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Elsternherz
Elsternherz
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eBook413 Seiten5 Stunden

Elsternherz

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Über dieses E-Book

"Ich starrte auf meine Hand. Im Licht der Straßenlaterne sah ich dunkles Rot. Blut? Ich schnupperte. Ja, das roch eindeutig nach Blut!"

Claudia Duncan wird des Diebstahls bezichtigt. In ihrer Not – mittellos und ohne Job – wendet sie sich an ihre Schwester Maggie, die unter dem Namen Eileen LaSalle erfolgreich als Model arbeitet.
Claudia ergattert eine Stelle als Haushälterin bei Michael Campbell, einem reichen Partyprinzen. Wider Erwarten fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Auch Eileen hat ein Auge auf Michael geworfen und will ihn mit allen Mitteln erobern.
Wird es Claudia gelingen, das dunkle Geheimnis, das sie mit Eileen teilt, zu bewahren und trotzdem glücklich zu werden?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Jan. 2021
ISBN9783752932553
Elsternherz

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    Buchvorschau

    Elsternherz - Karin Kehrer

    Kapitel 1

    Callander, Schottland, Juli 1997

    Der erste Tag der Sommerferien begann mit düsteren grauen Wolken, die sich über dem Fluss zusammenballten und ein seltsames Zwielicht schufen. Unser Haus, der Garten und die Bäume sahen deshalb aus, als wären sie aus einer anderen Welt hierher versetzt worden. Ob es regnen würde, war noch nicht sicher, es mochte sein, dass der Wind die Wolken vertrieb und vielleicht sogar die Sonne scheinen würde.

    Es war mir egal. Ich vermisste die Schule schon jetzt. Vor mir lagen endlose einunddreißig Tage Langeweile, ausgefüllt mit Pflichten. Vor allem Hausarbeit gehörte dazu.

    Wie immer war Mum schon um halb sieben Uhr früh aus dem Haus gegangen. Montags, mittwochs und freitags arbeitete sie bis Mittag als Zimmermädchen im Waverly Hotel. Heute hatte sie ihren langen Tag, denn sie putzte auch noch in der Praxis von Dr. McMatthew. An drei Abenden machte sie zusätzlich im Tesco sauber.

    Dad beendete seine Arbeit als Postbote wie üblich um etwa zwei, aber es war nicht sicher, wann er nach Hause kommen würde.

    Beinahe ein ganzer langer Tag nur für Maggie und mich. Es fragte sich allerdings, was wir damit anfangen sollten.

    Ich setzte mich an den Küchentisch, schüttete Milch über die Cornflakes und lauschte dem leisen Knistern, als sie sich vollsogen. Ich mochte sie weich und klebrig. Ich nahm eine Handvoll Himbeeren, die Mum bereits im Garten gepflückt hatte, gab sie in die Schüssel und leckte den Saft von den Fingern. Heuer waren sie besonders früh reif und schmeckten zuckersüß.

    Dann warf ich einen Blick auf den Zettel, den sie auf dem Tisch hinterlassen hatte. Zwei Spalten in Mums korrekter, steiler Schrift. Eine listete Maggies Aufgaben auf, die andere meine. Ich konnte lesen, seit ich vier war, weil Maggie es mir beigebracht hatte. Unter Claudia stand heute Schuhe putzen, Himbeeren pflücken und Mr Smooth füttern. Das Letzte war eigentlich keine Arbeit, sondern Vergnügen. Mum hatte das schwarz-weiß gefleckte Kaninchen bei einer Kleintierausstellung vor zwei Monaten gekauft. Ich mochte es sofort und drängte beiseite, dass es im Herbst geschlachtet werden sollte. Wir kümmerten uns abwechselnd um Mr Smooth, an geraden Tagen fütterte ihn Maggie, an ungeraden ich. Er war immer fetter geworden, bis sich herausstellte, dass Mr Smooth eigentlich ein Mädchen war. Am letzten Schultag hatte er sieben winzige Kaninchen geboren.

    Mum war darüber wütend gewesen, hatte von Betrug gesprochen, aber Dad hatte gemeint, dann gäbe es eben öfter Kaninchenbraten. Mir kamen auch jetzt die Tränen, wenn ich daran dachte, dass all die süßen Babys geschlachtet werden sollten und die Cornflakes schmeckten mir plötzlich nicht mehr.

