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Land der Mädchen
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eBook338 Seiten4 Stunden

Land der Mädchen

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Über dieses E-Book

Ein scheinbar verrückter Serienmörder hält Köln in Atem: Er mordet kleine Jungen und verkleidet seine Opfer als Mädchen. Für Hauptkommissar Kai Grothe und seine Mitarbeiterin Katja Sommer gerät der Fall mehr und mehr zum Psychopuzzle, dessen letztes Teil vom Mörder selbst eingesetzt wird.Die Autorin führt den Leser durch eine packende und sehr bewegende Geschichte. Dabei lässt sie ihn fast unerträglich tief in die Seele des Mörders blicken. Ein fesselndes Buch mit einem furiosen Showdown!
SpracheDeutsch
HerausgeberProlibris Verlag
Erscheinungsdatum11. Juni 2013
ISBN9783954750702
Land der Mädchen

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    Buchvorschau

    Land der Mädchen - Birgit C. Wolgarten

    ...

    1

    Es ist spät geworden, viel später als ich gedacht habe. Erika und Maria sind müde, sie sagen zwar nichts, aber ich sehe es ihnen an.

    «Hast du ein Foto geschossen?», fragt Maria mich neugierig.

    «Ja! Wenn ich es schaffen sollte, werde ich den Film noch heute Nacht entwickeln, andernfalls morgen früh.» Auch ich bin erschöpft, der Abend war anstrengend.

    «Glaubst du, das Foto wird besser als die Bilder in deinem Schlafzimmer?», will Erika von mir wissen.

    Ich habe mir einen Wodka-Orange gemixt und drehe mich zu meinen besten Freundinnen herum. «Erika, im Schlafzimmer sind keine Fotos, sondern Montagen, Fotomontagen. Das hier», und ich zeige ihr meine teure Kamera, «wird ein echtes Foto. Und die Aufnahme wird besser als die Montagen sein.»

    Ich nehme mir das schwarze Notizbuch von der Fensterbank und schlage es auf. Was habe ich doch für eine schöne Schrift.

    «Ich bin so froh, dass du wieder da bist und alles gut geklappt hat, Friederike», unterbricht Maria meine Gedanken. «Aber wo ist das Kind jetzt? Ist es etwa hier?»

    «Es ist oben, Maria.» Geistesabwesend wende ich mich der kleinen Lektüre zu. Mein Herz jubelt, ich fühle mich glücklich und entspannt. Alles ist perfekt gelaufen. Und mein Buch ist fertig, endlich fertig!

    Ich kann kaum erwarten, es nun noch einmal zu lesen. Ich habe es schließlich nicht nur selbst verfasst, ich habe es ja erlebt. Es war gut, die Geschichte aufzuschreiben. Und es war auch nicht schwer, ich erinnere mich minutiös an jede Einzelheit und Kleinigkeit.

    «Liest du uns vor?» Erika liegt auf dem weichen, weißen Teppich und schaut mich bittend an. Maria sitzt zu meinen Füßen vor dem Sofa.

    Ich lächele und kuschle mich in die Sofaecke unter der Stehlampe. «Stimmt, ich habe es euch versprochen.» Meine Müdigkeit ist schlagartig verschwunden, ich vertiefe mich in das Buch, nichts um mich herum ist noch wichtig.

    23. Juli 1956, 6:15 Uhr

    Ich erwachte an diesem warmen Sommermorgen noch vor dem ersten Vogelgesang und schwang die Beine aus meinem zu klein gewordenen Kinderbett, von dem meine Mutter die hölzernen Gitterstäbe entfernt hatte. Meine nackten Füßchen patschten auf den kalten Steinboden, als ich zum Fenster ging und die gelben Vorhänge aufzog. Hinter den Dächern auf der anderen Straßenseite hatte der Himmel eine violette Färbung angenommen, die allmählich in ein helles Blau überging. Jetzt hörte ich auch das erste Vögelchen an diesem wunderschönen Morgen.

    Vielleicht würde heute ein ganz besonderer Tag für mich werden.

