Verschlungene Wege: Kurzgeschichten
Von Karin Kehrer
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Über dieses E-Book
Ist dieser Weg vom Schicksal vorgezeichnet? Die alte Seherin Sorya ist davon überzeugt, sie widmet sich ganz ihrer Bestimmung.
Auch die krebskranke Barbara ergibt sich in ihr Schicksal.
Serafina glaubt, ihr Leben selbst in der Hand zu haben und täuscht sich gewaltig.
Und Marlies erfährt eine schier unglaubliche Wandlung.
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Buchvorschau
Verschlungene Wege - Karin Kehrer
Begegnung
Barbara hält ihr Gesicht in die Sonne.
Stille, nur durch das Zwitschern der Vögel und das Raunen des Windes in den Büschen unterbrochen.
Doch die Angst und das allumfassende Gefühl tiefer Erschöpfung kann nichts vertreiben. Sie wird den Kampf verlieren. Der Krebs ist dabei, zu siegen.
Sie spürt das bösartige Gewächs in ihrem Bauch, das sich unaufhaltsam vergrößert, um sie aufzufressen. Ihren bereits zerschnittenen und verstümmelten Leib ganz zu erobern.
Etwas in ihr wehrt sich gegen diesen Gedanken.
Sie hat so hart um jedes bisschen Leben gekämpft, hat die Nebenwirkungen der Chemotherapien ausgehalten, die Tatsache hingenommen, dass ihr Haar ausfällt, dass sie sich in ein Gespenst ihrer selbst verwandelt. Auch die Schmerzen erträgt sie, manchmal besser, manchmal weniger gut.
Barbara setzt sich schwerfällig auf die Steinbank, welche die Mitte des Labyrinths ziert. Langsam ist sie den verschlungenen Pfad entlang gegangen, er ist ihr endlos erschienen. Aber das hat ihr nichts ausgemacht. Im Gegenteil. Jeder Schritt hat sie näher an das Ziel gebracht. Es gibt kein Irren, kein Nachdenken darüber, ob sie auch den richtigen Weg geht.
Diesmal wird sie keine Chemotherapie mehr machen. Es ist genug. Dann muss sie eben mit nicht einmal sechzig Jahren sterben.
Der Stein ist warm von der Sonne. Sie bleibt einfach sitzen, mit geschlossenen Augen. Josef wird erst in einer halben Stunde wieder kommen. Sie hat ihn darum gebeten, allein sein zu dürfen und er hat nur stumm genickt.
In den letzten Tagen, seit sie die niederschmetternde Neuigkeit erfahren hat, ist sie selten allein gewesen. Sie hat es bewusst vermieden, nur froh, dass Josef da ist, obwohl sie spürt, dass ihre Krankheit sie fremd für ihn gemacht hat.
Da ist jemand. Etwas. Es sieht mich an. Es wartet.
Barbara öffnet die Augen, sieht sich um. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verschwindet sofort, wird verdrängt von Licht und Wärme. Erdwälle, auf denen die unterschiedlichsten Pflanzen wachsen, bilden die Begrenzung des Labyrinths. Schafgarbe, Minze, Lavendel, Bartnelken und Phlox senden einen Cocktail von Düften aus, der sie an die Bauerngärten der Jugendzeit erinnert. Er mildert das Durcheinander in ihrem Inneren und sie ist dankbar dafür. Wie schön wäre es, den Augenblick genießen, sich einfach fallen lassen zu können!
Nichts denken.
Leere zulassen.
Ein Gefühl der Unwirklichkeit ergreift sie. Dieser gequälte Körper gehört nicht zu ihr. Sie kann sich von ihm lösen, ihn auf dieser Steinbank zurücklassen, befreit von jeglicher Last sein.
Kurz vermeint sie zu schweben.
Gib auf! Kämpfe nicht mehr dagegen an!
Angst flackert in ihr auf. Nein! Sie kann nicht loslassen. Zu ungewiss ist das, was dann sein mag.
Aus dem Augenwinkel nimmt sie eine Bewegung wahr, einen Schatten im Grün der Büsche. Ein Flüstern huscht durch die Luft, ein kaum wahrnehmbarer Hauch streift sie.
Barbara zuckt erschrocken zusammen, zwinkert mit den Augen.
Da ist nichts. Nur ein Haselnussstrauch, genau gegenüber der steinernen Bank, am Eingang des Labyrinths. Dann sieht sie Josef den Hügel heraufkommen und winkt ihm zu.
Sie läuft, spürt den weichen Waldboden unter ihren bloßen Füßen. Es ist Nacht, aber der Vollmond beleuchtet den schmalen Pfad, der den Hügel hinauf führt.
