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Wir sind nur Gast auf Erden: Mystery-Romance
Wir sind nur Gast auf Erden: Mystery-Romance
Wir sind nur Gast auf Erden: Mystery-Romance
eBook382 Seiten4 Stunden

Wir sind nur Gast auf Erden: Mystery-Romance

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Über dieses E-Book

Viktorias Begegnung mit Jonathan stellt ihr ganzes Leben auf den Kopf. Denn der einfühlsame Mann hütet ein furchtbares Geheimnis. Sie lässt sich trotzdem auf eine Beziehung mit ihm ein und findet dadurch auch zu sich selbst.
Doch ihr Traum von einem harmonischen Familienleben in ihrem neuen idyllischen Haus rückt in weite Ferne, als sie die Wahrheit über Jonathan erfährt – eine Wahrheit, die unglaublicher ist, als alles, was sie sich vorstellen kann …
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Nov. 2013
ISBN9783847660132
Wir sind nur Gast auf Erden: Mystery-Romance

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    Buchvorschau

    Wir sind nur Gast auf Erden - Karin Kehrer

    Kapitel 1

    Bild 85235 - Dieses Bild ist aus diesem Werk.

    Ich hab die Nacht geträumet

    Wohl einen schweren Traum.

    Es wuchs in meinem Garten

    Ein Rosmarienbaum.

    Ein Kirchhof war der Garten,

    Das Blumenbeet ein Grab.

    Und von dem grünen Baume

    Fiel Kron’ und Blüten ab.

    Die Blüten tät ich sammeln

    In einem großen Krug.

    Der fiel mir aus den Händen,

    Dass er in Stücke schlug.

    Draus sah ich Perlen rinnen

    Und Tröpflein rosenrot.

    Was mag der Traum bedeuten?

    Herzliebster, bist du tot?

    (Joachim August Zarnack, 1820)

     *****

    Jonathan blinzelte. Ein kurzer Schauder überlief ihn und dann öffnete er die Augen ganz. Lag minutenlang einfach bewegungslos da, starrte in das Blau des Himmels, ohne etwas richtig wahrzunehmen. Eine leichte Benommenheit beherrschte ihn, als hätte er zu lange und zu tief geschlafen.

    Keine Schmerzen.

    Keine Kälte.

    Kein Gestank.

    Seine Gedanken ließen sich nicht festhalten. Wirre Wortfetzen geisterten durch sein Bewusstsein, verschwanden wieder.

    Engelchen. Geh nicht fort. Brauch dich. Wir sind nur Gast …

    Langsam setzte er sich auf.

    Es bereitete ihm Mühe, die einzelnen Bewegungen zu koordinieren, so, als ob sein Körper vergessen hätte, wie man Muskeln und Gelenke gebraucht.

    Er sah sich um.

    Vor seinem Blick breitete sich eine grüne Wildnis aus. Brombeersträucher, über und über mit weißen Blütentrauben geschmückt, erstickten fast eine Hainbuchenhecke.

    Glockenblumen, Margeriten, Ringelblumen und wilde Kamille wiegten sich in einer leichten Brise. Es roch nach Sommer.

    Er drehte seinen Kopf, nahm das Bild auf. Es hatte etwas Vertrautes und zugleich gänzlich Fremdes.

    Ein sanft ansteigender Hügel, darauf verstreut niedrige Obstbäume, die von meterhohem Gras umarmt wurden.

    Sein Blick wurde am Saum des Waldes aufgehalten, der sich hinter der Wiese erhob. Minutenlang betrachtete er das dunkle Grün der Fichten, dicht gedrängt wie eine Wand, versperrte es ihm die Sicht auf das, was dahinter liegen mochte.

    Zu seiner linken Seite lugte das verwaschene Weiß einer Hausmauer durch die Wildnis. Vom Schmutz blinde Glastüren starrten ihn an.

    Er war zu Hause.

    Ein vages Unbehagen beschlich ihn bei dem Gedanken. Zu Hause – das fühlte sich nicht angenehm an.

    Warum?

    Er durchsuchte vergeblich seine Erinnerung. Da war nur gähnende Leere.

    Das Haus duckte sich unter seinen forschenden Blicken, als hätte es ein schlechtes Gewissen.

