „Was spüren? Meine müden Knochen, oder diesen verdammten Muskelkater? Natürlich! Schon seit spätestens gestern früh und im gesamten Körper! Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, bemerkte sie das Beben der Erde. Es waren winzige, fast nicht wahrnehmbare Erschütterungen, doch sie veranlassten, dass ein selbst gemaltes Landschaftsbild von der linken Flurwand zu Boden fiel und die Glasscheibe zerbrach. Von der einen Sekunde zur nächsten wich Sarahs Streitsucht einer furchtbaren Panik, welche die des Fremden um Längen übertraf. „Was ist das?, hauchte sie mit weit aufgerissenen Augen. „Wir haben keine Zeit mehr! Der ganze Hang gerät in Bewegung! Kommen Sie! Jetzt erst drang ihr das dumpfe Grollen in die Ohren. Gerade eben konnte sie außer dem lauten Rauschen des Dorfbachs nichts anderes wahrnehmen, aber jetzt hörte sie neben dem Getöse des Wassers auch das ferne Rutschen von schweren, regennassen Schneemassen. Doch anstatt ins sichere Freie zu flüchten, kehrte Sarah auf einem Absatz um und rannte ins Haus zurück. „Marie! Mariechen! Aus dem Zimmer am Ende des Flures im Erdgeschoss hörte Sarah die alte Dame rufen. Sie erreichte die Tür, stieß sie auf und blieb erschrocken unter dem Rahmen stehen. Von ihrer Position aus hatte Sarah einen freien, weitreichenden Blick auf den knapp einen Kilometer weit entfernten Hang, der sich hinter dem Haus befand. Die gesamte Böschung bewegte sich. Die von den tagelangen Regenfällen zersetzen Schneemassen stürzten den steilen Abhang hinunter und rasten geradewegs auf das einzige Haus zu, welches direkt am Fuße des Berges stand. Alle anderen Gebäude, die sich in der näheren Umgebung befanden, wurden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichtet und standen in relativ sicherer Entfernung. Nur das Haus der Fincks wurde in der Gefahrenzone aus dem Boden gestampft, damals, vor über dreihundert Jahren, noch bevor die Menschen ihren Fehler bemerkt hatten und die erste Lawine nur haarscharf an dem Anwesen vorbei stürzte. Die letzte Lawine ging 1928 über Hohenhausen nieder und streifte genau jenes Haus, in dem Sarah heute wohnte. Welcher geistig umnachtete Trottel kam damals nur auf diese beschissene Idee, es überhaupt wieder aufzubauen? Sarah löste sich vom fesselnden Anblick der schmutzig weißen Schneemassen und eilte zu Maries Bett. „Komm, wir haben keine Zeit mehr! Ich bringe dich hier raus! Mariechen schüttelte mit dem Kopf. „Nein, Schätzchen, das wirst du nicht. Ihre Stimme strahlte eine seltsame Ruhe aus. Sarah konnte sich die Gelassenheit der alten Dame nicht erklären. „Was redest du da? Natürlich werde ich dich in Sicherheit bringen! Sie versuchte, Mariechen in ihrem Bett aufzurichten. Fast gleichzeitig griff sie nach dem Rollstuhl, der am Fußende stand. Sarahs Hände waren überall. Wie in Trance verrichtete sie ihre Tätigkeiten, ohne genauer zu überlegen. Und ohne in Mariechens Gesicht zu sehen, denn hätte es die junge Frau getan, so wäre ihr der Unmut der hochbetagten Seniorin aufgefallen. Sarah wollte Mariechens Bettdecke beiseite ziehen, doch dies ließ die Pflegebedürftige nicht zu. „Nein, Kind! Verschwinde von hier. Ich werde bleiben. Meine Zeit ist gekommen. Entsetzt blickte Sarah in ihre Augen. „Was ist denn los mit dir? Ich kann dich doch nicht zurücklassen! „Geh! Ich will, dass du aufbrichst! Es ist in Ordnung! „Marie, wimmerte Sarah vor Fassungslosigkeit. „Ich habe dich immer geliebt, mein Kind! Du bist mein Engel, mein Stern in letzten fünf Jahren gewesen! Richte Florian aus, dass er auch weiterhin auf meine Becky aufpassen soll! Gott beschütze euch! „Mariechen, stammelte Sarah erneut. Unversehens und ohne Vorwarnung wurde sie am Ärmel ihres Pullovers gepackt und aus dem Zimmer gerissen. Sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und fiel der Länge nach im Flur hin, wobei sich der derbe Griff um ihr Handgelenk gelöst hatte. Die junge Frau rutschte einen knappen Meter über den Parkettfußboden und kam auf halbem Wege zur Flurgarderobe zum Stillstand. Bevor die schweren, nassen Schneemassen durch die Fenster des Hauses hereinbrachen, bevor das gesamte Gebäude unter der Tonnenlast über sie zusammenstürzte, sah Sarah, dass der Fremde die offenstehende Haustür erreicht hatte und mit einem gewaltigen Satz den Treppenaufgang hinuntergesprungen war. Dann wurde ihr schwarz vor Augen, und der allgegenwärtige Lärm erstarb. Sarah wurde unter den Schneemassen und den Trümmern des Hauses begraben.