    Mama hatte mir gestern Abend ein Stück Papier in die Hand gedrückt und gesagt: «Gleich morgen früh, wenn du wach wirst, gehst du in die Küche und reißt ein Kalenderblatt ab, und wenn dann auf dem Kalender dieselben Zahlen stehen wie hier auf dem Papier, dann hast du Geburtstag und bist dann Mamas großes Mädchen!»

    Hastig lief ich zu der Kommode, die meine Mutter am Ende des Krieges aus einem Lazarett gestohlen hatte. Da lag der Zettel. Vorsichtig, als hätte ich eine Karte zu einem Schatz gefunden, faltete ich das Blatt Papier auseinander:

    «Friederike, 23.7.1956», stand darauf.

    Jetzt brauchte ich nur noch in der Küche diese Zahlen mit denen auf dem neuen Kalenderblatt zu vergleichen. Allerdings musste ich leise sein. Denn in der Küche war auch der Schlafplatz meiner Mutter. Ich setzte mich auf mein Bett, hielt den Zettel ganz fest in meinen kleinen Fingern.

    Zu meinem Geburtstag hatte mir Mama eine Überraschung versprochen. Vielleicht durfte ich endlich einmal hinaus auf den Spielplatz und mit anderen Kindern spielen? Oder ich kam in die Schule, so wie Tante Lizzy mir erzählt hatte, schließlich würde ich ja heute schon sieben Jahre alt und wäre dann Mamas großes Mädchen. Oder vielleicht bekam ich den großen roten Lastwagen, den ich in einem Schaufenster gesehen hatte, oder heute Abend – und bei dem Gedanken fing mein kleines Herzchen kräftig an zu klopfen – würde keiner von den bösen Männern kommen und mit Mama hinter den Vorhang gehen, wo Mama immer schlief.

    Ich, Friederike, Mamas liebes Mädchen, musste dann immer mit einer Kerze in der Hand in der ansonsten finsteren Küche am Küchentisch sitzen und warten, bis Mama und der Mann wieder herauskamen. Das sei eine ganz wichtige Aufgabe für mich, hatte Mama gesagt, und wenn Mama laut nach mir rufen würde, müsse ich die Treppe herunterlaufen und eine Etage tiefer bei Lizzy klingeln, die wüsste dann, was zu tun wäre.

    Erst letzte Woche waren ganz viele Männer gekommen und ich war am Küchentisch eingeschlafen. Daraufhin war Mama sehr böse geworden und hatte mich mit dem Riemen ihrer Handtasche geschlagen. Noch lange Zeit später spürte ich die Schmerzen an meinem Rücken. Ich hob meine Hände in die Luft und faltete sie: «Bitte, bitte, lieber Gott! Lass heute Abend keinen Mann bei Mama sein, und lass mich draußen mit den anderen Kindern spielen. Immer bin ich hier so alleine und niemand spielt mit mir.»

    Tränen liefen über meine Wangen. Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen, stand auf und zog mein kurzes baumwollenes Nachthemdchen glatt.

    Mit dem Zettel in der Hand öffnete ich die weißlackierte Holztür, die von meinem winzigen Zimmer direkt in die Küche führte. Hinter dem dunklem Vorhang hörte ich die leisen Schnarchtöne meiner Mutter. Ich schaute nach unten auf meine Füße, die mittlerweile schon etwas größer waren als eine der vielen kleinen schwarzen und weißen Fußbodenkacheln in der Küche.

    Mit einem Mal musste ich nötig, aber die Toilette lag im dunklen Hausflur am Ende eine Ganges. Eine einzige, winzige Toilette für alle Bewohner des Hauses. Ich hasste diesen stets unsauberen, fleckigen Ort. Meine Mutter hatte, damit wir Nachts nicht aus der Wohnung mussten, zwei graue Blecheimer mit Deckeln in die Küche gestellt, einer davon war mein Eimer. Aber welcher? Vorsichtig öffnete ich den ersten Deckel und verschloss ihn sofort wieder. An dem Geruch hatte ich sofort erkannt, dass meine Mutter, als gestern Abend der letzte Mann fort gegangen war und ich endlich ins Bett durfte, wieder zu viel von dem Bier getrunken hatte, das so schäumte, wenn man es in der Flasche schüttelte. Das hieß auch, wenn meine Mutter irgendwann wach würde, wäre sie wieder schrecklich schlecht gelaunt und würde Kopfschmerzen haben.