    Er lehnte sich an die raue Rinde des Kastanienbaums, unter dem er eingeschlafen sein musste und schloss die Augen. Das war besser. Nicht zu sehen, nur zu riechen und zu fühlen. Jetzt konnte er die Sonne auf seinem Gesicht spüren, sie tauchte alles hinter seinen geschlossenen Lidern in freundliches Orange. Der Geruch des Grases und der trockenen Erde hatte etwas Heimeliges.

    Nun nahm er auch das Summen der Bienen wahr und das Zwitschern der Vögel. Den Gesang der Amseln, die in der Hainbuchenhecke ihr Nest gebaut hatten und das Flöten der Meisen.

    Aber etwas fehlt.

    Jonathan öffnete die Augen wieder. Ein Schatten war durch seine Gedanken gehuscht und wieder verschwunden, bevor er ihn festhalten konnte.

    Wenn er den Kopf leicht zurücklegte, konnte er das Haus hinter den Sträuchern sehen. Es hatte mit einem Mal etwas Lauerndes. Ein Raubtier, zusammengekauert vor dem tödlichen Sprung.

    Unwillkürlich hielt er den Atem an.

    Der Schatten war wieder da, nahm Gestalt an.

    Mina. Paul. Sebastian.

    Mina würde zornig auf ihn sein, wenn er den Tag so vertrödelte. Gleich würde sie ihm mit ungeduldiger Stimme Befehle erteilen.

    Welcher Tag war heute? Samstag? Nein, das konnte nicht sein. Er hätte sonst Pauls Hämmern gehört, wenn der wieder einmal dabei war, eine schadhafte Stelle irgendwo auszubessern.

    Aber er hätte Sebastians Radio hören müssen, das im Schuppen plärrte, während er mit endlosen Reparaturen an seinem Auto beschäftigt war. Sebastian war immer zu Hause, er ging nicht zur Arbeit.

    Doch es blieb still.

    Sebastian, Paul und Mina waren nicht da. Er war allein.

    Die Erkenntnis breitete sich langsam in ihm aus, ließ ihn frösteln.

    Sie sollten hier sein, hier waren sie alle zu Hause. Irgendjemand war immer da, beobachtete ihn, erteilte ihm Aufträge, fügte ihm Schmerzen zu.

    Schmerzen.

    Eine Wand schob sich vor seine Gedanken als stünde er vor einer verschlossenen Tür. In seinen Erinnerungen klaffte ein schwarzes Loch.

    Jonathan betrachtete das Haus mit den verblichenen, grünen Fensterläden und dem abbröckelnden Putz. Die Glastüren, die in den Garten führten und ihn jetzt blind und vorwurfsvoll anstarrten. Zwischen den Pflastersteinen wuchs Unkraut. Den Gemüsegarten überwucherten Brennnesseln.

    Mina hätte etwas dagegen getan. Sie hatte immer alles penibel in Ordnung gehalten.

    Wie lange habe ich geschlafen?

    Wann sind sie gegangen?

    Warum haben sie mich zurückgelassen?

    Ihm fehlte jegliches Zeitgefühl.

    Zögernd stand er auf, starrte noch immer auf das Haus, setzte sich langsam in Bewegung. Er musste bewusst daran denken, den Fuß zu heben, ihn wieder abzusetzen, es mit dem anderen Fuß auch so zu machen.

    Aber es fiel ihm leichter, je länger er sich bewegte. Fast so wie in seiner Kindheit, wenn er nach einem langen Winter zum ersten Mal wieder auf sein Rad stieg.

    Jonathan blieb stehen und betrachtete das Pflaster zu seinen Füßen.

    Radfahren hatte früher zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehört. Über die Zufahrt den Hügel hinunter zu rasen, für einen Moment das Gefühl von Freiheit zu verspüren.

    Jetzt bereitete ihm selbst die leichte Steigung hinauf zur Eingangstür Schwierigkeiten. Er begann unkontrolliert zu atmen, holte mehr Luft, als er brauchte. Vor seinen Augen flimmerten grelle Schlangen aus Licht.

    Erschöpft blieb er vor der Eingangstür stehen, atmete langsam ein und aus.