    „Hi!" Maggie schlurfte zur Tür herein und gähnte herzhaft. Ihre langen, dunkelblonden Locken waren zerzaust, sie trug noch ihren Pyjama und blinzelte mich aus schläfrigen blauen Augen an. Sie waren das Erste, was an meiner Schwester sofort auffiel. Blau wie der Himmel an einem schönen Septembertag hatte unser Nachbar, Mr Hooper einmal gesagt. Ich erinnerte mich, dass Mum daraufhin ärgerlich wurde. „Nicht, dass die Kleine auch noch eitel wird", schnaubte sie. Meine Augen waren grau und viel weniger schön und deshalb hatte Mr Hooper sie auch nicht erwähnt.

    Sie setzte sich mir gegenüber. „Milch?"

    Ich stand auf, holte die Flasche aus dem Kühlschrank, goss etwas davon in eine Schale und stellte sie vor ihr auf den Tisch.

    Sie schüttete die Cornflakes hinein und begann sofort zu essen. Für eine Weile hörte ich nur ihre Kaugeräusche.

    Als sie fertig war, warf sie einen Blick auf den Zettel. In ihrer Spalte standen schwierigere Aufgaben, schließlich war sie schon neun. „Einkaufen, Bettwäsche wechseln und waschen, Fenster in Küche putzen. Puh! Sie zog einen Flunsch. „Das dauert ja ewig und macht überhaupt keinen Spaß. Bis auf das Einkaufen. Sie grinste. „Du darfst mitkommen!"

    „Au ja! Ich sprang auf. „Jetzt gleich?

    Sie sah auf die Küchenuhr. „In einer halben Stunde. Du weißt doch, wann das ist?"

    Ich nickte eifrig. „Wenn der kleine Zeiger auf der neun und der große auf der zwölf steht."

    „Perfekt! Dann kannst du inzwischen die schmutzige Bettwäsche in die Maschine geben und einschalten."

    „Aber …"

    „Du weißt doch, wie man die Waschmaschine anstellt?"

    „Ja, aber …"

    Maggie sah mich streng an. „Keine Widerrede. Ich bin deine ältere Schwester und du musst mir gehorchen. Hat Mum gesagt."

    Ich wagte nicht mehr zu widersprechen. Wenn Maggie mich so ansah wie gerade jetzt, endete das meist schmerzhaft für mich. Ich rutschte vom Stuhl und ging die Treppe hoch.

    Unser gemeinsames Zimmer war eine Dachkammer, in der gerade das Doppelbett Platz hatte, in dem Maggie und ich schliefen. Dann gab es noch einen Kleiderschrank und ein Regal mit Büchern, in dem wir auch unsere Schulsachen aufbewahrten. Durch die beiden winzigen Fenster fiel kaum Licht und an Tagen wie diesen blieb es beinahe dunkel. Ich knipste die Lampe an und schälte die Hüllen von den Polstern. Meine war rosa, mit weißen Wolken, die von Maggie einfärbig hellblau. Maggie hasste Rosa. So wie sie auch die Schule hasste, Hausarbeit oder Kohl.

    Die schwere Decke zog ich mit einem Ruck vom Bett und ließ sie auf den Boden fallen. Mum hatte sie aus bunten Wollresten gehäkelt und sie wurde nur vor den Feiertagen gewaschen. Ich wickelte das Betttuch zu einem Bündel und schleppte es mit den Polsterüberzügen die Treppe hinunter in den Abstellraum neben der Küche, wo die Waschmaschine stand.

    Als ich wieder hochging, hörte ich Maggie im Badezimmer trällern. Bestimmt machte sie sich wieder hübsch, so wie immer, wenn sie ausging.

    Dann mühte ich mich mit dem Bettlaken ab, das fest unter die Matratze gestopft war. Meine Arme waren zu kurz, um es zusammenzupacken, also schleifte ich es auf dem Boden hinter mir nach.

    Ich stopfte alles in die Maschine, gab das Waschpulver hinein – den Becher dreiviertel voll, wie Maggie es mir gesagt hatte – und schaltete ein.

    „Fertig!", schrie ich.

    „Komme schon!", antwortete Maggie. Gleich darauf stolzierte sie die Treppe herunter. Ich starrte sie mit offenem Mund an. Sie trug ihr hellblau geblümtes Sommerkleid mit dem weit schwingenden Rock und die weißen Sonntagsschuhe. Ihre Locken wippten bei jedem Schritt. Außerdem hatte sie ihre weiße Handtasche umgehängt.

    „Nun guck nicht so! Und kämm dich, du siehst ja völlig zerrauft aus!"

    Ich lief eilig die Treppe hoch in das Badezimmer. Hastig fuhr ich mit dem Kamm über meine hellblonden Babylocken, wie Maggie sie nannte und band sie zu einem Pferdeschwanz. Dann rannte ich wieder hinunter. Maggie wartete nicht gerne. Sie stand auch schon in der Küche, mit dem Einkaufskorb in der Hand und trippelte ungeduldig auf der Stelle.