    Ob sie dann wohl auch meinen Geburtstag vergessen würde?

    Ich öffnete den Deckel des zweiten Eimers, und der alte beißende Geruch ließ mich zurückfahren. «Mama hat gestern wieder einmal vergessen, meinen Eimer zu leeren», dachte ich, als ich mich, die Nase zuhaltend, voller Ekel vorsichtig auf dem Eimer niederließ.

    In letzter Zeit hatte ich morgens früh immer öfter Schwierigkeiten beim Wasserlassen. Als ich Mama einmal darauf angesprochen habe, hat sie nur abgewinkt und mir gesagt, das läge an der Krankheit, die ich habe.

    Dann fiel mir der kleine Zettel wieder ein, den ich immer noch krampfhaft in meiner Hand hielt. Ich strich mir eine Strähne meiner langen blonden Haare aus dem Gesicht. Den auseinander gefalteten Zettel legte ich auf das alte Küchenbüfett.

    Während ich mir an der Spüle mit kaltem Wasser die Hände wusch, schaute ich auf den kleinen Tageskalender an der vom Nikotin gelb gewordenen Küchenwand: Ich stellte einen alten wackeligen Küchenschemel an die Wand, direkt unter den Kalender. Noch einmal besah ich mir die Zahlen auf dem Zettel. Dann stieg ich vorsichtig auf den Schemel, riss mit einem Ruck an dem obersten kleinen Blatt des Kalenders. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf die jetzt freiliegenden Zahlen: 23.7.1956.

    Ich hatte Geburtstag!

    Ich bin müde, meine Augen sind bleischwer geworden, das Lesen strengt mich an. Das war auch mal anders, schießt es mir durch den Kopf. Aber ich muss noch etwas erledigen. Heute Nacht werde ich kaum schlafen, höchstens ein oder zwei Stunden. Ich sehe mich im Wohnzimmer um und bemerke jetzt erst, dass ich alleine bin. Erika und Maria haben sich schlafen gelegt.

    Das kleine Buch lege ich auf den Tisch und lösche das Licht. Langsam gehe ich in der Dunkelheit die schmale Holztreppe hinauf. Licht brauche ich keines, hier kenne ich mich aus, jeder Winkel meines Hauses ist mir vertraut.

    Ich öffne eine der drei Türen im oberen Stockwerk und schaue in den Schlafraum. Da liegen sie, meine Freundinnen Erika und Maria. Im Schlaf und durch den silbernen Vollmond, der durch das Fenster scheint, wirken ihre Gesichter wie bleiche, tote Masken.

    An der zweiten Tür bleibe ich stehen. Es ist mein Schlafzimmer. Mein Herz klopft wie rasend. Hier, hinter dieser Tür liegt das Kind. Leise öffne ich die Tür zu dem Schlafraum, der ganz in Nachtblau gehalten ist. Erika hat einmal gesagt, die Farbe wirke so unterkühlt, das finde ich überhaupt nicht. Ich bleibe an der Tür stehen und spüre, wie mein Herz sich erwärmt. In meinem breiten französischen Doppelbett liegt, in Satinbettwäsche eingehüllt, das Kind.

    «Nun bist du ein süßer kleiner Engel, nicht wahr? Ich habe dich gerettet.» Ich schlage die Bettdecke zurück und ziehe das blaue Samtkleidchen glatt. Dann streiche ich über das lange blonde Haar.