    Sein Herz flatterte in der Brust wie ein eingesperrter Vogel.

    Aber das Erstaunlichste war noch immer, dass die Schmerzen verschwunden waren.

    Welche Schmerzen?

    Aufmerksam betrachtete er die Fassade des Hauses. Die Farbe blätterte von der Haustür ab, die Oberlichte war verstaubt und voller Spinnweben. Mina musste schon lange fort sein, sie hätte das sicher nicht geduldet.

    Jonathan hob die Hand, aber er drückte nicht auf die Klinke.

    Verblüfft sah er auf seine Finger, die noch immer unschlüssig in der Luft schwebten. Sie kamen ihm vor, als würden sie nicht zu ihm gehören, als wären sie ein angefügtes Teil seines Körpers, das eigenen Gesetzen unterworfen war.

    Sachte legte er die Hand auf die Türklinke.

    Ein Abgrund tat sich vor ihm auf, kaltes, schwarzes Grauen. Jonathan schnappte nach Luft, röchelte. Etwas schnürte seine Kehle zu. Er ging in die Knie, hielt sich am Türstock fest. Versuchte zu schlucken, diesen Knoten im Hals loszuwerden, aber es funktionierte nicht.

    Vor seinen Augen tanzten feurige Punkte, drehten sich im Kreis.

    Langsam sank er auf die Stufen vor der Haustür, stützte sich mit beiden Händen ab. Blind tastete er um sich, fühlte den von der Sonne erhitzten Stein unter seinen Fingern. Er umklammerte eine Stufe, das feste Material gab ihm Halt, denn noch immer hielt ihn diese alles umfassende Angst gefangen wie in einem klebrigen Spinnennetz.

    Konzentrieren auf den Atemrhythmus ... alles ist gut … keine Angst … nur eine Panikattacke. Ich werde nicht sterben.

    Ausatmen. Einatmen. Ausatmen …

    Die Angst wich langsam, machte einer lähmenden Erschöpfung Platz.

    Er legte den Kopf auf die Knie. Überließ sich der gähnenden Leere, die sich in seinem Inneren ausbreitete.

    Nach einer Weile erhob sich Jonathan, noch ein wenig schwankend.

    Er würde später in das Haus gehen. Jetzt konnte er es noch nicht.

    Kapitel 2

    Linz an der Donau, April 2012

    Viktoria Sandgruber stand im Toilettenraum des Nobelrestaurants „Zu den drei Mühlen". Sanfte Violinenklänge und zarter Rosenduft schwebten in der Luft. Der Raum strahlte exquisite Reinlichkeit aus mit den matt glänzenden, beigen Marmorfliesen. Aber sie achtete nicht darauf. Sie starrte in den Spiegel, sah die Wut in ihren Augen und stieß heftig die Luft aus.

    Nun mach schon! Vergiss diesen Blödsinn! Du bist doch keine Träumerin!

    Das hätte auch ihr Vater sagen können.

    Sie schob trotzig ihr Kinn vor. „Ich bin aber nicht mein Vater. Ich bin anders! Ich bin ich!"

    Energisch rieb sie ihre Hände unter dem Wasserstrahl. Seifenreste spritzten auf das blank geputzte Waschbecken. „Geschäft ist Geschäft! Ich gehe jetzt da hinaus und bringe das zu einem guten Ende."

    Viktoria trocknete ihre Hände ab und zog ihren Lippenstift nach.

    Zur Hölle mit diesem Troger!

    Schon als sie ihn zum ersten Mal in der Agentur getroffen hatte, war ihr sein überlegenes Lächeln aufgefallen. Ein typischer Selfmade-Man, der seine Ziele mit Hartnäckigkeit und einer Portion Arroganz erreichte. Er hatte nur auf ihren Ausschnitt gestarrt.

    „Sei nett zu Herrn Troger, er ist schließlich ein wichtiger Kunde. Guter finanzieller Hintergrund, viel versprechende Ideen, ein innovatives Produkt. Wenn wir diesen Auftrag bekommen, haben wir gewonnen."

    Die Worte ihres Vaters und zugleich Chefs klangen wie Hohn in ihr nach. Nun – sie war nett genug gewesen und jetzt reichte es.