    Zum Co-op in der Main Street brauchten wir fünf Minuten zu Fuß. Maggie lief voraus und ich bemühte mich, Schritt zu halten. Aber sie hatte viel längere Beine als ich.

    „Hast du dein Geld dabei?, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab’s in das Sparschwein getan.

    „Dumme Nuss, zischte Maggie. „Ich werde meins heute ausgeben.

    Du hast ja auch nur fünf Pfund gekriegt, wollte ich sagen, aber ich tat es nicht. Maggie war immer noch beleidigt, dass ich doppelt so viel Zeugnisgeld bekommen hatte. Aber in meinem Zeugnis standen ja auch lauter Einsen, während Maggie gerade mal eine in Turnen hatte.

    Irgendwann würde ich zu Mrs King in den Buchladen gehen und mir das große, dicke Märchenbuch kaufen. Es kostete zwanzig Pfund. Fünfzehn hatte ich schon.

    Maggie lief weiter, ihr Rock schwang bei jedem Schritt.

    Ich war völlig außer Atem, als wir beim Supermarkt ankamen. Und jetzt war mir auch klar, warum Maggie sich so schön gemacht hatte. Ronnie Callahan, der Sohn des Chefs, stand hinter der Kassa, so wie immer in den Ferien. Ich wusste, dass sie ihn mochte. Er war schon zwölf, groß, dünn und hatte Pickel im Gesicht. Insgeheim fand ich ihn hässlich mit seinem struppigen schwarzen Haar. Meistens grinste er dämlich.

    „Hi Ronnie!" Maggie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

    „Hhhi, stotterte er und wurde knallrot. Maggie drückte mir den Einkaufskorb in die Hand. „Zettel ist drinnen.

    Ich überließ Maggie dem doofen Ronnie und schlenderte zwischen den Regalen herum. Bohnen, Toastbrot, Milch, roter Cheddar, Würstchen. Ein Kinderspiel.

    Als ich zur Kassa kam, war Maggie nicht da. Auch Ronnie entdeckte ich nicht. Vor mir hatte sich bereits eine Schlange gebildet.

    „Hallo? Kommt da mal jemand kassieren? Der alte Mr Smithers klopfte ungeduldig mit seinem Stock auf den Boden. Hinter dem Regal mit Süßigkeiten tauchte Ronnie auf, mit hochrotem Kopf. „Tschuldigung bin schon da.

    Ich sah mich um. Wo war Maggie? Sie war doch hoffentlich nicht ohne mich gegangen? Eine heiße Welle stieg in mir hoch. Ich wollte nicht allein hier sein! Ich schluckte. Ich war beinahe sechs, ich schaffte das!

    Erst als nur noch eine dicke Frau vor mir war, die nach Kuchen und Schweiß roch, tauchte Maggie auf. Sie schlenderte lässig zwischen den Regalen hervor, als hätte sie einen besonderen Auftritt geplant. „Wo warst du?", wisperte ich.

    „Pst!", sagte sie und legte den Finger auf die Lippen. Ich starrte sie verwundert an.

    „Nun mach schon, du bist dran!" Sie schubste mich an die Theke. Ich hob den Korb hinauf und sah Ronnie beim Einscannen zu. Er war wieder knallrot und guckte Maggie nicht an.

    Ich bezahlte und ließ mir die Rechnung geben. Mum würde sie kontrollieren. Seit Maggie einmal fünf Schokoriegel eingekauft hatte, die nicht auf der Einkaufsliste standen, tat sie das immer.

    Maggie kicherte, als wir den Supermarkt verließen.

    „Was ist so lustig?", wollte ich wissen.

    Sie strich ihr Haar zurück. „Ach nichts. Du bist noch viel zu klein für so was."

    „Für was? Ich sah sie von der Seite an. Ihre Augen funkelten. „Wirst schon sehen, meinte sie geheimnisvoll, dann sagte sie nichts mehr. Ich schleppte unsere Einkäufe und konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.

    Ich hievte den Korb auf den Küchentisch. „Nun erzähl schon!" Ungeduldig hüpfte ich auf der Stelle.

    „Tadaa!" Mit einem stolzen Lächeln nahm Maggie ihre Handtasche ab, öffnete sie und leerte den Inhalt auf den Tisch. Ich starrte. Und starrte. Da lagen eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Schokoriegel! Auch zwei Reeses mit Erdnussbutter, die ich so sehr liebte.

    „Was – wie? Ich verstand gar nichts mehr. „Hat Ronnie dir die geschenkt?

    Maggie lachte. „Spinnst du? Ich hab sie geklaut! War ganz easy!"