    Der Fremde war an seinem Auto angelangt, als die Lawine die hintere Seite des Wohnhauses erreicht hatte und die starken Mauern einzudrücken begann. Seiner jahrzehntelangen Berufserfahrung verdankte er jenen Umstand, dass er den Motor seines Wagens angelassen hatte, bevor er an der Haustür der Fincks geklingelt hatte. Sobald er die winzigste Regung aus dem entfernten Hintergrund des Gebäudes vernommen hatte, bestimmten immer wieder trainierte und geübte Handgriffe sein weiteres Schaffen. Nun trat er das Gaspedal des schwarzen GMC bis zum Anschlag durch und brachte sich mit knapper Not in Sicherheit. Im Rückspiegel beobachtete er, dass genau dort, wo er vor einer, vielleicht auch zwei Sekunden noch gestanden hatte, ein Meer aus wässrigem Schnee und Gebäudeteilen über die Straße krachte und in den weiterhin stark angeschwollenen Dorfbach zu rutschen drohte. Die ersten Trümmer hatten das Wasser bereits erreicht und wurden von der reißenden Strömung sogleich davongetragen. „Scheiße, fluchte der hünenhafte Kerl laut vor sich hin und schlug mit beiden Handballen mehrmals auf das schwarze Lenkrad ein. So abrupt, wie er auf das Gaspedal getreten war, drückte er nun auf die Bremsen. Seine Rechnung hatte er jedoch ohne das Risiko des Aquaplanings gemacht. Der GMC entzog sich für wenige Augenblicke der Kontrolle des Fahrers und schleuderte mit einer viertel Drehung über den Asphalt. Die Motorhaube versank leicht im flachen Straßengraben und zeigte nun direkt auf den riesigen, abgerutschten Hang. Dort, wo zuvor der zusammengesunkene, schwere Schnee gelegen hatte, zeigten sich nun hässliche braune und gelblich graue Grasflecken. Der Fremde schaute aus dem immer noch geöffneten Fenster auf der Fahrerseite. Das Haus der Fincks glich einer Trümmerwüste. Er stieg aus und hastete zu dem Wirrwarr aus Holzbalken, Mauerresten, Ziegeln und festgedrücktem Schnee hinüber. In Gedanken überschlug er die letzte Position seiner Schutzbefohlenen, jener Frau, für deren Sicherheit und Unversehrtheit er nahezu fürstlich entlohnt wurde. Doch so, wie die Dinge jetzt standen, würde er sich nicht nur seinen nächsten Gehaltsscheck in die Haare schmieren können, sondern auch gleich den gesamten, verteufelten Auftrag. Die Chancen, dass jemand diesem Inferno bei lebendigem Leibe entfliehen konnte, standen gleich Null. Vor allem erst recht, wenn er in das eiskalte Wasser gerutscht sein sollte. Der alte Lansink musste sich wohl der übel damit abfinden, dass seine Tochter den Lawinenabgang nicht überlebt haben würde. Wider jeglicher Vernunft, begann er trotzdem zu graben. Die einzigen Waffen im Kampf gegen die Zeit waren die Hoffnung auf ein Wunder und seine großen Hände gewesen, die unermüdlich die Trümmer und den Schnee beiseite schaufelten. Je erfolgloser er dabei vorging, desto verzweifelter wurde er. „Komm schon, Mädchen, murmelte er vor sich hin. „Gib mir ein Zeichen! Eine knappe Minute später umfassten seine kalten, blutig gewetzten Hände eine ebenfalls kalte Frauenhand. Sie war von verheilten Brandnarben und frischen Hautabschürfungen überzogen. „Na endlich! Erleichtert stieß der Fremde einen Seufzer aus und grub hastig weiter. Er befreite Sarahs Kopf, säuberte ihre Mundhöhle von halb verschlucktem Schnee und begann, die Verschüttete zu beatmen. Fünf Mal blies er Luft in Sarahs zusammengepresste Lungen, ehe sie ihren Kopf nach hinten fallen ließ und mit geschlossenen Augen zu husten begann. Dabei spie sie feuchten Dreck und kleine Holzsplitter aus. Nachdem es ihm gelungen war, auch den Rest des verschütteten Körpers freizulegen, hob er die erschlaffte, ohnmächtig gewordene Frau an und trug sie zu dem immer noch quer zur gesamten Fahrbahnbreite stehenden GMC. Der Fahrer des Wagens legte Sarah auf der Rückbank des Geländewagens ab und begann, nach eventuellen Knochenbrüchen zu tasten. Zwar war er kein Arzt gewesen, doch sein Beruf verlangte von ihm, dass er in jedem Jahr einen Auffrischungskurs im Sanitätswesen besuchen musste, was ihm nun zugutekam. Erleichtert stellte er fest, dass Sarah bisher keine Anzeichen von schwereren Verletzungen aufwies. Nur die große Wunde am Hinterkopf bereitete ihm Sorgen. Sie blutete stark und musste genäht werden. Darum würde er sich jedoch erst später kümmern können, ebenso um die zahlreichen anderen Schnittverletzungen und Blessuren. Zunächst einmal wäre er gut beraten, von hier zu verschwinden. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Sarah gleichmäßig und flach atmete, schloss er die hintere Tür des Wagens, stieg vorn ein und lenkte den GMC mit geschickten Zügen in die richtige Richtung. Der Weg des Fremden führte ihn durch den noch stehenden Rest von Hohenhausen, vorbei an den letzten Häusern des Dorfes und aus diesem Höllenschlund heraus. Am Ende des Tales bog der Wagen ab und fuhr tief in den Wald hinein.