    «Nie wieder wirst du etwas Böses tun», geht es mir durch den Kopf, während ich mich umziehe, «das Land der Mädchen ist dir sicher.» Aus meinem Schlafzimmerschrank wähle ich einen weißen Hosenanzug. Darüber trage ich wieder meinen weißen Wollmantel mit den passenden weißen Handschuhen und dem breitkrempigen Hut. Ich schaue auf die leuchtende Anzeige der kleinen Digitaluhr auf der Ablage neben meinem Bett. 03:02 Uhr. Hoffentlich schaffe ich das Pensum überhaupt noch, das ich mir vorgenommen habe.

    Vorsichtig trete ich an das Bett und hebe das Kind hoch. «Kleiner Engel, deine Augen sind geschlossen, das ist gut so.»

    Ich betrachte das Kind in meinen Armen. «Du bist ein so wunderschönes Mädchen», murmele ich, während meine Finger zart über das Gesicht streicheln, «so wunderschön!»

    2

    18:30 Uhr. Routinemäßig fuhren die beiden Werkschutzbediensteten des Flughafens Köln/Bonn in ihrem Dienstwagen ihre letzte Runde über die Vorfeldrandstraße entlang der Sicherheitsabsperrungen des Flughafengeländes. Beide kauten lustlos auf ihren Brötchen aus der Kantine herum und freuten sich auf den nahen Feierabend. Ihre Augen suchten die Umgebung nach Unregelmäßigkeiten ab.

    «Halt mal an, Heinz», bat der Jüngere plötzlich seinen älteren Kollegen.

    «Was ist los?», fragte dieser ungehalten. Er wollte nach Hause, die Beine hochlegen und in Ruhe die Karnevalssitzung im Fernsehen genießen. Dennoch bremste er den Wagen sofort ab und hielt ihn kurz vor dem hohen Maschendrahtzaun des Flughafengeländes an. Hinter der Landstraße auf der anderen Seite des Zaunes lag das dicht bewachsene Waldgebiet der Wahner Heide.

    Der Jüngere nahm seine Brille ab. «Ich habe ein Licht gesehen». Er rieb sich die Augen, setzte die Brille erneut auf und versuchte angestrengt, durch die Windschutzscheibe etwas zu erkennen.

    «Du hast zuviel von dem ollen Kantinensekt getrunken, gib es zu», brummte der Ältere. Die Lichtkegel der Autoscheinwerfer beleuchteten die kahlen Äste und dicken Baumstämme der eng beieinander stehenden Eichen.

    «Nein, nein», der jüngere Mann stieg aus dem Wagen aus, sein Kollege folgte ihm widerwillig in Richtung Zaun. «Da! Siehst du, da ist es!», sagte der Jüngere. Sein Atem bildete kleine Wolken in der Kälte, und er zeigte mit dem Finger auf das Waldgebiet hinter der Fahrbahn. Ein gelbes Auto fuhr in rasantem Tempo über die Landstraße vor ihnen und unterbrach für einen Moment den Blick auf die Büsche und Bäume, die durch das Scheinwerferlicht riesige dunkle Schatten warfen und wie ein Gespensterwald aus einem Märchen auf ihn wirkten.

    «Wo?» Der Ältere zog fröstelnd den Kragen seiner Jacke hoch, lehnte sich gegen den hohen Zaun, der sie von der Straße und dem Wald dahinter trennte, und versuchte, zwischen der ersten Baumreihe und den Büschen etwas zu erkennen.

    «Es ist etwas weiter hinten!» Der junge Mann stupste seinen Kollegen unsanft an und deutete mit dem Daumen nach hinten auf ihr Dienstfahrzeug. «Mach die dämlichen Schweinwerfer aus, dann siehst du besser.»

    Der Ältere ging mürrisch zum Fahrzeug, schaltete die Scheinwerfer aus und kam zurück an den Zaun. Er beugte sich vor und versuchte angestrengt, durch das dichte Gestrüpp etwas zu erkennen. Plötzlich entdeckte er in einer der hinteren Baumreihen einen flackernden Lichtpunkt. «Tatsächlich», sagte er verblüfft und richtete sich auf, «da versucht einer, die Wahner Heide abzufackeln.»