    „Geklaut? Aber …"

    Sie fasste mich an den Schultern, sah mir in die Augen. „Du bekommst was davon ab, aber nur, wenn du nichts verrätst, klar?"

    Ich nickte. Klauen war Sünde, ganz bestimmt. Wenn ich die jetzt aß, musste ich das dann beichten? Aber ich hatte ja gar nichts getan.

    Maggie packte ihre Beute wieder ein. „Wir gehen nachher zum Fluss, meinte sie. „Dann teilen wir.

    „Aber wir dürfen doch nicht allein …"

    „Quatsch! Maggie lachte. „Wer soll es erfahren? Ist keiner da, der es uns verbieten kann, oder?

    Das leuchtete mir ein.

    „Ich muss Himbeeren pflücken, meinte ich kleinlaut nach einem Blick auf die Liste, die noch immer auf dem Tisch lag. „Das dauert bestimmt ewig.

    „Dann helfe ich dir eben." Maggie schnappte die große Schüssel, die Mum schon bereitgestellt hatte.

    „Du musst dein schönes Kleid ausziehen, nicht, dass es schmutzig wird."

    „Stimmt." Maggie verschwand nach oben, um sich umzuziehen.

    Gemeinsam gingen wir in den Garten gleich hinter dem Haus. Unseres war das Letzte in der Pearl Street. Es war alt, mindestens hundert Jahre, lag abseits der Straße und daher etwas einsam. Auch der Garten war alt, aber Mum liebte ihn sehr. Dad hatte ein Hochbeet gebaut, in dem riesige Salatköpfe und Gurken wuchsen. Wir hatten auch jede Menge Kräuter und außer Himbeeren auch noch Stachelbeeren. Die mochte ich nicht besonders, sie waren mir zu sauer. Aber Himbeeren liebte ich!

    Zuerst naschten wir, bis wir genug hatten, dann füllten wir die Schüssel bis zum Rand. Dabei erzählte Maggie mir Geschichten. Von Elfen und fliegenden Pferden und von dem Zauberkaninchen, das so aussah wie Mr Smooth.

    Danach hingen wir die Wäsche auf, auch wenn noch immer die Sonne nicht schien und Maggie erfüllte ihren Teil an Hausarbeit, indem sie unsere Betten frisch bezog und Mums und Dads Bettwäsche in die Waschmaschine steckte.

    Inzwischen war es Mittag geworden. Ich richtete Sandwiches für uns, die ich dick mit Erdnussbutter bestrich.

    „Sollen wir jetzt zum Fluss gehen?, fragte ich, während ich das Geschirr wegräumte. Maggie sah auf die Uhr. „Okay. Dad kommt frühestens in zwei Stunden, das geht sich aus.

    Wir liefen über den Grasstreifen hinter dem Garten, auf das Wäldchen zu, das uns vom Fluss trennte. Ein schmaler Pfad führte durch das Unterholz und wir tauchten in das dämmerige Grün. Ich fröstelte, als ich das Wasser roch und ein kühler Lufthauch über meine bloßen Arme strich.

    Unser Lieblingsplätzchen lag nahe am Flussufer, ein umgestürzter Baum, dessen Äste in das dunkelbraune Wasser hingen. Der Teith hatte hier fast keine Strömung, nur leichte Wellen kräuselten seine Oberfläche. Trotzdem durften wir eigentlich nicht hier sein. Mum hatte immer Angst, dass wir hineinfallen könnten.

    Maggie holte die Schokoriegel aus ihrem Rucksack. „Die zwei sind für dich", sagte sie und schob mir großzügig die Reeses zu.

    Ich riss die Verpackung auf und biss hinein, ließ die Schokolade im Mund schmelzen und schmeckte die salzige Süße der Erdnussbutter, die sich auf meine Zunge legte. Andächtig schleckte ich auch noch meine Finger ab.

    Maggie hatte inzwischen die vier Riegel verschlungen. Sie setzte sich rittlings auf den Baumstamm und ließ ihre Füße über dem Wasser baumeln. Sie grinste mich mit schokoladeverschmiertem Mund an. „War doch gut, oder?"

    „Mmmh. Ich war stolz auf meine große Schwester, obwohl es nicht richtig war. Sie hätte die Riegel nicht einfach so mitnehmen sollen. Aber sie war nicht erwischt worden. „Was hast du eigentlich mit Ronnie hinter dem Regal gemacht?

    Maggie verdrehte die Augen. „Nichts."

    „Aber er war ganz rot im Gesicht."

    Sie kicherte. „Ich verrate dir ein Geheimnis. Aber du darfst es niemandem sagen". Sie pustete sich die Locken aus der Stirn und sah mich streng an.