    Nach einer holprigen Fahrt über schlammige, unebene Waldwege, erreichte der GMC eine alte, verlassene Blockhütte. Der Zufahrtsweg zu der von Bäumen und Sträuchern umwucherten Behausung war freigeschaufelt worden und stand aufgrund des eingesetzten Tauwetters völlig unter Wasser. Sobald der Fahrer des über und über mit Schlamm bedeckten Geländewagens unmittelbar vor dem verschlossenen Eingang der Hütte geparkt hatte, stieg er aus und öffnete die Autotür hinter dem Fahrersitz. Sarah war immer noch bewusstlos. Sie atmete kaum spürbar, jedoch – und nur das war wichtig – regelmäßig und rhythmisch. Der Fremde bugsierte sie aus dem Wagen und stieß die recht massive Holztür des Blockhauses auf. Drinnen umfing ihn der muffige Geruch von altem Holz, Staub und jahrelanger Verlassenheit. Wenigstens herrschte eine verhältnismäßig angenehme Wärme, welche von der einzigen Feuerstelle des Holzhauses, einem altgedienten, gusseisernen Ofen stammte. Sarahs Retter trug die ohnmächtige Frauengestalt in einen winzigen Nebenraum, in dem neben einem wenig vertrauenerweckenden Bett nur eine Kommode mit drei Schubladen, sowie ein uralter, durchgesessener Stuhl standen. Das einzige Fenster war schmutzig und ließ das gedämpfte Licht der aufziehenden Abenddämmerung nur spärlich in den Raum. Dank eines neuen Generators verfügte die gesamte Hütte immerhin über Strom, sodass die Deckenlampe ihren kargen Schein im Zimmer ausbreiten konnte. Es musste genügen. Sobald der Fremde Sarah auf das Bett gelegt hatte, begann er, ihre triefenden Baumwollhosen, die Wollsocken und den ebenfalls nassen, mit Blut durchdrängten Pullover auszuziehen. Die gesamte Kleidung der Verletzten war durchnässt und bot überhaupt keinen Schutz vor der klammen Kälte, die Sarah inzwischen bis unter die Haut gekrochen war und ihre Lippen lila-bläulich eingefärbt hatte. Ein Blick auf das angesetzte Fieberthermometer verriet ihre gesunkene Körpertemperatur: 30,2 Grad Celsius. Dieser Wert war noch nicht lebensbedrohlich, doch er zeigte bereits die Unterkühlung der Bewusstlosen an. Im Zusammenhang mit der fehlenden Nahrungsaufnahme, dem Flüssigkeitsmangel und dem deutlichen Blutverlust, den Sarah aufgrund ihrer Wunde am Hinterkopf davongetragen hatte, konnte sich diese leichte Hypothermie jedoch zu einem ausgewachsenen Problem entwickeln. Das Letzte, was der Fremde sich wünschte, war eine Lungenentzündung seines Schützlings. Er zog Sarah zwei Paar trockene und warme Kniestrümpfe an und deckte sie mit ebenfalls zwei dicken, weichen Decken bis zum Hals zu. Dann verließ er kurz den Raum und kam mit einem großen, dunkelgrünen Nylonrucksack wieder. Darin befand sich alles, was er brauchte: Einmalhandschuhe, Infusionsnadeln, Spritzen, Nährstofflösungen, Vitaminpräparate, Schmerzmittel und Narkotika in flüssiger und auch in Tablettenform, Desinfektionsspray, eine Chirurgennadel und jede Menge Verbandszeug. All diese Sachen hatte er sich am Montagmorgen erst besorgt, bevor er nach einer fast sechs Stunden andauernden Autofahrt endlich in Hohenhausen angekommen war und die gegenwärtige Situation mit seinem scharfen, objektiven Verstand beurteilt hatte. Die Katastrophe war noch nicht völlig über den kleinen Ort hereingebrochen, doch sie kündigte sich bereits mit jenem starken Regen an, der beinahe blitzartig begann und erst am heutigen Mittwochvormittag aufgehört hatte. Es war sein Wochenende gewesen. Der Retter bereute es fast, nach Hause geflogen zu sein, denn die Vorboten des Unwetters dämmerten bereits in der vergangen Wochen herauf. Zu allem Übel stand er am Montag Vormittag beinahe drei Stunden lang auf der Autobahn A5 im Stau. Die Zeit, die er dabei vergeudet hatte, hätte ausgereicht, um das Bundesland Sachsen zu erreichen. Nun, er war zum Glück noch rechtzeitig in Hohenhausen angekommen, bevor die Zufahrtsstraßen gesperrt oder unpassierbar wurden. Lansink hatte am Sonntag Mittag Alarm geschlagen und ihn nach Frankfurt gerufen. Dort wäre er auch schon früher losgefahren, doch