    Nach einer hastig gemurmelten Entschuldigung hatte sie fluchtartig den Speiseraum verlassen, als Otto Trogers Bemerkungen unerträglich wurden.

    Prüfend musterte Viktoria sich im Spiegel. Eine richtige Schönheit konnte man sie nicht nennen. Dafür waren ihre Gesichtszüge etwas zu herb, wie sie selbst fand. Normalerweise verstärkten das auch noch die streng zu einem Knoten frisierten und hochgesteckten Haare. Aber dieser Eindruck wurde heute geschickt durch die langen, dunkelblonden Locken gemildert, die auf ihre Schultern fielen.

    Das war der erste Fehler, den sie gemacht hatte. Die Hochsteckfrisur verhalf ihr üblicherweise zu einem Gefühl von kühler Distanziertheit. Mit offenen Haaren fühlte sie sich verletzlich und angreifbar. Der zweite Fehler war die Wahl der Kleidung gewesen. Sie hatte durchaus sehr weibliche Rundungen vorzuweisen, die in dem schwarzen Cocktailkleid gut zur Geltung kamen, obwohl es einen dezenten Ausschnitt hatte. Der burgunderrote Lippenstift ließ ihren Mund sinnlich wirken – zu sinnlich.

    Valentin würde sie so bestimmt nicht gefallen. Er hasste Make-up. Aber bei ihm hatte sie sowieso nicht die geringste Chance. Er liebte zierliche Dunkelhaarige. So wie Petra. Die beiden passten perfekt zusammen.

    Sie verdrängte die aufkommende Bitterkeit. „Zum Teufel mit Valentin! Vergiss ihn endlich! Kehr auf den Boden der Tatsachen zurück! Valentin hat doch keine Ahnung vom richtigen Leben!"

    Viktoria stemmte die Hände in die Hüften. „Wenn du Teilhaberin der Agentur werden willst, musst du das bringen! Mach jetzt bloß nichts falsch! Du wirst diesem Troger sagen, was Sache ist! Er muss deine Meinung respektieren!"

    Aber er ist nun mal ein arroganter Widerling, flüsterte eine Stimme hartnäckig in ihr. Und warum soll ich ihm nach dem Mund reden, nur damit ich einen Auftrag bekomme, mit dem ich ohnehin nicht glücklich sein werde!

    Sie stieß den Atem aus. Andererseits – wie wichtig ist schon, was ich darüber denke? Ein Profi fragt nicht nach, er macht seine Arbeit!

    Sie wollte wirklich nach ihrer Arbeit beurteilt werden und nicht nach ihrem Aussehen. Troger schien zu der Sorte Mann zu gehören, die glaubte, dass eine Frau, die einigermaßen gut aussah, einen Intelligenzquotienten wie ein Kuscheltier hatte.

    Viktoria streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. „Nun mach schon, du blöde Kuh! Zeig es diesem Kerl!"

    Sie puderte ihre Nase und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Mit einer heftigen Bewegung warf sie den Kopf zurück, presste die Lippen zusammen, straffte die Schultern und ging zurück ins Restaurant.

    Gedämpftes Stimmengewirr und diskrete Beleuchtung empfingen sie. Troger hatte das Lokal mit Bedacht gewählt. Teuer und exquisit. Genau richtig für einen aufstrebenden Geschäftsmann, der nur an seinen Profit dachte.

    Valentin verabscheute solche Leute. Doch er lebte ja auch in einer ganz anderen Welt. Wieder ein Grund, warum sie sich ihn so schnell wie möglich aus dem Kopf schlagen sollte.

    Viktoria schluckte und versuchte, das Gefühl loszuwerden, in einer Falle zu sitzen.

    Troger lächelte breit und zeigte zwei blendend weiße Zahnreihen, das Ergebnis intensiver und kostspieliger Zahnarztarbeit. Er war ein großer, schlaksiger Mann Anfang Dreißig mit kurz geschorenem Haar. „Da sind Sie ja wieder. Ich dachte schon, Sie hätten sich aus dem Staub gemacht. Aber ich warte natürlich gerne auf eine schöne Frau. Auf ihren protestierenden Laut reagierte er mit einer lässigen Handbewegung. „Doch, Sie sehen gut aus. So gar nicht wie eine dieser Öko-Tussis. Seine Augen glitzerten und sie bemerkte die Belustigung über ihr letztes Gesprächsthema darin. „Ich verzeihe Ihnen den kleinen Ausrutscher, wenn Sie versprechen, jetzt vernünftig zu sein."