    „Ehrenwort", flüsterte ich.

    „Ich hab ihm gesagt, dass das Ding von Dad viel größer ist als seins."

    „Hä?"

    Sie seufzte ungeduldig. „Na du weißt schon. Das Ding, das bei Männern zwischen den Beinen baumelt. Ich hab das von Dad gesehen, neulich im Bad."

    „Du hast geguckt?" Ich war entsetzt.

    „Natürlich hab ich. Ist ja nichts dabei."

    „Aber woher weißt du, dass Ronnies …"

    „Ich hab ihn gefragt, ob er es mir zeigt." Sie grinste.

    „Was? Im Supermarkt?"

    Sie zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? War ja keiner sonst da, der es gesehen hätte."

    Ich hielt die Luft an. „Da waren aber doch Leute. Wenn da jemand …"

    „Hat aber niemand. Mach dir doch deswegen nicht in die Hose, Kleine", schnaubte Maggie.

    „Tu ich ja gar nicht. Warum wolltest du es sehen?"

    „Einfach so. Weil ich neugierig war. Ist aber sowieso nichts Besonderes. Die sehen alle hässlich aus. Ich bin froh, dass ich ein Mädchen bin und sowas nicht habe."

    Damit rutschte sie vom Baumstamm. „Komm, laufen wir noch durch den Wald. Vielleicht finden wir ja ein paar Pilze."

    Ich wischte meine Schokoladenfinger an den Jeans ab. Sie war ohnehin nicht mehr besonders sauber.

    Maggie lief voraus, wie immer. Ich folgte ihr auf dem Pfad, der so schmal war, dass wir hintereinander gehen mussten.

    Mit einem Mal fiel ein breiter Streifen Sonnenlicht durch das Gebüsch. Maggie blieb stehen. „Verdammt. Jetzt muss ich doch noch die Fenster in der Küche putzen. Ich hatte gedacht, es würde regnen."

    „Sollen wir nach Hause gehen?", meinte ich zaghaft. Eigentlich hatte ich keine Lust dazu. Dann fiel mir ein, dass ich die Schuhe noch nicht geputzt hatte. Plötzlich bekam ich es mit der Angst zu tun.

    „Denkst du, Mum wird uns bestrafen?", piepste ich.

    Maggie lachte. „Sicher nicht, mir wird schon etwas einfallen."

    Darauf konnte ich vertrauen. Sie war gut im Erfinden von Geschichten und sie konnte sie so erzählen, dass alle sie glaubten. Ich schaffte das nie. Meine Lügen wurden immer sofort aufgedeckt.

    Beruhigt stapfte ich jetzt hinter ihr her. Der Pfad war schlammig und rutschig. Beinahe wäre ich hingefallen, als ich über eine Wurzel stieg und auf Maggie prallte, die abrupt stehengeblieben war.

    „Autsch! Pass doch auf! Sie drehte sich um. „Sieh doch mal! Sie wies mit dem Finger auf etwas Schwarz-Weißes, das seitlich des Weges lag.

    „Was ist das?"

    „Eine Elster, flüsterte Maggie. Ich starrte den Vogel an. Er rührte sich nicht. „Schläft er?, wisperte ich.

    „Nein, du Dummchen, der ist tot."

    Ich hockte mich neben Maggie auf die Fersen, um ihn zu begutachten. Ich wusste nicht recht, ob ich Elstern mögen sollte oder nicht. Mir gefielen sie, weil sie wunderschön waren, aber ihr Krächzen machte mir manchmal Angst. Die hier lag nur still da. Ihr Kopf hing seltsam geknickt seitwärts, die Beine mit den scharfen Krallen streckte sie in die Luft. Ich betrachtete den weißen Bauch, den bläulichen Glanz auf den Federn und den spitzen Schnabel.

    „Elstern stehlen alles, was glänzt, sagte Maggie. „Wenn wir ihr Nest finden, entdecken wir vielleicht einen Schatz.

    Ich sah mich um. „Ich seh kein Nest."

    „Dummchen, das ist hoch oben, in den Bäumen."

    „Ich will aber nicht auf Bäume klettern. Wir wissen doch nicht, in welchem es ist. Es gibt so viele hier." Ängstlich starrte ich sie an.

    Sie grinste. „War auch nur so eine Idee."

    Ich atmete erleichtert aus.

    Sie runzelte die Stirn. „Aber wir sollten sie begraben."

    Ein kaltes Prickeln überlief mich. „Wieso? Wir … wir haben keine Schaufel oder so. Und sie ist ziemlich groß."

    Nachdenklich starrte sie den Vogel an. „Du hast recht. Dann werfen wir sie eben in den Fluss."