es mussten wichtige Schritte eingeleitet werden, welche sich unter Umständen schon sehr bald auszahlen würden. Nun blieb ihm nicht mehr viel Zeit, doch er schaffte es, seine Vorbereitungen zu treffen, die es ihm im schlimmsten Fall erlaubten, überwiegend sachgemäß und komplikationslos handeln zu können. Nun, der schlimmstmögliche Fall war eingetreten, worüber er sich zwar keinesfalls freute. Doch gegenwärtig konnte er dank seiner Vorkehrungen unter weitgehend akzeptablen Bedingungen hantieren. Er setzte mit geschickten Handgriffen einen Infusionszugang an, verabreichte Sarah ein leichtes Schlafmittel und begann, die klaffende Platzwunde an ihrem Hinterkopf zu nähen, nachdem er den Bereich großräumig desinfiziert hatte. Nach sieben Stichen stoppte endlich die Blutung. Vorsichtig klebte er die Wunde mit Mull und Pflasterstreifen ab, entfernte das besudelte Kopfkissen und ersetzte es durch zwei neue, frisch bezogene, damit sich Sarahs Oberkörper in einer höheren Position befand und das Blut in ihre eiskalten Füße fließen und sie erwärmen konnte. Als nächstes desinfizierte er die unzähligen kleineren Schnitt- und Schürfwunden an Sarahs Händen, den Armen, im Gesicht und an den Knien. Seine letzte Amtshandlung bestand darin, an der Betäubten eine Kochsalzlösung und eine Nährstofflösung anzubringen. Die Flaschen fixierte er an einem eigens dafür vorgesehenen Metallständer, welchen er neben all den medizinischen Sachen ebenfalls erst am Montag aufgetrieben hatte. Mehr konnte er im Moment nicht für sie tun. Alles, was sie brauchte, war Ruhe, Wärme und Schlaf. Er wusste, wie hart die Tochter seines Auftraggebers gegen das Wasser angekämpft hatte, wie sie Sandsack um Sandsack gefüllt und geschleppt hatte, ohne sich auszuruhen. Und er wusste, dass Sarah siebenundvierzig Stunden lang nahezu ohne Unterlass geackert hatte, um Menschen, Tiere, Gebäude und Gegenstände vor den kalten, braunen Fluten zu retten. Insgeheim zog er vor dieser Leistung seinen Hut. Er kannte keinen Menschen, der je eine solche Leistung zustande gebracht hatte, sich selbst mit einbegriffen. Nach einem letzten Blick auf die schlafende Frau verließ er den Raum. Dabei ließ er die Tür offen stehen, damit der letzte Rest der kläglichen Wärme bis in Sarahs Gemach vordringen konnte.

    Als sie nach einem tiefen Atemzug endlich aufwachte, nahm sie zunächst nur das Zwielicht im Raum wahr. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, welches Datum man heute schrieb, oder welche Tageszeit herrschte. Sarah versuchte, sich aufzurichten, doch nicht nur ihr dröhnender Kopf verwehrte ihr diese Maßnahme, sondern auch der grauenhafte Muskelkater, den sie nun in jeder einzelnen Zelle ihres Körpers spüren konnte. Mit einem leisen Stöhnen sank Sarah ins Kissen zurück, drehte sich mit einem unmenschlichen Kraftakt auf die Seite und bemerkte erst jetzt die Infusionsnadel, welche in ihrer linken Armbeuge steckte und mit einem Verband fixiert wurde. Irgendeine Flüssigkeit wurde ihr injiziert, doch Sarah war zu erschöpft gewesen, um sich darüber Gedanken zu machen. So versuchte sie, sich so angenehm wie möglich zu betten und begann, ihre Umgebung zu studieren. Sie verließ sich dabei ausnahmslos auf ihr Gehör und ihre Nase, denn sie war immer noch so müde, dass sie ihre schweren Augenlider nach mehrmaligem Blinzeln wieder geschlossen hielt. Zunächst waltete Stille. Egal, wo sie sich befinden mochte, sie konnte nicht den geringsten Laut hören. Sarah bereitete es große Mühe, sich zu konzentrieren. So sog sie zunächst nur die staubige, abgestandene Luft in sich ein. Nun vernahm sie auch leise Schritte und das Klappen einer Tür. Da ihre Zimmertür weiterhin offen stand, richtete die junge Frau einen kurzen Blick in den angrenzenden Bereich und erkannte einen großen, langen Umriss. Jener Mensch, den Sarah als den Angestellten ihres Vaters identifizieren konnte, kam von draußen. Er trat sich schmutzigen Schnee und Schlamm von den Stiefeln und trug frisch zerhackte