    «Ich rufe die Funkstreife an, sollen die sich das mal ansehen.»

    Der ältere Mann blickte weiter angestrengt durch den großen Drahtzaun hindurch. Er suchte nach einer Bewegung, aber außer dem Lichtpunkt erkannte er nur schemenhaft die mächtigen Eichenstämme in der Dunkelheit.

    «Ja, genau», hörte er im Hintergrund seinen Kollegen mit der Polizei sprechen, «im Waldgebiet hinter dem Zaun an der Querwindbahn, ja genau, an der 07, okay, alles klar.»

    «Die schicken eine Funkstreife.» Der Jüngere war zu dem Zaun zurückgekommen und zog fröstelnd seine Schultern hoch. «Wir sollen hier auf sie warten.»

    Sein Kollege sah auf seine Armbanduhr, 18:40 Uhr, gleich hatten sie Dienstschluss.

    «Da sind sie schon», rief der junge Wachmann und winkte dem weißgrünen Fahrzeug zu, das langsam auf der Landstraße näher kam und auf einem schmalen Grünstreifen auf der anderen Seite des Zaunes vor ihnen anhielt. Erstaunt sah er den beiden Streifenpolizisten entgegen: «Ihr seid aber schnell hier.»

    Der Polizeibeamte trat mit seiner Kollegin an den Zaun. Er ließ das Licht seiner Taschenlampe über den Boden huschen. «Wir waren gerade in der Nähe. Na, wo ist denn euer dubioses Licht?»

    Der Ältere der beiden Werkschutzleute zeigte auf das dunkle Gelände. «Da hinten im Wald, sieht fast so aus, als ob jemand eine Kerze angezündet hat. Vielleicht irgendwelche Sektenheinis.»

    «Na, dann wollen wir mal.» Die beiden Beamten drehten sich um, überquerten die Fahrbahn und traten in das Unterholz.

    «Hoffentlich ist das nicht wieder so ein Mist wie vor drei Wochen», murmelte der Polizist vor sich hin und bog den dornigen und dürren Ast eines Strauches beiseite, der ihn am Weitergehen hinderte. Seine Taschenlampe strahlte die mächtigen Baumstämme in der direkten Umgebung an.

    «Warum, was war denn vor drei Wochen?»

    «Der Werkschutz rief an und bat uns ebenfalls hier hinaus in den Urwald, einer der Typen hatte irgendetwas Ungewöhnliches leuchten sehen. Dieses Etwas entpuppte sich als Luftballon. Das musst du dir einmal vorstellen, da ...» Der Polizist blieb ruckartig stehen. Er schaltete die Taschenlampe aus.

    «Was gibt’s?» Sie legte ihre Arme um den Oberkörper. Durch die plötzlich eingetretene Finsternis kam es ihr fast vor, als wäre es noch kälter geworden. Kein Geräusch war zu hören.

    «Da! Da scheint tatsächlich jemand eine Kerze oder eine kleine Fackel angezündet zu haben», antwortete der Polizist.

    Die Polizistin sah an ihrem Kollegen vorbei und erkannte einige Meter vor ihnen, etwas versetzt hinter einem Baumstamm, einen kleinen flackernden Lichtschein.

    «Mensch, mach die Taschenlampe wieder an, ich kann ja nichts sehen.» Sie hörte ein leises Klicken, und augenblicklich strahlte die Lampe wieder ihr kräftiges Licht in das Dunkel vor ihnen. Vorsichtig folgten sie dem Licht ihrer Taschenlampe. Nur das knackende Geräusch der morschen Äste, die sie beim Weitergehen zerbrachen, war zu hören.

    «Wieso stellt jemand eine Kerze mitten im Wald auf?», hörte der Polizist seine Kollegin hinter sich fragen.

    «Das wüsste ich allerdings auch gerne.» Argwöhnisch leuchtete er den Baumstamm an, hinter dem der Lichtschein flackerte. «Das gibt’s doch nicht! Ich glaube, da sitzt jemand!», flüsterte er ungläubig.