    „Das bin ich durchaus. Viktoria nickte steif. „Ich habe inzwischen keineswegs meine Meinung geändert.

    Sein Lächeln verschwand. „Sie denken also noch immer, ich möchte den Leuten irgendwelches Giftzeug andrehen? Dann sollten Sie sich vielleicht besser informieren. Sämtliche Zusätze in meinem neuen Energy-Drink sind völlig unbedenklich. Aber setzen Sie sich doch erst wieder." Er wies auf den Stuhl neben sich.

    Viktoria bemerkte, dass sein Weinglas schon wieder voll war. Die Flasche Welschriesling auf dem Tisch wurde beängstigend schnell leer. Doch offensichtlich war er an Alkohol gewöhnt, es war ihm nichts anzumerken.

    Sie wich seiner einladend ausgestreckten Hand aus und ließ sich auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder.

    „Ich habe mir die Zutatenliste Ihres ‚Power of Nature’ angesehen. Wie können Sie glauben, dass ich dieses Gemisch aus künstlichen Farb- und Aromastoffen als frisch aus der Natur anpreisen kann?", sagte sie fest.

    Was rede ich da? Ich bin wohl übergeschnappt! Das kann mir doch alles völlig egal sein!

    Trogers Finger schlossen sich um ihr Handgelenk. „Ach lassen Sie das doch, meine Liebe. Darüber sollten Sie sich Ihren hübschen Kopf nicht zerbrechen. Sie sollen nur einen knackigen Slogan und ein Design mit Wiedererkennungswert liefern. Sie enttäuschen mich wirklich fast ein wenig. Ich hätte Sie als erfahrener und realistischer eingeschätzt. Dieses Gerede von moralischer Verpflichtung gegenüber den Kunden und nachhaltiger Produktion irritiert mich. Ihr Vater hat mir versprochen, dass Sie bestens für diesen Job qualifiziert sind."

    Viktoria ballte ihre Finger zur Faust. „Das bin ich auch. Ich muss mich nur mit dem Produkt identifizieren können, für das ich eine Kampagne entwerfe."

    Warum kann es nicht mehr solcher Menschen wie Valentin geben?

    Sie schluckte. „Tut mir leid, wenn es wie eine Moralpredigt geklungen haben soll. Das wollte ich nicht. Ich wollte nur eine andere Sichtweise …" Sie verstummte und dachte wieder an Valentin. Seine Ideen hatten sie fasziniert und die Zusammenarbeit mit ihm hatte wirklich Spaß gemacht und ihr neue Erkenntnisse geschenkt.

    Bist du glücklich in deinem Leben? Befriedigt dich das, was du tust?

    Seine sanfte Stimme hatte sie aufgeweckt. Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war. Was er wohl machte? Auf ihre letzten beiden SMS hatte er nicht geantwortet. Aber das spielte ohnehin keine Rolle. Er wollte nichts von ihr. Zumindest nicht so, wie sie es gerne gehabt hätte.

    „Was sagen Sie dazu?" Otto Troger fixierte sie neugierig.

    „Wie bitte?" Viktoria schüttelte verwirrt den Kopf und verdrängte mit aller Macht Valentins Gesicht und seine leuchtenden dunklen Augen aus ihren Gedanken. Dieses Strahlen hatte nichts mit ihr zu tun, wie sie schmerzlich feststellen hatte müssen. Er liebte nur seinen Beruf und die Möglichkeiten, die Viktoria ihm geboten hatte.

    „Ich sagte, dass ich Ihnen insofern recht gebe, dass der Trend nun mal in Richtung Natürlichkeit geht und ein paar esoterisch angehauchte Sprüchlein auf der Flasche doch gut ankommen würden."

    Viktoria musterte ihn vorsichtig, während sie an ihrem Weinglas nippte.

    Sag jetzt nicht so einen abgedroschenen Blödsinn wie Der Weg ist das Ziel"!