Holzscheite in den Armen. Mehr konnte und wollte Sarah nicht sehen. Sie schloss erneut ihre Augen und begann, soweit es ihr schmerzender Kopf überhaupt zuließ, nachzudenken. Obwohl es in ihrem Zimmer angenehm warm war, bemerkte sie erst jetzt ihre eiskalten Füße. Sie mussten mit Socken bekleidet sein. Sarah tastete an ihrem Körper herab. Soweit sie sich erinnern konnte, trug sie zuletzt doch eine lange Hose! Wo war ihre Hose geblieben? Ihre rechte Hand strich über ihre nackten Beine, den verarzteten Knien, hinauf zum Unterleib und weiter über den Bauch. Fassungslos stellte Sarah fest, dass sie außer den Socken nichts weiter anhatte, als einen Slip, das von Becky zurechtgelegte T-Shirt und ihren BH. Ihre neu gewonnene Erkenntnis ließ die junge Frau entsetzt aufschrecken. In diesem Augenblick betrat ihr Retter das Zimmer, nachdem er von Weitem schon ihre veränderte Liegeposition wahrgenommen hatte. „Was haben Sie mit mir gemacht?, krächzte Sarah mühsam und zupfte an ihrem Pulli. Der Angesprochene verstand sofort: „Keine Angst, Schlafmütze, entgegnete er gelassen und trat näher. „Mein Auftrag lautet immer noch, Sie zu beschützen, und nicht, Sie bis zum Umfallen durchzupoppen! Ich weiß noch nicht genau, wie Sie wirklich ticken, aber Sie sollten sich mehr mit Ihrem gesundheitlichen Zustand befassen, anstatt über andere Dinge nachzudenken. Er überprüfte den noch halb vollen Behälter mit der Kochsalzlösung, es war schon die fünfte Dosis, und schaute auf Sarah hinab. „Haben Sie Hunger? Eigentlich rechnete er nicht mit einer Antwort, doch er bekam sie laut, klar und ausdrücklich: „Blöde Frage! Natürlich! Sarah dachte eigentlich an feste Nahrung, an etwas Brot vielleicht, oder an ein paar Kekse, doch alles, was ihr der Fremde unter die Nase hielt, war eine Plastiktasse mit einem Schnabelaufsatz. Sie kannte solche Hilfsmittel, denn zumeist wurden diese Gefäße im Krankenhaus oder in der Seniorenpflege verwendet. Sarah hatte Mariechen oft genug dabei geholfen, aus einer Schnabeltasse zu trinken. Mariechen! Wie ein Pfeil durchbohrte dieser Name ihre Gedanken. Sarah richtete sich auf, und zum zweiten Mal innerhalb weniger Augenblicke schaute sie ihr Gegenüber total erschüttert an. „Sie können nicht aufstehen, Miss Kossin! Sie sind noch zu schwach! „Ich muss zu Marie! Grinsend und abfällig zischend antwortete der Mann, während er sich auf die Bettkante setzte: „Ja, sicher. Und ich verpasse meine Audienz beim Papst. Er schüttelte mit dem Kopf, bevor er hinzufügte: „Sie können sich keine Sekunde lang auf den Beinen halten und denken schon wieder nur an andere! Er hielt ihr noch einmal die Schnabeltasse entgegen. „Hier, trinken Sie das! Es ist eine kräftige Hühnerbrühe! Etwas anderes würden Sie auch gar nicht bei sich behalten können, weil Sie seit ihrem letzten Bissen in eine trockene Brotscheibe schon fünf Tage lang nichts Festes mehr zu sich genommen haben! Sarah hatte die Tasse entgegengenommen und erstarrte in ihrer Haltung. „Fünf Tage?, rief sie völlig entgeistert. „Wir haben das Brot doch heute Morgen erst aus der Bäckerei geschafft! Der fürsorgliche Fremde schüttelte erneut mit dem Kopf und entgegnete: „Nein, Miss Kossin, heute Morgen ist schon lange vorbei. Wir haben Sonntag, den 3. April. Völlig schockiert über diese Nachricht, lehnte sich Sarah zurück. „Nun schauen Sie nicht so verblüfft! Trinken Sie die Brühe und ruhen Sie sich aus. Hier sind Sie sicher, es kann Ihnen nichts mehr passieren. Ich werde Ihnen alles erklären, was Sie wissen wollen, aber erst, nachdem Sie einigermaßen zu Kräften gekommen sind. Sarah nahm den Rat ihres Retters wenig begeistert an. Welch andere Möglichkeit blieb ihr auch schon? Sie nippte an der Tasse und stellte anerkennend fest, dass die heiße Brühe wirklich vorzüglich schmeckte, sodass sie sie den Becher bis auf letzten Tropfen leerte. Bevor sie bald darauf wieder einschlief, bemerkte sie, wie der Fremde noch einmal in ihr Gemach trat und eine weitere Decke über Sarahs Füßen ausbreitete.