    „Ich tu es nicht", sagte ich.

    „Doch, tust du. Ist ja gar nichts dabei." Sie lächelte fies.

    „Aber er ist tot. Und vielleicht eklig."

    „Darum kann er dir ja auch nichts tun. Nimm ihn. Sie sah mich streng an. „Wir können ihn nicht hier liegenlassen. Er wird fürchterlich stinken.

    Ich tippte mit den Fingerspitzen auf den Bauch des Vogels. Er war weich und glatt. Schließlich hob ich ihn zaghaft hoch. Für ein so großes Tier war er erstaunlich leicht.

    „Iiiihhh!" Da krabbelte ein großer, schwarzer Käfer unter dem Vogel hervor! Vor Schreck ließ ich ihn fallen.

    „Kraaaahh!", krächzte Maggie.

    Ich schrie auf.

    Maggie hob ihre Hände, zu Krallen geformt und starrte mich mit riesigen Augen an. „Jetzt bist du verflucht, du hast seine Totenruhe gestört!"

    Ich schrie noch einmal, begann zu zittern. „Hör auf damit, du machst mir Angst!"

    „Feigling, Feigling! Maggie lachte. Dann hob sie den Vogel auf. „Siehst du, er ist tot! Er tut nichts!

    Ich starrte auf das leblose Tier. Sein Kopf baumelte hilflos in der Luft. Mir wurde schlecht. „Tu ihn weg, bitte! Tränen stiegen in meine Augen. „Bitte!

    „Also gut. Warte hier." Sie machte auf dem Pfad kehrt und lief zum Fluss zurück.

    Ich stand ganz still. Die Sonne war wieder fort und hatte die Düsternis zurückgebracht. In meinem Bauch ballte sich ein merkwürdiger Knoten zusammen und eine Gänsehaut rieselte über meinen Rücken. Ich zuckte zusammen, als es irgendwo im Gebüsch raschelte und starrte auf den Pfad, auf die Stelle, wo Maggie verschwunden war. Wo blieb sie nur so lange?

    Ich wagte nicht, mich zu rühren. Was, wenn sie in den Fluss fiel? Oder der Vogel plötzlich wieder lebendig wurde und ihr die Augen aushackte? Ein leises Wimmern kam aus meiner Kehle und am liebsten wäre ich fortgelaufen. Aber ich musste auf meine Schwester warten, ich durfte sie nicht im Stich lassen.

    Erleichtert schluchzte ich auf, als sie endlich auf dem Pfad auftauchte – ein hellblauer Fleck in der dämmerigen Umgebung.

    „Erledigt", sagte sie kurz.

    Ich folgte ihr schweigend, war froh, als ich den Gartenzaun vor mir sah. Ich schloss das Türchen sorgfältig hinter mir.

    Jetzt hatten wir allerdings ein anderes Problem. Unsere Kleider und Schuhe waren voll Schlamm und Erde.

    „Wir schmeißen alles in die Waschmaschine", meinte Maggie.

    „Auch die Schuhe?"

    „Klar doch, sind ja Turnschuhe, Häschen. Die sind aus Stoff, die kann man waschen."

    „Na gut." Wieder einmal war ich froh, dass Maggie so klug war. Auch wenn sie in der Schule schlechte Noten bekam, weil sie das alles nicht interessierte.

    Dafür half ich ihr beim Aufhängen der Wäsche, beim Fensterputzen und danach machte ich noch alle Schuhe sauber, die Mum in den Flur gestellt hatte.

    Inzwischen war es fast fünf. Von Dad keine Spur. Es war also wieder einer dieser Tage, wie Mum oft sagte. Das war immer dann, wenn Dad von der Arbeit nicht gleich nach Hause ging, sondern noch auf ein paar Bier in die Bar des Crags Hotel. Dort traf er sich mit seinen Kumpels. Meist mit dem alten Fred von der Cooks Farm, dem hässlichen Rowan Otis ohne Zähne, aber dafür mit bunten Bildern auf den Armen, der schon ewig arbeitslos war oder mit John Callahan, Ronnies Opa. Manchmal war auch Terry Hooper dabei, unser Nachbar. Ich wusste das von Mrs Hooper, weil sie mal mit Mum darüber geredet hatte. Ich hatte aber auch gehört – diesmal von Mr Hooper – dass es kein Wunder sei, dass Malcolm – das war mein Dad – Angst davor habe, nach Hause zu kommen, weil meine Mum eine furchtbar scharfe Zunge habe. Daraufhin beobachtete ich sie manchmal beim Reden und wunderte mich, dass sie sich nicht selbst schnitt. Als ich Maggie davon erzählte, lachte sie mich aus und meinte, das wäre nur so eine Redensart. Das hieße einfach, dass Mum ziemlich streng sei. Und das stimmte auch. Sie schimpfte nicht nur mit uns, sondern auch ziemlich oft mit Dad.