Wirre Gedanken jagen durch ihren Kopf. Sie muss sich beeilen! Sie darf nicht zu spät kommen! Aber der Weg ist so weit!
Ihre Muskeln beginnen zu schmerzen, die kalte Nachtluft brennt in ihrer Kehle. Ein verzweifeltes Schluchzen befreit sich aus ihrer Brust.
Lauf!
Sie bleibt stehen, muss Atem schöpfen. Ihr Blick sucht den dunklen Wald ab, sie lauscht auf jedes Geräusch. Nichts ist zu hören außer das Rauschen des Windes in den Blättern und das leise Rascheln und Knacken von Zweigen.
Sie zuckt zusammen, als ein Käuzchen seinen Ruf erklingen lässt. Der Totenvogel.
Barbara reißt die Augen auf, holt keuchend Luft. Ihr Nachthemd ist durchtränkt mit kaltem Schweiß und sie fröstelt im leichten Luftzug, der durch das Fenster streicht. Das Licht der Straßenlaterne malt helle Streifen auf die leere Doppelbetthälfte neben ihr. Schon seit einer Weile schläft sie allein, erträgt Josefs Nähe nicht mehr. Jegliche Berührung löst Qual in ihr aus.
Sie liegt ganz still, versucht, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen. Sie fühlt sich tatsächlich, als wäre sie gerannt. Dieser Traum, in dem sie zu einem unbekannten Ziel laufen muss, zu dem etwas sie mit aller Macht drängt und ruft, verfolgt sie hartnäckig seit dem Besuch beim Labyrinth.
Was mag das nur bedeuten?
Natürlich, sie läuft noch immer vor der Wahrheit weg. Ihr Leben geht zu Ende und sie wehrt sich mit Macht gegen diese Tatsache. Es ist noch viel zu früh. Sie will noch nicht gehen. Man hat ihr zu einer weiteren Chemotherapie geraten. Zuerst hat sie abgelehnt, aber zunehmend öfter denkt sie daran, diese Chance noch zu ergreifen.
Oder doch nicht? Welchen Weg soll sie gehen? Gibt es überhaupt eine Wahlmöglichkeit?
Ich habe Angst. Etwas Furchtbares wird geschehen. Ich muss laufen, um es zu verhindern. Aber ich kann nicht mehr. Ich bin so müde …
Haymon! Sie muss ihn warnen, auch wenn ihr etwas sagt, dass es längst zu spät ist. Ansgar, ihr Bruder, hat von ihren heimlichen Treffen erfahren und wartet auf ihn bei den Linden oben auf dem Berg.
Warum hat sie auch nicht besser achtgegeben! Ansgar muss ihr gestern gefolgt sein, als sie das Haus nach dem Versorgen des Viehs verlassen hat. Und heute Morgen hat er sie so seltsam angesehen und sie nach Haymon gefragt. Ob er ihr gefalle. Und dass sie nicht auf den Gedanken kommen solle, etwas mit diesem armseligen Burschen anzufangen.
Heißer Schreck ist ihr durch sämtliche Glieder gefahren und sie hat hastig geleugnet, etwas mit Haymon zu tun zu haben. Aber Ansgar hat ihre Lüge natürlich durchschaut. Und jetzt ist er bestimmt unterwegs, um ihrem Geliebten etwas anzutun. Seit Vaters Tod hat er sich zu ihrem Beschützer ernannt. Er kann so jähzornig sein!
Barbara starrt auf den Haselnussstrauch. Wieder hat sie gerade eben das Gefühl gehabt, als befände sich ein Schatten dort zwischen den Blättern. Ihre Gedanken laufen im Kreis. Ansgar? Ihr Bruder? Sie hat keinen Bruder. Und wer um alles in der Welt ist Haymon?
Wahrscheinlich wird sie verrückt.
Sie atmet tief durch, versucht das unwirkliche Gefühl zu verdrängen, das sie beschleicht.
Warum hat sie ständig das Bedürfnis, hierher kommen zu müssen? Es ist, als würde etwas sie nach oben auf den Hügel drängen, etwas, das nach ihr ruft, auf sie wartet.
Sie schüttelt den Kopf. Seltsame Anwandlungen sind das!
Ein leichter Luftzug fächelt über ihr Gesicht. Fröstelnd zieht sie die Schultern hoch. Der Himmel ist bedeckt, es sieht nach Regen aus. Was macht sie hier eigentlich? Es gibt auch hier keine Antworten auf ihre Fragen, keine Lösungen.
Ein kühler Finger berührt ihre Schultern. Sie schrickt zusammen, dreht sich um, mustert den Haselnussstrauch hinter ihr.
Vielleicht hat der Wind die Blätter bewegt. Aber das kann nicht sein. Sie steht nicht nahe genug, um von ihnen gestreift zu