    Am Vormittag des nächsten Tages erhob sich die junge Frau zum ersten Mal seit ihrer Bergung aus dem Bett. Bevor sie überhaupt aufstehen konnte, musste sie sich von drei kuscheligen Decken befreien, ihren angeschlagenen Kreislauf mit leichten Dehnungen in Schwung bringen und ihren schweren, müden Beinen eine Chance geben, nach tagelangem Ruhen halbwegs vernünftige Schritte zu erzeugen. Sarahs Fußsohlen brannten noch immer, und nach einem Griff an ihrem Hinterkopf konnte sie sich auch ihren dumpf pochenden Brummschädel erklären. Langsam wurde ihr mulmig zumute, denn die Tatsache, dass vor ihrem Bett auch ein Paar neue Filzpantoffeln standen und dies neben den Decken, den versorgten Wunden und der heißen Hühnerbrühe ein weiteres Zeichen von beinahe liebevoller Umsorgung darstellte, ließen in Sarah ein erstes Unbehagen an ihrem Tonfall gegenüber dem Fremden aufkommen. Nachdem sie sich eine zurechtgelegte Jeanshose und ein gefüttertes Holzfällerhemd angezogen hatte, schlich sie aus ihrem Zimmer und entdeckte ihren Versorger, wie er an der behelfsmäßig angelegten Küchenzeile stand und eine alte Kaffeemaschine in Betrieb nahm. „Guten Morgen, rief sie gähnend. Ihr Gruß wurde höflich und freundlich erwidert. „Guten Morgen, Miss Kossin! Heute sehen Sie schon viel besser aus! Sarah schmunzelte. „Danke! Aber wäre es nicht besser, wenn Sie mir endlich verraten würden, wie Sie heißen? Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen, und dabei haben Sie mir wahrscheinlich das Leben gerettet! „Jonas, entgegnete der Mann und reichte ihr seine Hand. „Jonas Glenn! „Sehr erfreut! Sarah setzte sich an den einzigen Tisch in der gesamten Holzhütte. „Jonas Glenn, sprach sie nachdenklich. „Dieser Name hört sich nicht gerade nach Deutschland an, Mister. Woher kommen Sie eigentlich? „Aus den Staaten. Ich habe ein kleines Haus in der Nähe von New York gemietet. Sarah stieß einen leisen Pfiff aus. „Der allseits bekannte Big Apple. Was hat Sie nach Deutschland verschlagen? Wie sind Sie an meinen Vater geraten? Und überhaupt, wie kommt es, dass Sie unsere Sprache so perfekt sprechen? Ich höre keinen Dialekt heraus! „Das sind aber ganz schön viele Fragen auf einmal, rief Jonas grinsend und fuhr fort: „Zunächst einmal können Sie mich ruhig einfach nur Jonas nennen. Bis sich die allgemeine Lage verbessert hat und das Hochwasser im Tal abgeklungen ist, werden wir noch ein paar Tage hier draußen festsitzen. Wir werden uns eine Menge zu erklären haben, und dabei sollten wir die Förmlichkeiten besser ausklammern. „Okay, wird gemacht, versicherte Sarah. „Aber nur, wenn Sie aufhören, mich Miss Kossin zu nennen. Das klingt irgendwie nach total verstaubter Etikette, und die liegt mir überhaupt nicht! „Auf du?, fragte Jonas. „Auf du! Er vertiefte sich wieder in seiner Tätigkeit. „Ich habe immer noch Hunger, rief sie schließlich, als sie den köstlichen Duft des durchlaufenden Kaffees vernahm und vergeblich auf eine Antwort bezüglich ihrer Fragen gewartet hatte. Jonas drehte sich zu ihr herum und sah sie lächelnd an. Dabei blitzte es in seinen Augen vergnügt auf. „Das glaube ich Ihnen ... dir gern. Ich denke, heute verträgst du ein wenig mehr, als nur eine Hühnerbrühe. Wie wäre es, wenn ich uns ein richtig zünftiges Frühstück zubereite, mit allem, was unser Proviant zu bieten hat? „Klingt großartig, ließ Sarah vernehmen. „Dann überrasche mich mal! Was folgte, war wirklich eine Überraschung, aber sie zählte zweifellos zu der Besten, die der jungen Frau seit einer Woche begegnet war. Jonas hatte ihr wieder den Rücken zugewandt und werkelte auf der kleinen, hölzernen Arbeitsplatte herum. Schließlich kramte er in seiner Hosentasche, betätigte ein Feuerzeug und wischte sich seine Hände an einem rot-weiß karierten Küchentuch sauber, welches neben ihm auf dem Arbeitsplatz lag. Dann setzte er sich in Bewegung und begab sich zu Sarah hinüber. In seinen Händen hielt er einen Glasteller, auf dem sich ein kleines, mit weißer Schokolade überzogenes Törtchen befand. In dessen Mitte steckte eine rote, brennende Kerze. Sarah wusste im ersten Moment nicht, was dieser Auftritt zu bedeuten hatte. Jonas sah in das verdutzte Gesicht seiner Begleiterin. „Sag’ bloß, du hast deinen eigenen Geburtstag vergessen?, rief er und bemerkte, wie gerührt Sarah angesichts dieser kleinen Geste war. Sie stand auf und umarmte ihn. „Alles Gute zum Geburtstag! „Aber ... aber ...?! „Doch, Sarah, auch dein Geburtsdatum ist mir bekannt. Du bist heute 22 Jahre jung geworden, richtig? Jonas sprach gleich darauf weiter, ohne ihr die Gelegenheit zu geben, auf seine Frage zu antworten: „Nun, eigentlich sollte man seinen Geburtstag nicht unter solchen Umständen und an so