    «Bei diesen Temperaturen setzt sich doch kein Mensch auf den nassen Waldboden.»

    «Eben», dachte der Beamte, und seine innere Anspannung wuchs. Er ging jetzt schneller auf den Baumstamm zu.

    «Oh, mein Gott!» Er war an die Seite des Baumstamms getreten und atmete jetzt unwillkürlich schneller. «Hol Verstärkung, schnell!»

    An den Baum gelehnt saß, mit gebrochenen Augen, ein kleines Mädchen im Schneidersitz. In seinen Händen hielt es ein brennendes Grablicht.

    3

    Musste ihr erster großer Einsatz bei der Mordkommission ausgerechnet mit einer Kinderleiche zu tun haben? Mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust klopfte Katja Sommer auf das Lenkrad ihres altersschwachen, erdbeerfarbenen Fiesta, dabei versuchte sie, die schlecht erkennbaren Schlaglöcher zu umfahren. Die Landstraße, die sie direkt zum Tatort führen würde, war von Militärfahrzeugen und Panzern ziemlich ramponiert. Sie seufzte und schaute aus dem Seitenfenster. Und das am Rosenmontag.

    Wie friedlich hatte doch dieser Tag angefangen. Sie war zeitig am Morgen mit Patrick am Vorplatz des Doms gewesen und hatte auf den Karnevalszug gewartet. Alles war so wie jedes Jahr gewesen. Die Funkemariechen waren tanzend an ihnen vorbeigezogen. Genauso wie die mit Pappmaché verkleideten Wagen, die irgendwelche Politiker verulkten. Die Menschen, die die Straße säumten, hatten gelacht und gesungen. Patrick hatte Bonbons, Blumen und sogar eine Schachtel Pralinen gefangen. An der Ecke zur Hohe Straße, vor dem alten Souvenirlädchen, waren kleine Punker mit einer Gruppe Indianer aneinander geraten. In den nassen Straßengräben lagen Konfetti, zerbrochene Bonbons und bunte Luftschlangen. Und sie? Wo war sie jetzt? Auf einer Landstraße, unterwegs zu der Leiche eines Kindes, es war immer noch derselbe Rosenmontag.

    Kein Haus war zu sehen. In der Dunkelheit, nur durch das Scheinwerferlicht beleuchtet, wirkten die schweren, hohen Tannen und Eichenbäume, die rechts und links die Fahrbahn säumten, wie bedrohliche schwarze Riesen. Hier und da waren Wege und sandige Parkplätze freigelegt worden. Katja fuhr sich mit den Fingern durch ihr kurzes, feuerrotes Haar. Wie hatte sie es satt gehabt, in der Abteilung Prävention nur in Schulen eingesetzt zu werden, um mit Jugendlichen über Drogenmissbrauch zu sprechen. Irgendwann, als sie spürte, wie sie immer deprimierter wurde, beschloss sie, ihr Leben zu ändern und sich bei der Mordkommission zu bewerben. Mit Erfolg. Einige ihrer früheren Kollegen hatten zwar nur müde gelächelt, aber in ihr steckte mehr, viel mehr.

    Vor ihr tauchten auf der linken Seite der Fahrbahn die Blaulichter zweier Polizeifahrzeuge und eines Rettungswagens auf. Sie holte tief Luft. Wer A sagt ... Sie stoppte den Wagen neben dem Rettungsfahrzeug, stieg aus und sah sich um. Links von ihr waren, von einem rotweißen Absperrband eingefasst, dichtes Gestrüpp und Bäume, die in der Dunkelheit von den Halogenscheinwerfern der Spurensicherung erleuchtet wurden. Rechts lag die Landstraße, an die nach einem schmalen Grünstreifen der hohe Sicherheitszaun des Flughafens angrenzte. Weit hinter dem Zaun konnte sie die Beleuchtungen der Start- und Landebahnen des Flughafens erkennen.