    Manchmal tat er mir leid. Er schimpfte nie zurück, sondern ging einfach ins Wohnzimmer, drehte den Fernseher auf und legte sich auf die Couch. Meist schlief er dabei ein und schnarchte laut.

    Es gab nichts mehr zu tun, also setzten wir uns ins Wohnzimmer und sahen Tom & Jerry.

    Es war fast sieben, als Dad endlich kam. Ich hörte, wie er die Haustür öffnete und dann in die Diele stolperte. Er fluchte, brabbelte etwas Unverständliches. Maggie und ich sahen uns an. Sie stand auf und schaltete den Fernseher aus. Dad wankte in das Wohnzimmer. Er starrte uns an, schüttelte dann den Kopf. „Ist spät geworden", nuschelte er und rülpste. Er stank nach Alkohol und Zigarettenrauch und trug noch immer seine Briefträgeruniform, sein Hemd war voller Flecken.

    Er setzte sich auf die Couch, stierte einen Moment stumm auf den Boden, dann legte er sich nieder. Gleich darauf begann er laut zu schnarchen.

    Wir schlichen auf Zehenspitzen in die Küche zurück. „Zeit, das Abendessen zu richten", flüsterte Maggie. Ich nickte, war froh, etwas zu tun zu haben.

    Sie setzte Kartoffeln auf, ich holte Salat aus dem Garten und gab ein paar Blätter davon Mr Smooth. Vorsichtig streichelte ich mit dem Finger über die winzigen Körper, die an den Zitzen der Mutter hingen. „Ich mag euch gar nicht", flüsterte ich. Natürlich stimmte das nicht, ich wollte es mir nur einreden, damit ich nicht zu traurig war, wenn sie alle totgeschlagen wurden.

    Ich ging in die Küche zurück.

    „Ich glaube, Dad hat die Toilette nicht gefunden. Er hat in den Flur gemacht, flüsterte Maggie. Sie wies mit dem Finger auf die Pfütze. „Du bist dran mit wegputzen!

    „Nein, bin ich nicht. Ich hab das letztes Mal getan!", wisperte ich zurück.

    Sie packte mich am Arm. „Willst du, dass Mum wieder böse wird?"

    Ich schüttelte heftig den Kopf. Sie versetzte mir einen Stoß. „Dann tu, was ich dir sage!"

    Also ging ich in die Abstellkammer, holte Eimer und Putzlappen und wischte auf. Ich hielt dabei den Atem an, so lang ich konnte, um den Gestank nicht einatmen zu müssen, aber natürlich schaffte ich es nicht. Beinahe hätte ich mich übergeben. Ich wusch den Eimer und den Lappen mit heißem Wasser aus und schrubbte danach meine Hände, bis die Haut ganz rot war und brannte.

    Maggie hatte inzwischen die Würstchen aus der Plastikfolie genommen und in die schwarze, eiserne Pfanne gelegt.

    Ich schälte die Kartoffeln und Maggie half mir, sie durch die Presse zu drücken. Dann rührte ich Milch und Butter dazu, ein wenig Salz und Muskatnuss.

    „Sehr gut", lobte Maggie, nachdem sie vorsichtig gekostet hatte.

    Als Mum nach Hause kam, war das Abendessen fertig.

    Sie ließ sich mit einem Ächzen auf einen Stuhl fallen. Wie immer sah sie furchtbar müde aus und roch nach Putzmittel und Schweiß. Ich hätte mich gerne zu ihr gesetzt, aber das mochte sie nicht. Wenn sie so fertig war, brauchte sie ihre Ruhe.

    Sie holte ihre Brille aus dem Beutel, den sie auf den Boden gestellt hatte und kontrollierte die Liste. Wir mussten Häkchen machen, wenn wir eine Arbeit erledigt hatten.

    „Was ist mit der Bügelwäsche?"

    Wir zuckten beide zusammen. Verdammt, die hatten wir ganz vergessen!

    „Tut mir leid, Mum. Maggie lächelte süß, aber ich merkte genau, dass sie Angst hatte. „Ich bin nicht mehr dazugekommen. Grandma Hooper war da und wollte unbedingt Tee haben. Also hab ich ihr welchen gemacht. Sie ist einfach nicht nach Hause gegangen.

    Ich staunte. Das war eine geniale Lüge. Jedermann wusste, dass Grandma Hooper nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte und ständig bei irgendwelchen Leuten aufkreuzte. Sie war auch schon manchmal bei uns gewesen, ohne dass Mister oder Mrs Hooper es mitbekommen hatten.