    „Wie wäre es mit ‚Der Weg ist das Ziel’?"

    Sie verschluckte sich, musste husten.

    Troger sprang auf, wollte ihr auf den Rücken klopfen, aber sie wehrte ab. „Es geht schon wieder, lassen Sie nur."

    „Der Spruch gefällt Ihnen wohl nicht?, feixte Troger. „Dabei dachte ich, Sie hätten einen Draht zur Esoterik. Ging nicht Ihr letzter Auftrag in diese Richtung? Dieser Yoga-Typ, oder?

    Viktoria nickte und versuchte, die Hitze zu ignorieren, die in ihr aufwallte. „Valentin Rainer. Und er ist kein Yoga-Typ, er ist Prana-Healer und leitet ein Meditationszentrum."

    Troger wedelte mit der Hand. „Ist auch egal. Ich kenne mich da nicht wirklich aus. Sind doch alles Spinner."

    „Ja, vielleicht haben Sie recht", murmelte Viktoria abwesend. Valentin hatte ihr verschwiegen, dass er eine Lebensgefährtin hatte. Aber warum hätte er ihr das auch erzählen sollen? Ihre Beziehung war rein geschäftlicher Natur. Sie hatte sich etwas eingebildet, das nicht existierte.

    „Also, was denken Sie?" Otto Troger sah sie erwartungsvoll an und sie merkte beschämt, dass sie ihm schon wieder nicht zugehört hatte.

    „Ich glaube, da sollten wir uns etwas Aussagekräftigeres einfallen lassen", meinte sie abwesend.

    Aber ich habe überhaupt keine Lust dazu.

    Sie atmete tief durch. „Wissen Sie was? Ich muss mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht bin ich doch nicht die Richtige für diesen Auftrag."

    Was? Was sage ich da? Das ist doch Blödsinn!

    Trogers Lächeln erlosch schlagartig. „Wie Sie meinen. Es wird kein Problem sein, eine andere Agentur zu beauftragen, da können Sie sicher sein. Mit Ihnen scheine ich wohl meine Zeit verschwendet zu haben. Schade."

    Sein Blick glitt über ihre Figur, verharrte sekundenlang auf ihrem Dekolleté. „Ich hätte mir eine Zusammenarbeit gut vorstellen können. Ihr Vater wird nicht begeistert sein. Aber das ist bestimmt nicht mein Problem."

    Er winkte dem Kellner und bat ihn um die Rechnung.

    „Ich möchte mein Essen selbst bezahlen", sagte Viktoria.

    Troger hob erstaunt die Augenbrauen, protestierte aber nicht.

    Der Kellner verschwand mit einem diskreten Nicken.

    Viktoria hielt es nicht länger aus. Sie stand auf. „Ich möchte mich verabschieden."

    „Meine Karte haben Sie ja, meinte er kühl. „Wenn Sie es sich anders überlegen, können Sie mich jederzeit anrufen. Aber zögern Sie nicht zu lange. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Möchten Sie wirklich in Ihrem Job gut werden und Geld verdienen, vergessen Sie dieses Gerede von Ethik und Moral.

    „Danke für den Rat. Wir werden sehen", sagte sie mühsam beherrscht. Sie drehte sich um und ging, fühlte seine Blicke auf ihrem Rücken.

    Der Kellner kam ihr mit einem Tablett entgegen, auf dem die Rechnung lag. Er sah sie fragend an. „Sie wollten getrennt bezahlen?"

    „Ja. Wie viel macht es aus?"

    Sie kramte mit zitternden Fingern nach ihrer Geldbörse und warf einen flüchtigen Blick auf die Rechnung.

    „Den Wein bezahlt der Herr?"

    Sie nickte. „Ja, den Wein bezahlt der Herr."

    Viktoria verließ das Restaurant, eilte zum Parkplatz und suchte hektisch in der Dunkelheit nach ihrem Auto.

    Dann erst fiel ihr ein, dass sie ja mit dem Bus gefahren war. Daran hatte auch nur Valentins Gerede über den Klimaschutz Schuld.

    Sie hastete auf die Bushaltestelle zu. Ihr Herz hämmerte wild gegen die Rippen.