    Irgendwie hatte sie sich den Einsatz ganz anders vorgestellt und auch nicht mit diesem eisernen Ring um die Brust gerechnet. Über ihren Kopf donnerte ein Flugzeug mit ausgefahrenem Fahrwerk hinweg, zum Greifen nah. Was war geschehen? Hatte es einen Unfall mit Fahrerflucht gegeben?

    Kai Grothes weißer Omega stand zwischen Dr. Brettschneiders nachtblauem Mercedes Kombi und dem grünen Renault Kangoo der Spurensicherung vor dem Buschwerk auf der kleinen abschüssigen Grasnarbe. «Na, wenigstens ist Kai schon da», murmelte sie zu sich selbst und fühlte sich gleich etwas besser.

    Ihr Blick suchte die unverkennbar schlaksige, große Gestalt von Hauptkommissar Grothe. Er stand etwas weiter entfernt mit dem Pathologen Dr. Brettschneider am Straßenrand. Neben den beiden erkannte sie in der Dunkelheit die kleine, rundliche Silhouette von Kommissar Martin Borg. Brettschneider schien den beiden etwas zu erzählen, dabei zeigte er auf das Waldgebiet hinter ihnen, dann entfernte er sich und ging auf das Waldstück zu. Grothe und Borg sprachen miteinander. Katja musste trotz ihrer inneren Anspannung für einen Augenblick lächeln. Wenn sie Kai und Martin zusammen sah, fielen ihr die beiden dänischen Komiker Pat und Patachon ein. Grothe schien sie entdeckt zu haben, er winkte ihr zu. Sie ging schneller, dabei spürte sie wie das mulmige Gefühl im Bauch wieder von ihr Besitz nehmen wollte. Zur Begrüßung nickte sie Borg zu. Grothe strich ihr sanft über den Arm, sagte kein Wort. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck machte ihr Sorge.

    «Wart ihr schon am Tatort?». Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.

    «Nur ganz kurz. Hansen möchte, dass wir zusammen an dem Fall arbeiten. Oliver ist auch hier. Ich habe ihn aber noch nicht gesehen.»

    Katja schluckte. Dienststellenleiter Hansen hatte die Elitetruppe zusammengetrommelt, der Fall schien ihm sehr wichtig zu sein. Für eine Nanosekunde fragte sie sich, warum sie dann dabei war, aber irgendwie erfüllte es sie auch mit Stolz. Sie durfte mit den besten Kripobeamten der Stadt Köln zusammenarbeiten. Wenn es nur nicht um eine Kinderleiche gehen würde.

    Borg unterbrach ihre Gedanken. Er nahm seine runde, randlose Brille von der Nase und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Er wirkte sichtlich erschüttert. «Es ist einfach ..., schau selber. So etwas habe ich noch nie gesehen.»

    Katjas Blick folgte dem Rechtsmediziner, der hinter den ersten Büschen und Bäumen verschwand. «Wo genau liegt die Leiche?»

    «Ein Stück tiefer im Wald. Ohne die Kerze hätte man die Leiche vielleicht gar nicht so schnell gefunden!»

    Sie stiegen über das rotweiße Absperrband und betraten das in grelles Licht getauchte Waldgebiet.

    «Kerze? Was für eine Kerze?», fragte Katja und begrüßte mit einer Handbewegung die Kollegen der Spurensicherung.

    Borg drehte sich zu Katja um. «Es ist ein Grablicht in einem roten Gehäuse, wie man sie sonst nur auf Friedhöfen sieht!»

    «Also Mord!» Katja stöhnte auf und bog einen dünnen Ast beiseite.

    «Sehr wahrscheinlich! Wir haben aber mit der Untersuchung auf dich gewartet.»

    «Na, ihr drei Hübschen!» Oliver Weingarth kam mit einem silberfarbenen Koffer hinter einem dicken Baumstamm hervor. «Wo wart ihr? Karneval feiern?»

    «Spinn nicht rum», fuhr Borg ihn an. «Wir kommen aus Raderberg, dort wird ein kleiner Junge vermisst. Habt ihr uns schon etwas zu berichten?»

    Erneut donnerte ein Flugzeug im Landeanflug über ihre Köpfe hinweg.