    Mum starrte Maggie an. „Margaret Duncan, ich merke es, wenn du flunkerst. Das stimmt doch nicht, oder?"

    „Doch", piepste ich.

    Sie sah uns jetzt beide scharf an. Ich senkte den Kopf und zupfte an einem Faden, der vom Saum meines T-Shirts hing.

    Für einen Moment war es so still, dass man deutlich Dads Schnarchen aus dem Wohnzimmer hörte. Mum stieß einen tiefen Seufzer aus. „Also wieder einmal einer dieser Tage. Mit einem Mal sah sie sehr traurig aus. „Er ist so ein erbärmlicher Schwächling. Ich wünschte … Sie sprach nicht weiter. Ich fragte mich, was sie meinte. Dad war kein Schwächling. Er war groß und stark. Er trank eben manchmal ein wenig mehr, als er sollte.

    Maggie legte zaghaft die Hand auf ihren Arm. „Wir schaffen das schon, Mum. Ich bügle die Wäsche ganz bestimmt gleich morgen früh."

    Mum lächelte schwach. „Ihr seid großartig, Mädels. Ohne euch würde ich das niemals schaffen." Sie strich mir kurz über den Kopf. Ich schluckte, stolz über das Lob. Maggie zwinkerte mir zu. Ja, wir schafften das bestimmt! Wir waren eine Familie!

    In dieser Nacht träumte ich von der Elster. Sie lag vor mir auf dem Waldboden. Als ich sie vorsichtig berührte, schlug sie plötzlich die Augen auf und krächzte mich an. Vor Schreck schrie ich auf. Das Gesicht des Vogels verwandelte sich, wurde zu das von Mum. Sie öffnete den Mund, krächzte wieder. Dann schoss ihre Zunge heraus. Scharf und glänzend wie ein Messer, schnitt sie in ihre Lippen. Sie begann zu bluten. Aber sie hörte nicht auf, sich selbst zu verletzen, ihre Zunge kam immer wieder aus ihrem Mund. Ich wimmerte, ich wollte, dass das aufhörte, sofort! Dann wachte ich auf.

    „Schhht, ist ja alles gut, ich bin bei dir, wisperte Maggie in mein Ohr. Sie legte die Arme um mich und hielt mich fest. Ich schmiegte mich an sie, am ganzen Körper zitternd. „Ich hab schlecht geträumt.

    Sie strich über mein Haar. „Ich pass auf, dass die böse Traumfee nicht mehr wiederkommt – versprochen", flüsterte sie.

    Maggies Versprechen beruhigte mich. Meine große Schwester würde für mich da sein, wenn ich sie brauchte. Und ich würde alles tun, damit sie mich mochte. Mit diesem Schwur schlief ich ein.

    Kapitel 2

    London, November 2017

    Seit Jahren quälte mich ein immer wieder kehrender Albtraum: Ich stand bei Harrods in einer endlosen Schlange an der Kassa und wollte bezahlen. Ich machte meine Geldbörse auf, doch sie war leer. Kein Geld, keine Kreditkarte, nichts. Ich stand wie festgewachsen, wusste nicht, was ich sagen sollte, wäre am liebsten unter den bohrenden Blicken der Kassiererin im Boden versunken. Dann kam ein Mann – vermutlich der Kaufhausdetektiv. Er bat mich, meine Tasche zu öffnen. Ich wollte es nicht tun, aber er nahm sie mir einfach ab und leerte den Inhalt auf den Tresen. Eine heiße Welle lief durch mich, als ich sah, was zum Vorschein kam: Schmuck, Uhren oder auch Dessous. Ich wusste nicht, wie das alles in meine Tasche gekommen war, wollte es erklären, konnte nicht. Diebin! schrie er. Diebin! Polizei!

    An dieser Stelle wachte ich immer auf.

    Vielleicht wollte ich deshalb nie zu Harrods oder in eines dieser großen Kaufhäuser. Aber jetzt war ich da, stand in der Dessousabteilung und fühlte mich wie erschlagen von der überbordenden Menge an schimmerndem Stoff und Spitze in allen Farben. Maggie hatte auf meiner Begleitung bestanden. Es war ein Fehler, dass ich ihr von meinem Traum erzählt hatte. „Du solltest dich deinen dummen Ängsten stellen, Häschen", kommentierte sie nur spöttisch.

    Seit zwei Uhr nachmittags waren wir unterwegs in diesem Tempel der Kauflust, der überquoll vor Weihnachtsdekoration und suchten Abteilung für Abteilung auf. Maggie durchstöberte voller Unrast Kleider, Schuhe,

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