    Was ist bloß in mich gefahren? Wie kann ich nur so doof sein!

    Sie starrte auf den Fahrplan, fand sich nicht zurecht. Die kleingedruckten Zahlen begannen vor ihren Augen zu flimmern.

    Immer wieder warf sie vorsichtige Blicke auf die Tür des Restaurants.

    Troger kam nicht.

    Nicht auszudenken, wenn sie ihm nach dieser Blamage noch einmal über den Weg lief!

    Viktoria verbarg sich im Schatten des Wartehäuschens, stopfte die Faust in ihren Mund, um nicht laut los zu weinen vor Zorn auf sich selbst, auf Valentin und auf diesen eingebildeten Schnösel. Was für eine Blamage!

    Erleichtert atmete sie auf, als endlich der Bus auftauchte und anhielt. Hastig sprang sie hinein. Der Busfahrer musterte verwundert seinen hektischen Fahrgast, sagte aber nichts.

    Viktoria warf sich auf den Sitz, sah noch einmal zurück zum Restaurant.

    Jetzt kam Troger heraus. Sie duckte sich und kauerte sich zusammen.

    Der Bus fuhr mit einem Ruck an, verließ die Altstadt.

    Sie legte ihre Stirn an die Fensterscheibe und schloss die Augen.

    Alles ist schief gelaufen! Jämmerlich versagt habe ich! Und das nur, weil ich mich in Valentin verguckt habe. Ich bin doch wirklich eine blöde Kuh! Es läuft außerdem nun mal nicht so, wie er sich das vorstellt. Geld regiert die Welt und nicht Liebe und Rücksichtnahme!

    Ich werde wohl nie das Richtige tun.

    Kapitel 3

    Noch immer hatte Jonathan das Haus nicht betreten. Er mied es, das Gebäude auch nur anzusehen, so gut es eben ging. Aber es gelang ihm eben nicht gut. Es war einfach da, lauerte, wartete auf ihn wie ein bösartiger Hund in seinem Zwinger.

    Am wohlsten fühlte er sich im Garten und im dahinter liegenden Wald. Dann dachte er nicht an die Schrecken und an die Panikattacken, die das Gemäuer in ihm wachriefen. Er konnte diesen Schrecken nicht benennen, obwohl er anscheinend damit gelernt hatte, umzugehen. Jemand musste ihm beigebracht haben, wie er diese Momente purer Angst bewältigen konnte. Aber immer wieder baute sich die dunkle Mauer in seinem Gedächtnis auf, ließ sich nicht überwinden.

    Es gab allerdings auch Augenblicke, in denen er darauf vergaß und einfach nur seine Umgebung genoss.

    Über dem Haus und dem Garten lag eine angenehme Stille, die sein Körper und sein Geist aufsogen, die seine Leere füllte. Auch konnte er jetzt ein Stück die Straße entlang gehen, ohne von diesem grässlichen Angstgefühl überwältigt zu werden. Das Bedürfnis, Menschen zu treffen, hatte er nicht.

    Langsam folgte er dem Verlauf der Straße, den zahlreichen Kehren, die ihn talabwärts führten. Die nächste Biegung gab den Blick auf ein Dach frei, das Rot der Ziegel blitzte durch die Sträucher.

    Ob ich auch zur Tankstelle gehen und nach Karl sehen kann?

    An den Besitzer der Tankstelle erinnerte er sich seltsamerweise jetzt, obwohl alles andere, was in seinem Leben geschehen war, noch immer im Verborgenen lag.

    Gut, er hatte das Haus, den Garten und alles, was sich in unmittelbarer Nähe davon befand, wieder erkannt. Abgesehen von den Panikattacken, die ihn dann überfielen, wenn er das Haus betreten wollte, ging es ihm eigentlich gut.

    Er fiel immer noch manchmal in diesen schwebenden Zustand, in dem ihm sein Körper nicht richtig gehorchte, besonders dann, wenn sein Schlaf länger gedauert hatte, aber er überwand ihn immer schneller.

    Er wanderte weiter die Straße hinunter. Es war nur ein schmaler Güterweg. Eine Sackgasse, die bei seinem Zuhause endete. Hierher kam nur, wer das Haus auf dem Hügel besuchen wollte. Bei seinen Spaziergängen war ihm bis jetzt nie jemand begegnet.