einem Ort feiern, aber eine große Party konnte ich auf die Schnelle nicht mehr organisieren. Tut mir wirklich leid. „Ach was! Dass überhaupt jemand an meinen Geburtstag gedacht hat, ist mehr, als ich erwarten kann! Ich habe ihn ja selbst total vergessen! Sarah schaute mit leuchtenden Augen auf das kleine Törtchen mit der Kerze. „Nun puste sie schon aus! Du darfst dir etwas wünschen! Sie überlegte kurz mit geschlossenen Augen und blies das schmale Kerzenlicht aus. „Ist es etwas Schönes?, fragte Jonas und begab sich in die provisorische Küche zurück. „Wird nicht verraten, entgegnete Sarah belustigt, wurde jedoch zunehmend stiller und nachdenklicher. Sie starrte auf das leckere Törtchen, ohne es wahrzunehmen. Jonas bemerkte die geistesabwesende Stimmung seines Schützlings und fragte schließlich, während er ein paar Eier über einer Pfanne aufschlug: „An was kannst du dich eigentlich noch erinnern? „Hm? Was? „Wie viel weißt du noch über den Lawinenabgang? Sarah zuckte mit den Schultern und antwortete: „So ziemlich alles. Ich kann mich daran erinnern, wie du mich am Ärmel gezogen und aus Maries Zimmer gerissen hast. Der Krach wurde immer lauter, und ich hörte, wie die Mauern und die Dachbalken zerbarsten. Ganz zum Schluss habe ich gesehen, wie du zur Haustür hinausgesprungen bist. Von da an habe ich einen kompletten Filmriss. Sarah schluckte und fuhr fort: „Mariechen! Ich hätte sie retten können. Jonas nahm die Pfanne von der elektrischen Doppelkochplatte, drehte den Strom ab und begab sich zu Sarah an den Tisch. Er setzte sich ihr gegenüber und ergriff ihre ineinander gefalteten, auf der Tischplatte ruhenden Hände. „Jetzt hör’ mir mal zu, begann er. „Ich habe gehört, was Marie zu dir gesagt hat. Sie hat mit ihrem Leben abgeschlossen und ihren Frieden gefunden, schon lange, bevor das Unwetter aufgezogen war. Du darfst dich nicht mit Selbstvorwürfen quälen, verstehst du? Niemand hätte es rechtzeitig schaffen können, Marie aus dem Haus zu schaffen. Weder du, noch ich, noch sonst jemand. Marie wollte das Haus ganz und gar nicht verlassen, und weißt du auch, warum? Sarah sah auf und schüttelte mit dem Kopf. „Ihr lag nicht mehr ihr eigenes, ereignisreiches Leben am Herzen, sondern nur noch deines. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir, und du solltest langsam mal anfangen, es zu genießen. „Genießen?, fragte Sarah kläglich. „Wie soll ich denn noch etwas genießen können, wenn ich alles verloren habe, was mir wichtig war? Mein Arbeitsplatz existiert nicht mehr, meine Wohnung, meine Zukunft, Mariechen ... Ich habe all meine Papiere verloren, sogar meinen Personalausweis und die Geburtsurkunde. Mein ganzes Leben ist binnen weniger Stunden sprichwörtlich den Bach hinuntergegangen, und ich weiß nun nicht mehr, wie es weitergehen soll! Sie sah in Jonas’ graublaue Augen. „Du bist am Leben und bis auf einige Kratzer wohlauf, antwortete er und erhob sich. „Es haut dich im Augenblick vielleicht nicht gerade allzu sehr vom Hocker, aber ich denke, es ist immerhin ein Anfang. Sarah beobachtete ihren Retter, wie er die Rühreier auf zwei weiße Porzellanteller verteilte, etwas Toastbrot und ein paar Ecken Butter auflegte und zum Schluss angebratene Schinkenstreifen über das Essen streute. Aus einem Schubfach entnahm er jeweils zwei Messer und zwei Gabeln, schnappte sich die Teller und servierte das traumhaft duftende Frühstück. Sarah wollte aufstehen und Jonas zumindest insofern helfen, das Kaffeegeschirr aufzutragen, doch er gebot ihr nachdrücklich, am Tisch sitzen zu bleiben. „Du trinkst ihn schwarz, richtig?, wollte er wissen. Sie nickte und sprach: „Ohne Milch und ohne Zucker. „Perfekt. Ich ebenfalls. Er setzte sich und begann, eine der getoasteten Brotscheiben mit etwas Butter zu bestreichen. „Wie geht es jetzt weiter? Jonas sah auf. Er schien Sarahs Frage nicht verstanden zu haben, und so entgegnete er nur: „Also, ich weiß nicht, wonach es sonst noch aussehen soll, aber zurzeit bin ich stark der Meinung, dass wir gerade frühstücken ...! Sarah trank einen Schluck Kaffee und setzte ihre Tasse lautstark auf dem Tisch ab. „Du weißt genau, was ich meine, rief sie verärgert. „Was wirst du jetzt tun? Wirst du mich bei meinem Alten abliefern, deine Kohle einkassieren und nach Hause fliegen? So hat er es dir doch aufgetragen, richtig? Sollte ich bis zum Hals im Schlamassel stecken, dann ziehst du mich raus, lieferst mich bei diesem egoistischen Idioten ab und verschwindest, ohne Fragen zu stellen! Jonas überlegte sich genau, was er auf Sarahs Vermutung erwidern sollte. Im Grunde genommen lag sie nicht völlig daneben, um nicht zu sagen, genau richtig. Dennoch verpackte er seine Antwort in umschweifende Sätze: „Ich glaube, wenn ich so mit dir verfahren würde, wäre ich komplett aus dem Schneider. Du hast Recht, wenn du behauptest, dein Vater bezahlt mich dafür, dass ich dich wohlbehalten zu ihm nach Frankfurt bringe. Du liegst auch richtig, wenn du vielleicht an einen ominösen Briefumschlag denken solltest, den er mir in einem sterilen Büro überreichen könnte. Und zu verschwinden, ohne meinen Auftrag zu hinterfragen, gehört für mich zur absoluten Selbstverständlichkeit. Du bist nicht die erste Person, die ich ohne ihr eigenes Wissen beschattet habe. Du wirst auch nicht die Letzte sein. „Aber?, fragte Sarah, nachdem sie ihren Bissen mit einem weiteren Schluck Kaffee heruntergespült hatte. „Aber du bist die erste Person, bei der ich begonnen habe, an meinem Auftrag zu zweifeln, entgegnete er. „Weshalb? Jonas atmete deutlich vernehmbar ein. „Ich glaube, dazu sollte ich dir einiges erklären. Ich habe als Personenschützer gearbeitet, als Leibwächter eben, als Privatdetektiv und zeitweise auch als Kriminalermittler. Als Personenschützer hält man den verschiedensten Leuten die unglaublichsten, verrücktesten Individuen vom Hals, begleitet sie während der glamourösesten Galas und den wichtigsten öffentlichen Auftritten. Man haftet wie ein zweiter Schatten an seinem Schützling, ohne dass man allzu offensichtlich in den Vordergrund tritt. Einer meiner Ausbilder hat mir damals gesagt: Den besten Job hast du erledigt, wenn dich nicht eine einzige Kameralinse eingefangen hat. Dieser Satz hat mich von Anfang an geprägt. Damals steckte ich inmitten meines achtwöchigen Einführungslehrgangs im Federal Law Enforcement Training Center in Glynco, Georgia." Sarah verstand nur Bahnhof. Deshalb hakte sie vorsichtshalber noch einmal nach: „Wo hast du gesteckt? Nach einer kurzen Pause, in der Jonas überlegte, ob es wirklich sinnvoll ist, darüber zu sprechen, entgegnete er langsam und deutlich: „In einem Ausbildungszentrum des United States-Secret Service. Sarah verschluckte sich an ihrer Toastscheibe. Während sie laut hustete und ihr Gesicht schon rot anzulaufen begann, erwiderte sie: „Ja, natürlich. Und ich stand Pate für das Märchen von Frau Holle, nur, dass es in diesem Winter  leider kein Märchen gewesen ist und sich diese blöde Kuh auch noch Verstärkung geholt haben muss! Jonas sah auf und fragte allen Ernstes: „Wer ist Frau Holle? „Wie? Du kennst sie nicht? Hat dir nie jemand etwas vorgelesen, als du noch klein gewesen bist? Du arme Socke ...! Jonas schüttelte anfangs noch mit dem Kopf, überhörte Sarahs bedauernden Tonfall und entgegnete stattdessen: „Darum geht es hier auch gar nicht! Was glaubst du denn, wie lange du schon unter meiner Beobachtung stehst? Erst seit Montag dieser Woche? Großer Gott, nein, Sarah! Seit ganzen dreieinhalb Jahren bin ich in jedem Jahr mindestens alle zwei Monate nach Hohenhausen gekommen und habe deinem alten Herrn berichtet, wie es dir geht, was du machst, wer deine Freunde sind und ob du zurechtkommst! Über fast jede einzelne deiner Erkrankungen weiß Herbert Lansink Bescheid, über beide Männer, die dich belogen und betrogen haben, ja selbst über deinen letzten Kontostand verfügt dein von dir so verabscheuter Erzeuger genaue Kenntnisse! Du hast mich nie entdeckt, hast noch nicht einmal geahnt, dass du aufgeflogen bist. Was glaubst du wohl, in welcher Einrichtung man die beste Grundlagenausbildung auf Erden bekommt, um so geschickt zu handeln? Jonas beantwortete sich seine Frage gleich selbst: „Sie befindet sich in Georgia, wo man nicht nur beigebracht bekommt, den mächtigsten Staatschef der Welt zu beschützen, sondern auch, sich mit und ohne Waffen zu verteidigen, jemandem medizinische Hilfe zu leisten, oder in einer Krisensituation den berühmten kühlen Kopf zu bewahren! Klingelt da etwas bei dir? Diesmal deutete Sarah ein Kopfschütteln an. Sie konnte nicht fassen, was sie eben gehört hatte. Nicht nur, dass ihr Lebensretter ein ausgebildeter Bundesagent der Vereinigten Staaten war, verursachte in ihr ein elendes, flaues Gefühl. Die schlichte Tatsache, dass seit dreieinhalb Jahren ihr Leben kontrolliert wurde und sie nicht den leisesten Verdacht gehegt hatte, ließ sie vor Wut und Abscheu beben. „Die Wahrheit tut weh, nicht wahr?, fragte Jonas in einem viel ruhigeren Tonfall, als er sah, wie sehr er Sarah verängstigt hatte. „Ich wünschte, ich hätte es dir nie sagen müssen! Ich wünschte, du hättest noch dein altes, einfaches Leben, in dem du zwar nicht immer glücklich gewesen bist, aber für das, was du hattest, aufrichtig und hingebungsvoll gearbeitet hast! Dieses verdammte Unwetter hat all meine Absichten, dich dieses Dasein fortführen zu

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