    «Wie gesagt, es handelt sich um eine weibliche Kinderleiche. Walter und die anderen nehmen gerade Gipsabdrücke», schrie Weingarth. «Es sind einige Fußabdrücke zu erkennen, aber die können ja von wer weiß wem stammen. Mehr kann ich dir momentan noch nicht sagen. Ich bin schon froh, dass wir ausnahmsweise vor der Presse hier sind.»

    Katja spürte die Kälte und Feuchtigkeit durch ihre dünnen weißen Sportschuhe hoch kriechen. Mit großen Schritten stapfte sie über den weichen Waldboden. «Es ist nur eine Frage der Zeit, und meine Zehen werden sich in Eisklötze verwandeln», dachte sie und hörte ein peitschendes Geräusch hinter sich.

    «Au, verflucht!» Es war Borg, der hinter ihr ging.

    «Was ist los?»

    «Scheiße Mensch, überall diese Äste!»

    «Kann daran liegen, dass wir uns in einem Wald befinden, was meinst du?»

    «Witzig!» Borg ging einen Schritt schneller und zog an ihr vorbei.

    Katja antwortete nicht, sie meinte hinter dem Stamm eine Schulter erkannt zu haben. Sie zögerte und der Bleiring um ihre Brust schien untragbar schwer zu werden. War es das, was sie immer hatte haben wollen? Hatte sie sich deshalb zur Mordkommission versetzen lassen? Nur um jetzt, wo sie sich und den anderen beweisen konnte, was in ihr steckte, wegzulaufen und zu kneifen? Ihr Hals wurde trocken und sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Noch fünf oder sechs Schritte, was würde sie dann zu sehen bekommen? «Schön, dass Sie endlich da sind, Frau Sommer!», sagte Dr. Brettschneider, als er Katja auf sich zukommen sah. Er stand auf, klopfte seinen dunkelblauen Kaschmirmantel ab und schaute missbilligend auf seine Schuhe. «Teures italienisches Leder. Die kann ich nachher in den Mülleimer schmeißen.»

    Borg sah Katja fragend an. «Wer macht denn so etwas?»

    Katja nickte. Es war die Frage, die sie zu beschäftigen hatte: Wer macht so etwas? Sie ging um den Baum herum, beugte sich hinunter und sah ein Mädchen von etwa acht oder neun Jahren, mit langen, blonden Haaren, dessen halb geöffnete Augen ins Leere starrten. Ihr war, als würde das Kind von ihr dieselbe Frage beantwortet haben wollen. Den Kopf hatte es zur Seite geneigt, und es saß, im Schneidersitz, an eine alte Eiche gelehnt, angestrahlt von den grellen Scheinwerfern der Spurensicherung. Es trug ein altmodisches, dunkelblaues Samtkleidchen mit weißem Spitzenunterrock, das augenscheinlich zu groß war. Die dünnen Beine steckten in schneeweißen Strumpfhosen, und an den Füßen glänzten schwarze Lackschuhe. Ihre Hände waren im Schoss übereinandergelegt, mit den Handinnenflächen nach oben, jemand hatte ein brennendes Grablicht darauf platziert.

    «Bizarr, nicht wahr», flüsterte Grothe. Er griff nach Katjas eiskalter Hand und drückte sie.

    «Ich frage mich, wie die Kleine so sauber geblieben ist bei dem ganzen Schmutz hier», sagte Weingarth, der zu der Gruppe getreten war. Er kratzte sich seinen rasierten Schädel.

    «Das herauszufinden ist ja wohl Ihre Aufgabe, Herr Weingarth», sagte Dr. Brettschneider. Er griff in seine Manteltasche und holte ein Diktiergerät hervor. Weingarth ging wieder zurück zu seinen Kollegen, aber nicht ohne zuvor Dr. Brettschneider hinter dessen Rücken einen Vogel gezeigt und die Augen verdreht zu haben.

    «Sie sieht aus wie ein kleiner Engel», murmelte Borg.

    Katja nickte.

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