    Die Tankstelle befand sich etwa einen Kilometer von seinem Zuhause entfernt und von da waren es nur mehr ein paar hundert Meter bis ins Dorf. Kirchweg, so hieß es.

    Jonathan runzelte die Stirn, als er daran dachte.

    Seltsam. Woher wusste er diese Dinge?

    Sie waren ihm so geläufig wie die Tatsache, dass der Himmel blau ist.

    Der Gedanke an das Dorf löste nichts in ihm aus. Weder Neugier, noch Angst. Nur nach Karl wollte er sehen. Nach seinem einzigen Freund, wie er spürte.

    Vor ihm tauchte das niedrige Gebäude der Tankstelle mit dem angebauten Lagerraum auf. Das rote Dach leuchtete in der Sonne. Früher hatte ihn ein Gefühl der Erleichterung bei seinem Anblick durchströmt. Aber er erinnerte sich nicht daran, warum das so war.

    Merkwürdig – dieser Zustand. Was war mit ihm geschehen?

    Ein Gedächtnisverlust nach einem Schock?

    Bevor die dunkle Wand wieder auftauchen konnte, verdrängte er jeden weiteren Gedanken daran. Es brachte nichts. Karl würde es ihm vielleicht erklären können.

    Jonathan beschleunigte seine Schritte. Er schlug nun mühelos sein gewohntes Marschtempo an, ohne dass er außer Atem gekommen wäre. Das erfüllte ihn mit Freude. Alles würde wieder in Ordnung kommen.

    Auf den ersten Blick schien es, als wäre es tatsächlich so, als er die Tankstelle erreichte. Was immer auch mit ihm geschehen sein mochte, hier hatte sich nichts verändert.

    Es gab noch immer den kleinen Laden gegenüber den beiden Zapfsäulen für Diesel und Benzin, die von der Sonne ausgebleichte, rot-weiß gestreifte Markise, die über dem Schaufenster ausgespannt war. Hinter der Glastür baumelte ein Schild.

    Wegen Krankheitsfall bis auf weiteres geschlossen" stand da in dicken, schwarzen Blockbuchstaben.

    Jonathan starrte das Schild an. Eine ganze Weile konnte er an gar nichts denken, doch dann breitete sich Enttäuschung in ihm aus. Das durfte nicht sein! Er musste mit Karl sprechen, dem einzigen Vertrauten, an den er sich erinnern konnte. Sein alter Freund konnte ihm ganz sicher erklären, was geschehen war.

    Warum er sein Gedächtnis verloren hatte und warum alle fort waren.

    Er ging um das Haus herum.

    Stille.

    In der Ferne brummte ein Traktor. Das Geräusch entfernte sich, wurde vom Gesang der Vögel verschluckt.

    Vielleicht hält sich Karl ja in seiner Wohnung auf? Es kann durchaus sein, dass er einfach krank ist und das Bett hüten muss.

    Allerdings konnte er sich nicht erinnern, dass Karl jemals ernsthaft krank war.

    Jonathan ging zur Hintertür. Den Ersatzschlüssel fand er unter dem Geranientopf. Auch das war wie immer.

    Der Schlüssel lag schwer in seiner Hand und als er ihn in das Schloss steckte, überlegte er, in welche Richtung er ihn drehen musste, um aufschließen zu können.

    Der vertraute Geruch nach Tabak und Papier schlug ihm nach dem Öffnen der Tür entgegen. Aber sein Verlangen nach einer Zigarette blieb aus. Trotzdem wusste er plötzlich wieder, dass er früher geraucht hatte.

    Jonathan stieg die schmale Treppe hoch, die zu Karls Wohnung führte und öffnete die Tür.

    Noch immer Stille.

    Die kleine Küche war leer, ebenso das angrenzende Wohnzimmer und das Schlafzimmer. Der vertraute Geruch nach Speck und gerösteten Zwiebeln fehlte. Sein Freund machte die beste Eierspeise von Kirchweg.

    Jonathan blickte sich um. Die Wohnung war sauber aufgeräumt und sah aus,

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